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Samstag
Ich habe so ein Glück, sagt sich Nicole. Die ersten zweiunddreißig Jahre ihres Lebens waren vollkommen unauffällig, dafür die beiden letzten ganz und gar nicht. Sie kann es selbst kaum glauben. Es gibt so viele jüngere Versionen ihrer selbst, zu denen sie gern zeitreisen würde, um ihnen dieses neue Leben zu beschreiben, aber keine einzige würde ihr glauben.
Das Stoffverdeck des Wagens ist zurückgeklappt und die Motorhaube blinkt in der Sonne. Nicoles neue Chanel-Sonnenbrille tönt alles in einem zauberhaften Zartrosa, selbst die niedlichen Schafe, die auf der Weide grasen. Sie kann sich nicht erinnern, je zuvor so optimistisch und glücklich gewesen zu sein, nicht einmal an ihrem Hochzeitstag oder an dem Tag, an dem sie die Bestätigung bekam, dass sie und Tom im Lotto gewonnen hatten und stinkreich sein würden.
Dennoch fährt sie vorsichtig und fasst das Lenkrad mit beiden Händen. Vielleicht greift sie unter dem Einfluss der Endorphine etwas fester zu als sonst, aber sie kommt keine Sekunde in Versuchung, das Gaspedal durchzutreten. Nicole ist risikoscheu; der Wunsch nach einem Adrenalinrausch ist ihr vollkommen fremd. Ehe sie so schlagartig reich wurden, war absolut nichts Impulsives an ihrem zähen Kampf um eine Beförderung zur Administrative Managerin bei Carter, Carter & Dun, einer auf Liegenschaftsübertragungen spezialisierten Anwaltskanzlei, genauso wenig wie an ihrem Ringen mit Tom, jeden verfügbaren Penny für die Anzahlung auf ihr erstes Heim zurückzulegen - ein winziges Haus in einer der Schlafstädte bei Swindon. Sie leistete Überstunden und verstand trotz ihres knappen Budgets zu sparen, nur für sich und Tom, ihren Jugendschwarm und die Liebe ihres Lebens.
Selbst jetzt, wo sie wie im Märchen leben, ist sie stolz darauf, wie viel sie damals erreicht hatte und wie sie alles geregelt hat, seit sie das Geld gewonnen haben. Als die Leute von der National Lottery vor ihrer Haustür auftauchten, um ihren Gewinn zu bestätigen, und Tom so geschockt und verdattert reagierte wie jemand, der, na ja, eben im Lotto gewonnen hat, lauschte sie währenddessen aufmerksam allen Ratschlägen, schrieb gewissenhaft mit und unterstrich zweimal die Mahnung der Berater, alles sorgfältig zu bedenken und sich Zeit zu lassen, bevor sie irgendwelche radikalen Entscheidungen fällten. Nur eine Entscheidung traf Nicole sofort: dass sie mit ihrem Gewinn nicht an die Öffentlichkeit gehen würden. Ihr graute vor der Vorstellung, dass alle von ihrem Reichtum wissen könnten. Nicole ist instinktiv zurückhaltend und Tom tiefenentspannt, darum hatte auch er keine Lust auf den damit verbundenen Rummel.
Besonders aufmerksam hörte sie auch dem Finanzberater zu, während er Konten eröffnete, auf die das Geld überwiesen werden sollte, sie beherzigte seine abschreckenden Erzählungen von Lottogewinnern, die überstürzt gehandelt und daraufhin alles verloren hatten, und beschloss, dass ihr und Tom das nie, nie passieren würde. Nur über ihre Leiche. Vielleicht hatte es Tom genügt, als Mechaniker zu arbeiten und am Freitagabend mit seinen Freunden in den Pub zu gehen, aber sie hatte schon immer davon geträumt, ein größeres, schöneres Leben zu führen, und dies war ihre Chance.
Sie bremst ab, als sie sich dem verwitterten hölzernen Wegweiser nähert, der links zum Naturreservat Lancaut weist, und biegt in die schmale Straße zu ihrem Haus, das bislang ihre größte Investition ist. Sie und Tom haben ihre Glasscheune auf der Lancaut Peninsula errichtet, einer Halbinsel, umschlossen von einer dramatischen Flussbiegung des Wye, an der Grenze zwischen England und Wales. Ihr Vater, ein begeisterter Vogelbeobachter, hatte sie als Kind öfter hierher mitgenommen. Er nannte Lancaut einen verlorenen und ganz besonderen Ort und das ist er bis heute geblieben.
Dichter Wald reckt sich über den Wagen und sprenkelt den Weg mit getüpfelten Schatten. Die Bäume überziehen wie Flechten die gesamte Halbinsel. Sie fährt an der kleinen Ausbuchtung vorbei, in der ihr Vater immer parkte und von wo sie beide, die Feldstecher um den Hals, erst ein Stück die Straße entlang und dann über den steilen Pfad hinunter zum Naturreservat wanderten. Ihr Weg führte am Manor House vorbei, dessen Tor damals wie heute hoch und imposant neben der Straße aufragte und ihr einen sehnsüchtigen Blick auf das Anwesen erlaubte. Als Kind staunte sie über das eindrucksvolle Gebäude und fragte sich, wer wohl dort wohnen mochte. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie eines Tages in der Nachbarschaft leben würde.
Heute fährt sie nicht bis zum Manor House. Nach wenigen Minuten weitet sich zu ihrer Rechten der Blick, der Wald weicht zurück und sie schaut auf die einzige große Lichtung der gesamten Halbinsel. Ein Flickenteppich von Feldern und Viehweiden zieht sich hangabwärts bis zum Fluss. Nicoles Herz beginnt zu klopfen. Inzwischen wohnen sie schon einige Monate hier, aber wenn sie nach Hause kommt, ist es immer noch so, als hätte sie das Ende des Regenbogens erreicht und einen Topf mit Gold gefunden.
Auf einer ebenen Fläche in der Mitte der Lichtung erhebt sich die Glasscheune massiv und stolz aus den Überresten einiger Farmgebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert. Nicole findet den Kontrast zwischen den harten Kanten und kompromisslosen Materialien des Neubaus und den verwitterten Ruinen rundherum überwältigend. Die Sonne wird heiß von den großen Fensterflächen reflektiert, nach denen sie ihr neues Zuhause »Glasscheune« benannt haben. Das Haus dominiert die Landschaft, als würde es nicht nur über seine unmittelbare Umgebung, sondern auch über das Panorama und sogar den Himmel darüber gebieten. Nicole liebt es aus ganzem Herzen.
Seit sechs Monaten wohnen sie hier. Sie will hier eine Familie gründen - sie arbeiten gerade am ersten Kind - und alt werden. Sie hat Tom erklärt, dass sie hier erst weggeht, wenn man sie in einem Sarg hinausträgt.
Sie biegt rechts ab auf die lange, gerade Zufahrt. Es gibt so vieles, was sie Tom von der Landwirtschaftsausstellung erzählen möchte. Sie hat die allerniedlichsten Tiere gesehen. Sie sollten sich unbedingt noch einmal darüber unterhalten, ob sie sich nicht ein paar Schafe zulegen können, nur eine kleine Zierherde, die auf den Feldern neben der Glasscheune grast. Tom hält nicht viel davon, aber vielleicht lässt er sich überreden. Sie parkt auf der breiten Zufahrt neben seinem Maserati und nimmt ihre Tasche vom Beifahrersitz. Als sie sich dem Eingang nähert, hört sie drinnen Musik. Oper. Sie lächelt. Offenbar ist Tom im Wohnbereich gleich hinter dem Eingang. Die Glasscheune verfügt über ein ausgeklügeltes Smarthome-System. Es kann die einzelnen Bewohner im Haus tracken und ist so programmiert, dass die Musik dir folgt, wenn du von einem Zimmer ins nächste wechselst, um dich dort aus unsichtbaren Wandlautsprechern zu beschallen.
Sie blickt in die Kamera, die ihr Gesicht scannen und die Tür entriegeln soll. Normalerweise passiert das in Sekundenschnelle und die Tür öffnet sich mit einem Klicken, doch es klappt nicht immer auf Anhieb. Sie tritt näher an die Kamera, reißt die Augen auf, starrt angestrengt in die Linse und tatsächlich schwingt, als sie schon glaubt, dass etwas kaputt ist, die Tür auf.
Hin und wieder hakt das System. An manchen Tagen führt es sich auf wie ein griesgrämiger Verwandter, den du erst milde stimmen musst, bevor er dir etwas Gutes tut. Wenn es nach Nicole gegangen wäre, hätten sie lediglich eine Alarmanlage installiert und keines der anderen Features. Sie mag es altmodisch, aber Toms Technikbegeisterung ist mit ihm durchgegangen. Er wollte ein Smarthome auf dem allerneuesten Stand der Technik.
»Danke«, sagt sie zur Tür und schließt sie hinter sich. Sie ist froh, der Hitze entkommen zu sein. Die Glasscheune ist klimatisiert, jeder Raum wird auf Idealtemperatur gehalten. Sie legt Sonnenbrille und Schlüssel auf dem kleinen Tisch im Atrium ab und tritt in den Wohnbereich. Die Musik läuft auf voller Lautstärke, aber Tom ist nirgendwo zu sehen. »Hallo!«, ruft sie. »Bin wieder da!«
Keine Antwort. Sie seufzt. Sie weiß nicht, wie sie die Musik manuell leiser stellen kann. »Tom!«, ruft sie. Nessun Dorma übertönt sie. Tom hat jüngst beschlossen, dass er sich für Opern interessieren könnte, ein weiterer Anlauf in einer Reihe von Selbstoptimierungsversuchen, die er seit ihrem Lottogewinn unternommen hat. Seit Wochen laufen die Drei Tenöre in Dauerschleife.
»Musik leiser!«, ruft sie. Es ist entschieden zu laut. Aber das System reagiert nicht. Vielleicht müsste sie etwas auf ihrem Handy eingeben oder auf dem von Tom. Was die Musikeinstellungen angeht, kennt sie sich nur vage aus. Das ist Toms Metier. »Tom!«, ruft sie wieder. »Mach die Musik leiser!«
Die Tenöre beantworten ihren Ruf mit einem derart jubelnden Crescendo, dass sie sich die Hände auf die Ohren presst. Tom könnte überall im Haus sein, vielleicht ist er auch draußen auf einer der Sonnenterrassen. Ironischerweise weiß das Haus wahrscheinlich, wo er steckt, nur Nicole weiß es nicht.
Die Glasscheune ist riesig, sie besteht aus einer ganzen Reihe von Gebäuden, die durch einen kapriziösen, auf der früheren Bebauung basierenden Grundriss verbunden sind. Sie schickt ihm eine Nachricht: Bin zurück, wo steckst du?, und wartet auf eine Antwort, aber die Nachricht wird nicht zugestellt. Eigenartig. Sie geht weiter in die Küche, wo sie kurz stehen bleibt, um die mit getrockneter Milch verkrustete Schaumdüse an der Kaffeemaschine abzuwischen und eine schmutzige Müslischale von der Kücheninsel in die Geschirrspülmaschine zu räumen.
Als der Architekt ihnen erklärte,...
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