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Eine Sünde
Da wir schon bei diesem Thema sind, will ich die Kranke nicht aufstehen lassen, ehe ich nicht erzählt habe, was mir widerfuhr. Nach fünf Tagen Krankheit wachte meine Mutter eines Morgens so verwirrt auf, dass sie befahl, mich aus dem Seminar holen zu lassen. Onkel Cosme wandte vergebens ein: «Schwester Glória, deine Angst ist völlig unbegründet, das Fieber vergeht wieder.»
«Nein, nein! Lasst ihn holen! Vielleicht muss ich sterben, und meine Seele findet keine Ruhe, wenn Bentinho nicht bei mir ist.»
«Wir werden ihm einen Schrecken einjagen.»
«Dann sagt ihm nichts, aber lasst ihn holen, und zwar sofort. Beeilt euch!»
Sie dachten, sie rede im Fieberwahn, doch da es kein Problem war, mich zu holen, wurde José Dias damit beauftragt. Als er im Seminar ankam, wirkte er so verstört, dass ich erschrak. Er sprach allein mit dem Rektor und erhielt die Erlaubnis, mich nach Hause mitzunehmen. Auf der Straße schritten wir schweigend einher, wobei er an seinem üblichen bedächtigen Gang festhielt - Obersatz, Untersatz, Konklusion -, doch seufzend und hängenden Kopfes. Ich suchte von seinem Gesicht eine schlimme, endgültige Nachricht abzulesen. Er hatte nur von einer Krankheit gesprochen, als wäre es nichts Bedrohliches. Doch die Tatsache, dass man mich rufen ließ, sein Schweigen, sein Seufzen, all das konnte mehr bedeuten. Mein Herz klopfte heftig, meine Beine zitterten, und mehr als einmal drohte ich zu stürzen.
Ich war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, und der Angst, sie zu hören. Es war das erste Mal, dass ich mich dem Tod so nahe fühlte; er stand förmlich neben mir und sah mich aus seinen tiefen, dunklen Augenhöhlen an. Je weiter ich die Rua dos Barbonos voranschritt, umso mehr erschreckte mich die Vorstellung, zu Hause anzukommen, einzutreten, das Wehklagen zu hören und einen Leichnam vorzufinden. Oh, es ist mir unmöglich, all das niederzuschreiben, was ich in diesen schrecklichen Minuten empfand! Die Straße schien unter meinen Füßen hinwegzueilen, obwohl José Dias superlativisch langsam ging, die Häuser flogen zu beiden Seiten an mir vorbei, und das Horn, das in der Polizeikaserne ertönte, klang in meinen Ohren wie die Posaune des Jüngsten Gerichts.
Wir gelangten an die Praça dos Arcos und bogen in die Rua de Matacavalos ein. Unser Haus zählte nicht zu den ersten, sondern lag noch hinter dem Invalidenheim, ganz in der Nähe des Senats. Drei- oder viermal hatte ich meinen Begleiter ansprechen und fragen wollen, aber nicht gewagt, den Mund aufzumachen. Und nun hatte ich dieses Bedürfnis bereits nicht mehr. Ich lief einfach weiter, mich in das Schlimmste fügend, als wäre es des Schicksals Wille oder eine menschliche Notwendigkeit. Auf einmal flüsterte mir die Hoffnung, die die Angst besiegen wollte, ins Ohr - nicht mit diesen Worten, denn es waren keine Worte, sondern höchstens ein in diese Worte zu fassender Gedanke: «Wenn Mama tot ist, brauchst du nicht mehr ins Seminar.»
Lieber Leser, es war wie ein Blitz. So schnell, wie er das Dunkel erhellte, war er auch wieder erloschen, und die Nacht wurde noch finsterer, weil nun quälende Gewissensbisse hinzukamen. Es war ein zügelloser, egoistischer Einfall gewesen. Meine Kindesliebe hatte durch die Aussicht auf die sichere Freiheit, auf das Verschwinden von Schuld und Schuldner einen Moment lang ausgesetzt. Es war nur ein Augenblick gewesen, weniger als ein Augenblick, ein Hundertstel eines Augenblicks, doch genug, um meine Sorge durch die Reue noch zu verschlimmern.
José Dias seufzte. Einmal sah er mich so mitleidsvoll an, dass es mir schien, als habe er meine Gedanken erraten. Ich wollte ihn bitten, sie niemandem zu sagen, weil ich mich geißeln und ähnliche Buße tun würde. Doch sein Mitleid war so voller Liebe, dass es nicht Mitgefühl wegen meiner Sünde sein konnte. Dann war es also doch der Tod meiner Mutter. Ich verspürte eine solche Angst, einen so großen Kloß im Hals, dass ich nicht mehr an mich halten konnte und in Tränen ausbrach.
«Was ist los, Bentinho?»
«Muss Mama.?»
«Nein, nein! Wie kommst du denn darauf? Ihr Zustand ist äußerst ernst, aber nicht lebensgefährlich, und Gott vermag alles. Trockne deine Tränen, es ist nicht schön, wenn ein Junge in deinem Alter in der Öffentlichkeit weint. Es ist bestimmt nichts, nur ein Fieber. Und Fieber kommt mit Wucht, vergeht aber genauso schnell wieder. Nicht mit den Fingern! Wo hast du denn dein Taschentuch?»
Ich trocknete mir die Tränen, doch von José Dias' Worten waren nur zwei in meinem Gedächtnis hängengeblieben, nämlich «äußerst ernst». Ich erkannte später, dass er eigentlich nur «ernst» hatte sagen wollen, doch der ständige Gebrauch der Superlative verzerrt die Sprache, und so hatte José Dias' Vorliebe für diese Ausdrucksweise meine Traurigkeit noch verstärkt. Solltest du, lieber Leser, in diesem Buch einen ähnlichen Fall entdecken, gib mir Bescheid, damit ich ihn in der zweiten Auflage verbessere. Nichts ist hässlicher, als wenn Ideen, die eigentlich ganz klein sind, plötzlich ganz groß werden. Ich trocknete mir also, wie gesagt, die Tränen und lief weiter, um endlich nach Hause zu gelangen und meine Mutter wegen des bösen Gedankens, den ich gehabt hatte, um Verzeihung bitten zu können. Endlich kamen wir an und traten ein. Zitternd stieg ich die sechs Treppenstufen hoch, beugte mich über das Bett meiner Mutter und hörte ihre liebevollen Worte. Sie drückte meine Hände und nannte mich ihren geliebten Sohn. Ihr Körper war kochend heiß, und ihre auf mich gerichteten Augen glühten, als lodere darin ein Vulkan. Ich kniete neben ihrem Bett nieder, doch es war so hoch, dass sie mich dadurch nicht mehr liebkosen konnte: «Nein, mein Junge, steh auf, steh auf!»
Capitu, die sich ebenfalls im Schlafzimmer befand, gefielen meine Worte, meine Tränen und mein Auftreten, wie sie mir später sagte, aber natürlich erahnte sie nicht alle Gründe für meine Verzweiflung. Allein in meinem Zimmer überlegte ich, meiner Mutter alles zu gestehen, wenn sie wieder gesund wäre, doch dieser Gedanke war nicht von Dauer, sondern nur eine flüchtige Anwandlung, etwas, das ich nie in die Tat umsetzen würde, so sehr die Sünde mich auch plagte. Daher griff ich in meiner Reue ein weiteres Mal auf das alte Mittel der Versprechen im Geiste zurück und bat Gott, mir zu verzeihen und das Leben meiner Mutter zu retten. Ich würde dafür auch zweitausend Vaterunser beten. Sollte unter meinen Lesern ein Priester sein, so möge er mir vergeben. Es war das letzte Mal, dass ich auf dieses Mittel zurückgriff. Die Krise, in der ich mich befand, die alte Gewohnheit und mein Glaube erklären alles. Nun waren es also weitere zweitausend Gebete. Aber was war mit den alten? Ich hatte weder die einen noch die anderen abgegolten. Doch wenn solche Versprechen aus einem reinen, wahrhaftigen Herzen kommen, sind sie wie das Papiergeld - obschon der Schuldner seinen reellen Wert nicht bezahlt, ist es doch das wert, was darauf angegeben ist.
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Verschieben wir die Tugend auf später
Bestimmt hätten nur wenige den Mut gefunden, den Gedanken, der mich in der Rua de Matacavalos überkam, zu gestehen. Doch ich werde hier alles gestehen, was für meine Geschichte von Belang ist. Montaigne hat einmal über sich geschrieben: «Ce ne sont pas mes gestes que j'escris; c'est moi, c'est mon essence.»43 Aber es gibt nur eine Möglichkeit, das eigene Wesen darzulegen, nämlich alles zu erzählen, das Gute wie das Schlechte. Das tue ich, indem ich mich erinnere und eine Rekonstruktion meiner selbst zulasse. Gerade zum Beispiel habe ich über eine Sünde berichtet und würde nun liebend gern auch eine gute Tat aus jener Zeit schildern, sollte mir denn eine einfallen. Doch mir fällt keine ein, und deshalb verschiebe ich es auf eine bessere Gelegenheit.
Du verpasst nichts, wenn du wartest, lieber Leser. Im Gegenteil, mir kommt gerade in den Sinn. Gute Taten sind nicht nur zu jeder Zeit gut, sondern auch möglich und wahrscheinlich, wie meine ebenso einfache wie klare Theorie über Laster und Tugenden besagt. Sie lässt sich darauf reduzieren, dass jeder Mensch mit einer bestimmten Anzahl von Lastern und Tugenden zur Welt kommt, die in einer Art ehelicher Gemeinschaft leben, damit sie sich im Leben ausgleichen. Ist einer der beiden Ehepartner stärker als der andere, leitet nur er den Menschen, ohne dass diesem, weil er jene gute Tat nicht verübt oder diese Sünde nicht begangen hat, deswegen der andere Teil fehlt. In der Regel handeln sie jedoch gemeinschaftlich und zum Vorteil des Menschen, der sie in sich trägt, und manchmal auch zum Ruhme des Himmels und der Erde. Leider kann ich diese Theorie nicht mit ein paar Fremdbeispielen belegen, da mir dazu die Zeit fehlt.
Was mich betrifft, so kam ich bestimmt mit mehreren dieser Pärchen zur Welt, die ich auch heute noch in mir trage. Zum Beispiel ist es mir hier in Engenho Novo schon passiert, dass ich nachts schlimme Kopfschmerzen hatte und mir daher wünschte, der Vorortzug der Central möge fern meiner Ohren zu Schaden kommen und die Bahnlinie für viele Stunden blockieren, selbst wenn dabei Menschen zu Tode kämen. Und am nächsten Tag verpasste ich genau auf dieser Strecke den Zug, weil ich meinen Krückstock einem Blinden schenkte, der keinen besaß. Voilà mes gestes, voilà mon essence.44
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Der...
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