Schweitzer Fachinformationen
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PROLOG
Das ehrliche und bekennende Zeugnis von William Loos, bekannt als der deutsche Lehrmeister von Glasgow
Meine Geschichte ist schon so alt, weil ich so alt bin. Und deshalb kommt es mir vor, als erinnerte ich mich an eine Figur, die irgendein anderer Schriftsteller vor langer Zeit in einer Erzählung erfunden hat und in der ich meine bescheidene Rolle gespielt habe. Ich bin nicht mehr der Mann, der ich damals in Bedburg war. Eigentlich war ich da noch ein Junge. Doch so wie Theseus' weit gereistes Schiff - dessen Mast ersetzt, dessen Ruder ausgetauscht, dessen Gallionsfigur ausgewechselt und dessen Planken erneuert wurden -, ist nichts mehr von mir übrig aus dieser damaligen Zeit. Aus dem Jungen ist ein alter Mann geworden, was traurig ist, denn ich war in meiner Jugend von schöner Gestalt. Doch ich spreche nicht nur von meinem Erscheinungsbild. Selbst der Boden, auf dem ich gehe, die Sprache, die ich spreche, und die Menschen, mit denen ich lebe, sind anders. Vielleicht existiert noch etwas vom dem damaligen Geist, denn Geschichte ändert sich eigentlich nicht - eine These, die meine Schüler nur schwer hätten nachvollziehen können, wäre ich noch jung genug, um zu lehren, oder würde ich in einem Zeitalter leben, in dem statt Schmeicheleien und Manieriertheiten die Lehre und das Wort noch etwas zählten. Doch auch ich kann mich nicht davon freisprechen, in jungen Jahren Törichtes getan zu haben, und liefere damit einmal mehr den Beweis, dass sich nichts ändert. Meine Lehrer hielten mich für oberflächlich und selbstgefällig, was ich - wie ich zu meiner Schande gestehen muss - wohl durchaus auch war.
Meine Heimat, oder eher gesagt, das Land, in dem ich seit nunmehr über sechzig Jahren lebe, ist das kalte, felsige Schottland. Es war damals der Ort, der so weit wie möglich von den Wurzeln meiner Jugend entfernt lag, wo ich hatte hinreisen können. Ich hätte genauso gut nach Moskowien oder in den Maghreb fliehen können, doch unter den Rus oder den Muselmännern zu leben, konnte ich mir nicht vorstellen. Die Briten sind ein raues Volk, aber gerade noch zu ertragen, und ich fand ihre Sprache angenehm, da sie meiner Muttersprache Deutsch so ähnlich war. Die Rus sprechen die Sprache des Waldes und der Steppe, die Araber die Sprache der Wüste. Englisch und Deutsch sind Sprachen der Felder, Wälder und der kleinen Städte Europas. In unseren Adern fließt seit Menschengedenken das gleiche Blut.
Was meine lieben, toten Eltern im Himmel denken, wenn sie hinab auf ihren einzigen, in Schottland lebenden Sohn blicken, daran mag ich gar nicht denken. Meine Mutter wird wohl lachen und meinem Vater erklären, wie falsch er doch mit seiner Vermutung gelegen hat. Der törichte alte Mann war nämlich in meiner Kindheit der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass ich den Rest meines Lebens am Rockzipfel meiner Mutter hängen und nie hinaus in die Welt ziehen würde. Wenngleich er mich auch gern in seiner Nähe hatte. Er zeigte mir auf Landkarten im Hinterzimmer seiner Druckerei, wo Britannien und Irland lagen, und erklärte mir, dass die Inseln wie eine langbeinige Hexe aussahen, die einen Säugling wiegte. Dabei roch er nach Druckerschwärze und süßem Essig, der von neuem Papier stammte. Mittlerweile hat es mich in die Hutkrempe der Hexe verschlagen, nach Glasgow. Hier sitze ich nun in meinen Gemächern in der Auld Pedagogy. So nennen die Schotten ihre Hochschule, ein ebenso ungestümes wie liebenswertes Volk. Eine ausgezeichnete Einrichtung, auch wenn das Verständnis für moderne Fächer wie Staatsführung und politische Philosophie unter den Lehrenden nur gering ausgeprägt ist. Die Universität ist hervorragend in Rechtswissenschaften, Sprachen, Mathematik, Rhetorik und Geschichte, sodass ich für das Kollegium gut geeignet war, auch wenn die Mathematik nicht zu meinen Stärken zählt.
Ich darf auch im Ruhestand weiterhin in meinem alten Quartier wohnen. Mit fast achtzig Jahren unterrichte ich nur noch selten, wenn überhaupt. So hat sich der Radius meiner Welt erheblich verkleinert. Heute spaziere ich meistenteils nur noch die wenigen Hundert Meter von meiner Bleibe in der Rottenrow zur alten Dominican Hall auf der High Street in Blackfriars, um die Vorlesung eines berühmten Gastprofessors zu hören, was allerdings nicht mehr als einmal im Monat vorkommt. Außer Ruhe und Einsamkeit bietet diese Stadt nicht viel. Die restliche Zeit verbringe ich zu Hause. So überkommt mich inzwischen Langeweile, die bekanntlich am Anfang so manchen Lasters steht. Ich habe sämtliche Bücher gelesen, die man lesen sollte, habe alle Fächer studiert, die mich interessierten. Für Frauen oder Leibesertüchtigungen oder Trinkgelage ist mein Körper zu alt. Wenn ich nichts mehr tue, werde ich sterben. Um das zu verhindern, habe ich beschlossen zu schreiben. Und die einzige Geschichte, die ich niederschreiben kann, ist meine eigene, denn ich bin kein Mann mit großer Einbildungskraft. Doch mein Leben ist ein weiter Mantel, der sich aus allerlei Flicken zusammensetzt. Er besteht größtenteils aus robuster englischer Wolle mit gleichförmigen, braunen Karos und wirkt recht unscheinbar. Eine Stelle jedoch, direkt über meinem Herzen, sticht hervor. Da ist das Material durchwoben mit Seidenfäden in den prächtigsten Farben - rot, golden und blau - ein kunstvolles Muster, mit geübten Händen gefertigt von persischen Näherinnen. Das Muster erzählt die Geschichte meines Lebens aus der Zeit mit dem Advokaten Paulus Melchior. Es erzählt von den Ereignissen um den Werwolf-Prozess gegen Peter Stumpf in Bedburg, von dem ich hier wahrheitsgetreu und ehrlich Zeugnis ablegen werde.
Paulus nahm mich als junger Bursche von sechzehn Jahren mit nach Bedburg. Ich war seit vier Jahren sein Schüler und zeichnete mich durch meine guten Leistungen aus. Er kannte meine Tante, die Schwester meiner Mutter, seit sie beide Kinder waren. Meine Tante war zusammen mit Paulus' Familie in Münster gestorben, jedoch nicht Seite an Seite. Sie verloren ihr Leben in den letzten Tagen des Aufstands, als Menschen an jeder Ecke umgebracht wurden. Meine Tante starb auf dem Marktplatz, während Paulus seine Familie auf den Stufen der Druckerei seines Vaters verlor. Paulus nahm sich meiner an und nahm mich in seiner Schule auf, so wie er es mit vielen anderen Jungen gemacht hat. Doch er tat es nicht nur, weil er sich meiner Familie freundschaftlich verbunden fühlte - weil unsere Väter das gleiche Gewerbe ausgeübt hatten -, sondern weil er erkannte, dass ich wohl einen klugen Verstand haben mochte, für die harte Arbeit, die mir durch mein Herkommen vorherbestimmt gewesen wäre, aber nicht geschaffen war. Paulus kümmerte sich auch um viele verwaiste Mädchen, besorgte ihnen Arbeit oder wenn möglich einen Ehemann am Hof. Im Gegensatz zu heute war es für die ärmere Bevölkerung damals noch leichter, Wohlstand und gesellschaftliches Ansehen zu erlangen. Als sich meine Tätigkeit an der Universität dem Ende neigte, hatte ich schon seit über zwanzig Jahren dort keinen Jungen aus armen Verhältnissen mehr gesehen. Geld und Standesdünkel haben jetzt das Sagen. Und so verkommt der Staat. Denn wo die Menschen nicht hinaufkönnen, da geht es bergab mit dem Staat. Aber ich bin zu alt, um diesen Missstand zu beheben.
Ich halte nichts von der Astrologie, die Glück und Charakter an einem Datum festmacht. Doch was auch immer sich im Universum unter dem Namen Schicksal bewegt, sorgte dafür, dass Paulus in mein Leben trat. Ich weiß, dass jene treibende Kraft weder unser christlicher Gott noch irgendeine andere Gottheit ist, sondern ein mechanischer Teil der Unendlichkeit. Der Beweis, dass mein Leben unweigerlich auf Paulus zusteuerte, liegt in Zahlen begründet, nicht im Aberglauben. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, was diese Zahlen bedeuten, bergen sie eine Antwort, genau wie sich alles in der bekannten und unbekannten Welt durch Zahlen erklären lässt. Ich bin kein Mathematiker, und ganz gewiss bin ich kein Pythagoras, doch des Lesens bin ich mächtig. Und schon Augustinus von Hippo schrieb, dass die Zahlen der Gottheit eine Universalsprache seien, um den Menschen die Wahrheit zu verkünden. Als Beweis soll folgendes Beispiel dienen: Meine Eltern heirateten am 24. Juni 1535, numerisch ausgedrückt, vierundzwanzig, sechs, fünfzehn und fünfunddreißig. Ihre Trauung fand am Tag des Untergangs von Münster statt, auch wenn sie eine Woche Fußmarsch davon entfernt lebten, in einem kleinen Ort namens Kirchborn in der Nähe vom Rhein. Ihre Hochzeit fand in aller Stille statt, während man Münster in Schutt und Asche legte. An jenem Tag schritt Paulus durch das Stadttor hinaus auf ein blutgetränktes Feld und hinein in ein neues Leben. Auch er wurde von fremden Menschen großgezogen, so wie ich später von ihm. Sein wacher Geist hatte sie auf ihn aufmerksam gemacht. Er erhielt eine gute Erziehung und konnte dadurch neue Wege beschreiten. Zahlen spielen hier ebenfalls eine wichtige Rolle: Er war zwölf, so wie ich damals, als er mich für seine Schule auswählte. Ich wurde am 24. Juni 1547 geboren, genau zwölf Jahre nach dem Untergang von Münster. Der 24. Juni wiederholt sich immer und immer wieder. Numerologisch betrachtet ergibt der 24. Juni eine zwei, eine vier und eine sechs - in Summe wieder die Zahl zwölf. Genau jene Zahl, von der behauptet wird, dass sie magisch sei. Man denke nur an die Anzahl der Stämme Israels und die Monate eines Jahres mit den dazugehörigen Sternbildern. Für das Volk der Hebräer, die sich maßgeblich mit dem Studium der Zahlen und ihrer übersinnlichen Bedeutung auseinandersetzten, stellt die Zahl zwölf Vollkommenheit, Führungskraft und göttliche Ordnung dar. Mein Leben und das von Paulus scheint durch ein Geflecht von Zahlen miteinander verbunden zu sein. Und das Spiel der Zahlen setzt sich fort: Paulus nahm...
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