Schweitzer Fachinformationen
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Das Wetter ist rau. Waagerecht spritzt der Regen gegen Fletchers Brille und klatscht an seine Wangen.
Er hatte die Grube von der Schnellstraße aus gesehen. Von der Überführung aus hatte er das Ganze von oben überblickt, und später, als das Auto die Ausfahrt hinabfuhr, sah er es noch einmal aus einem tieferen Blickwinkel. Die Scheibenwischer rasten hin und her. Mit dem Rücken zu ihnen standen die Bauarbeiter beieinander. Auf dem Parkplatz vor den Männern klaffte die Schlammgrube, der klumpige Lehm darin ein schmutzig trübes Orange. Fletcher und Danny parkten in der Nähe des Eingangs zum Supermarkt, am Ende einer ungeordneten Reihe von Autos. Danny öffnete die Beifahrertür erst, nachdem er sich seine Kapuze wie eine Mädchenhaube fest um das Gesicht gebunden hatte.
Die Männer haben ein paar Knochen in der Grube entdeckt. Unerschrocken steht Fletcher da, während das Wetter auf ihn eindrischt. Er lässt die Szenerie auf sich wirken. Er sieht den frischen schwarzen Asphalt, der unter dem stehenden Wasser glänzt. In jeder Unebenheit hat sich der Regen gesammelt, die Pfützen sind fleckig und vom Wind aufgewühlt. Wacklig spiegeln sich in ihnen das rechteckige Gebäude und der Himmel dahinter, in dem sich ein blassgelber Lichtstreifen unter den Wolken duckt, die schwer sind von noch mehr Regen. Einer der Arbeiter versucht, sich eine Zigarette anzuzünden. Wieder und wieder springt ein Funke aus dem Feuerzeug, erstirbt aber jedes Mal.
»Was machen die hier?«, fragt Fletcher.
»Sie vergrößern den Laden«, sagt Danny.
»Ist der nicht schon groß genug?«
Der Supermarkt ist ein Koloss mit den Ausmaßen eines ganzen Häuserblocks. Wie ein Burggraben umgibt ihn der Asphalt, und sternförmig gehen von seinen schwarzen Rändern Straßen mit viktorianischen Reihenhäusern ab; sie folgen dem Auf und Ab der Landschaft und münden schließlich in eine natürliche Senke auf einer steilen Anhöhe. Am Hügelkamm entlang zieht sich eine Parklandschaft, zwischen deren Bäumen sich ein Handymast eingenistet hat.
Auf der anderen Seite des Supermarkts kann Fletcher die sechs den Horizont dominierenden Hochhaustürme erkennen, welche jene Siedlung bilden, die sich Glenfrome Estate nennt. Er kann kaum fassen, dass sie dem Abriss entgangen ist. Sie ist ein Relikt aus der Vergangenheit. Fletcher und Danny haben hier eine gemeinsame Geschichte, aber Fletcher zieht es vor, nach vorn zu blicken und nicht zurück, also wird nicht er es sein, der eine Bemerkung dazu fallen lässt.
Die Grube ist tief, um die zweieinhalb Meter, schätzt Fletcher, als er am Rand steht. Er unterdrückt ein leichtes Schwindelgefühl. Der Anblick des Knochens beunruhigt ihn - der Größe nach ist es vermutlich die Spitze eines Oberschenkelknochens - und auch die Ausmaße der Grube, die an ein Grab erinnern. Verlassen steht der Bagger daneben, über ihnen schaukelt die riesige Schaufel. Danny gibt dem Polier die Hand. Wie Perlen hängen die Wassertropfen am Rand seiner Kapuze. »Wir müssen das abdecken«, sagt er. Am Grund der Grube sammelt sich das Wasser, es sind bereits einige Zentimeter. Bald wird es den Knochen erreichen.
An Fletcher gewandt sagt er: »Wahrscheinlich ist das wieder so ein verfluchter Julius Caesar.«
»Mag sein.« Fletcher schaudert - wegen des Wetters, nicht wegen der Leiche. Mittlerweile hat ihn die Kälte im Griff. Er spürt sie bis in die Knochen. Es ist nicht das erste Mal, dass er und Danny die Entdeckung mutmaßlich menschlicher Knochen untersuchen. Einmal stellte es sich als ein Römergrab heraus, ein anderes Mal war es eine Pestgrube. Diese Leiche ist auf alle Fälle nicht frisch, denn soweit Fletcher weiß, ist es ungefähr zwanzig Jahre her, dass der Supermarkt gebaut und die Erde unter den dicken Asphaltschichten ausgehoben wurde.
»Vielleicht ist es ja das fehlende Glied«, sagt er zu Danny und erntet ein Lachen.
Ihnen bliebt nichts zu tun, als zu warten, dass jemand herkommt, um die Knochen zu untersuchen und zu datieren. Wahrscheinlich läuft es auf die Entscheidung hinaus, welcher Bereich des Parkplatzes abgesperrt werden soll. Fletcher spürt, wie ihn das Sodbrennen überschwemmt: Heiß lodernd widersetzt sich die Magensäure der Schwerkraft, während der Rest seines Körpers den Kampf aufgibt. Aus seiner Hosentasche zieht er einen Blister Säureblocker. Das ist gar nicht so einfach; beinahe schnappt ihn sich der Wind. Er zerkaut drei Tabletten, während er und Danny den Männern in Warnwesten dabei zusehen, wie sie eine Plane holen. Die Tabletten schmecken unangenehm nach Kreidestaub mit einer Andeutung Pfefferminze.
»Weißt du was?«, sagt Danny. Er kippelt auf den Fersen und blickt sich um.
»Was?«, fragt Fletcher.
Die Männer mühen sich damit, die Plane über die Grube zu breiten. Die Ränder flattern so heftig, als zapple die Plane an einer Angelleine und würde gerade aus dem Meer gezogen, und bevor die Männer sie befestigen können, bricht ein Lehmklumpen aus der Grubenwand und fällt herab.
»Haben wir hier nicht die Jungs gefunden?«
»Halt!«, schreit Fletcher. »Stopp!«
Dort, wo der Lehm herausgebrochen ist, hat er fein säuberlich einen weiteren Knochen bloßgelegt. Fletcher erkennt die Wölbung eines Schädels. Augenhöhlen starren ihn an, und es sieht so aus, als wäre die Stirn eingedellt, als hätte man sie eingeschlagen. Außerdem erkennt er etwas, das aussieht wie das Ende eines großen, metallenen Schraubenschlüssels. Er würde fünfzig Pfund darauf verwetten, dass der zusammen mit den Knochen vergraben wurde, und er hat eine Ahnung, dass an ihm irgendeine Substanz kleben dürfte. Ganz sicher ist es kein römisches Artefakt.
»Siehst du das?«
Er wendet sich zu Danny um.
Aber Danny erbricht sich ein paar Schritte entfernt, zusammengekrümmt, gleich hinter der Tribüne. Die Spitzen der langen Gräser verdecken sein Gesicht und streifen seine Ohren. Die Hitze verstärkt den Geruch seiner Kotze.
»Er lebt noch!«, brüllt Fletcher. Er versucht, an der schweren Teppichrolle zu zerren, will sie wegziehen, dem Jungen aber nicht noch mehr Schmerzen zufügen.
»Hilf mir! Verdammt noch mal, Danny!«
Danny kommt stolpernd herbei, wischt sich den Mund ab, er würgt noch immer, und gemeinsam ziehen sie den Teppich von dem Jungen, dessen Brust sich noch leicht hebt und senkt. Fletcher schwitzt seinen nagelneuen Anzug mit eimerweise Schweiß voll. Seine Frau hat heute Morgen, bevor er das Haus verlassen hat, unsichtbaren Schmutz vom Revers gebürstet und den eleganten Schnitt bewundert, doch an den Anzug denkt er nicht, als er sich auf die blutige Erde kniet. Alle Gedanken gelten dem Kind. Für das andere ist es zu spät. Dessen Körper ist reglos, atmet nicht mehr. Sein Gesicht ist eine breiige Masse. Das war der Auslöser bei Danny.
Die wenige Meter entfernte Tribüne der Hunderennbahn liegt verlassen da. Es ist Montagmorgen, und im Stadion ist nur eine Handvoll Leute, die ein, zwei Tische auf der gegenüberliegenden Terrasse mit Bar besetzen. Drei Buchmacher aber haben sich eingefunden und in der Morgensonne ihr Geschäft aufgebaut, die schwarzen Taschen schon voller Geldscheine. Ein Schild verkündet, dass der Mindesteinsatz zwei Pfund beträgt.
Während sie auf den Krankenwagen warten, fährt ein Traktor zweimal die Runde und ebnet den Sand auf der Rennbahn. Fletcher hält den Kopf des Jungen im Schoß und streicht ihm vorsichtig das Haar aus der Stirn, wobei er darauf achtet, die Wunden nicht zu berühren. Er nimmt eine der kleinen, weichen Hände des Buben in seine und erklärt ihm wieder und wieder, dass jetzt alles gut ist, dass sie ihn gefunden haben, dass es ihm bald besser gehen wird, dass er durchhalten soll, dass Hilfe unterwegs ist und es nicht mehr lange dauert.
Eine schiefe Wellblechwand trennt Fletcher und den Jungen von der Rückseite der nicht überdachten Tribüne. In der Wand sind Lücken, durch die sich ein schlanker Mensch wahrscheinlich hindurchzwängen könnte. Leute haben hier ihren Müll abgeladen: Bauschutt, Metallteile, Möbelgerippe, rissige alte Reifen ohne Profil, eine Matratze und die Teppichrolle, all das zurückgelassen in einem Winkel einer zwei Quadratkilometer großen Brache, die überall sonst an eine Mondlandschaft erinnert. Hie und da sieht Fletcher die Überbleibsel einer alten Asphaltschicht: aufgeworfene Bruchstücke und klebrige schwarze Brocken, die in der Hitze schwitzen.
Aus einem Lautsprecher an der Rennbahn erschallt eine überraschend laute Trompetenfanfare. Durch eine Lücke im Blechzaun und in der Tribüne kann Fletcher die Hundeführer in ihren blauen Jacken erkennen, die die Tiere auf die Rennbahn begleiten. Trotz der Hitze, oder vielleicht deswegen, tragen manche der Männer flache Kappen. Fletcher reibt sich über die Stirn. In den Mundwinkel des Jungen tritt klumpiges Blut und tropft an seiner Wange herunter. Fletcher wischt es fort.
»Nein, das wirst du nicht«, sagt er. »Nein, nein. Halt durch, Junge.«
In den Augen des Jungen vollzieht sich ein Kampf. Er würgt, und mehr Blut kommt heraus. Sanft zieht Fletcher den Jungen dichter auf seinen Schoß und legt die Arme um ihn, will dem Kind unbedingt etwas von seiner Lebenskraft abgeben, ohne es zu fest zu drücken. Der Lautsprecher der Rennbahn verkündet die Namen der Hunde, die nun am Start sind. Wummernd hallen die Worte in den blauen Himmel über Fletcher, und als sie verstummen, hört er das Heulen der Krankenwagensirene von der Überführung. Endlich. Noch fünf Minuten, um Ihre Wette zu setzen, mahnt die Stimme aus dem Lautsprecher. Die Augenlider des Jungen flattern. Unerträglich grell schwirren und summen...
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