Schweitzer Fachinformationen
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Sie ist die Tote im See. Sie ist die Frau an der Tür. Sie ist das Kindermädchen! Die siebenjährige Jo wächst im Luxus auf, doch Wärme und Zuneigung erfährt sie nur von ihrer geliebten Nanny Hannah. Als die eines Nachts ohne jede Erklärung verschwindet, bricht für das Mädchen eine Welt zusammen. Dreißig Jahre später kehrt Jo nach England in das Anwesen ihrer Kindheit am See zurück. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist noch immer geprägt von Vorwürfen und Ablehnung, und so ist Jo überglücklich, als eine ältere Dame auftaucht und sich als Hannah, Jos ehemalige Nanny, vorstellt. Doch Jos Mutter ist misstrauisch. Denn sie weiß - Hannah ist tot, seit der Nacht vor über dreißig Jahren. Wem soll Jo glauben? Ihrer Mutter oder der Frau, die damals das einzig Gute in ihrem Leben war? Und will Jo die Wahrheit überhaupt wissen? Denn die tut manchmal so weh, dass man lieber mit einer Lüge leben würde .
Die Hotellounge hat hohe Decken und in Pastelltönen gehaltene Wände. In der Ecke hinten bröckelt der Stuck, eigentlich müsste er ausgebessert werden. Draußen regnet es so sehr, dass die Fensterscheiben wie verflüssigt aussehen. Zum Nachmittagstee ist die Lounge beinahe voll besetzt, und die Luft summt von den leisen Gesprächen rundherum. Geschirr und Bestecke klimpern. Leise Klaviermusik und gelegentliches Lachen sorgen für eine angenehm heitere Stimmung. Der Raum ist warm, aber zu groß, um gemütlich zu sein. Ich stelle mir vor, dass sich das Funkeln der Kronleuchter hübsch in meinen Augen spiegelt, obwohl sich meine Gemütsverfassung eher mit dem berühmten Munch-Gemälde »Der Schrei« beschreiben ließe.
Dennoch strenge ich mich sehr an, denn es ist Rubys Geburtstag.
»Lachs und Gurke, Jocelyn?«, fragt Mutter.
Es ist sinnlos, sie abermals zu erinnern, dass ich es vorziehe, »Jo« genannt zu werden. Ich muss es ihr schon an die hundert Mal gesagt haben, seit Ruby und ich hergekommen sind, und sie weigert sich immer noch, es zu akzeptieren. Ich wünschte, sie hätte es heute nicht mit dem Rouge übertrieben. Ihre Wangen sind so rot wie die eines Bilderbuchschweinchens, und ihr stahlgraues Haar ist zu einer weichen Tolle gekämmt und unter einem Samthaarreif fixiert.
Mutter reserviert stets den Ecktisch hier, wenn sie in die Stadt kommt. Er bietet die beste Aussicht auf den Raum. Sie erzählt mir, dass es mit dem Essen bergab gegangen ist, seit sie mit mir als Kind hier war, was, wie sie sagt, eine Schande ist. Inzwischen habe ich den Eindruck, sie kommt nur noch aus dem einen Grund her, weil sie es genießt, das Personal zusammenzustauchen. Ich habe es als Kind gehasst, mit ihr hier zu sein, und dreißig Jahre später geht es mir nicht anders.
»Danke.« Ich nehme eins der schlaffen weißen Dreiecke und lege es ordentlich in die Mitte meines Tellers.
»Ruby, Schatz?« Mutter gibt sich unerwartet charmant. Und das Ziel dieser Offensive ist meine zehnjährige Tochter Ruby. Sie sind sich vor einem Monat erstmals begegnet, und ich dachte, sie würden wie Hund und Katze sein.
Meine Mutter ist ein siebzigjähriges Relikt der englischen Aristokratie: kalt, altmodisch, versnobt, egoistisch, gierig und mit fließendem Oberklassenenglisch.
Ruby ist eine Zehnjährige, die in Kalifornien geboren und aufgewachsen ist: blitzgescheit, freundlich, verrückt nach Internetspielen, ehemaliges Mitglied einer Mädchenfußballmannschaft und wohl für immer ein Wildfang.
Was die Kompatibilität der beiden betrifft, lag ich vollkommen falsch. Seit ihr Dad gestorben ist, bin ich der Mittelpunkt von Rubys Welt, doch nun droht mir auf einmal ernst zu nehmende Konkurrenz von meiner Mutter. Direkt vor meiner Nase sehe ich ein Band zwischen den beiden entstehen. Es kommt mir vor, als würde sich meine Mutter ungebeten in die Lücke drängen, die Chris in Rubys und meinem Leben hinterlassen hat, und mir ist alles andere als wohl dabei.
»Danke, Granny.« Ruby schenkt meiner Mutter ein strahlendes Lächeln, als sie ein Sandwich von der vierstöckigen Etagere nimmt. Es ist die größte im Raum. Auf der Karte wird sie als »Dekadenter Nachmittagstee« geführt. Meine Mutter hat sie genüsslich bestellt, auch wenn der Preis pro Person einem die Tränen in die Augen treibt. Ich glaube, sie macht es, um mich zu beschämen, weil ich Ruby keinen Geburtstagskuchen gebacken habe. Ich hatte einen gekauft, allerdings einen günstigen aus dem Supermarkt. Mehr war nicht drin.
Rubys Augen leuchten vor Entzücken, und sie knabbert affektiert am Rand ihres Sandwiches. Mir gefällt das nicht. Ruby ist eher ein Mädchen, das Dinge möglichst schnell runterschlingt, um gleich wieder nach draußen zu rennen. Oder war sie. Ich bin erstaunt darüber, wie sie sich in das englische Leben stürzt, seit wir hier angekommen sind. Es ist, als würde sie all die neuen Erfahrungen nutzen, um die Leere zu füllen, die der Tod ihres Vaters in unserem Leben hinterlassen hat. Und ich frage mich, wie lange der Reiz des Neuen anhalten wird; doch fürs Erste füttert sie ihren Instagram-Account mit Fotos von Lake Hall und der Landschaft drum herum, mit Kuriositäten und Dingen, die sie im Haus findet, sowie den Menschen, die dort arbeiten. Seit wir hier sind, hat sie schon mehrere Großaufnahmen von Kuchen gepostet. Sie benennt ihre Bilder, als handelte es sich um Raritäten in einem Museum oder Requisiten in einem britischen Vergnügungspark. »Wie süüüß!«, antworten ihre kalifornischen Freunde.
Ich sollte mich über solch harmlose Sachen wohl nicht aufregen. Vielmehr sollte ich froh sein, dass sie sich so wacker hält, besonders heute: Dies ist nicht bloß Rubys erster Geburtstag ohne ihren Vater, es ist auch ein besonderer Geburtstag.
»Wie fühlt es sich an, zehn zu sein?«, fragt Mutter.
»Genauso wie neun.« Ruby spricht mit vollem Mund, und unwillkürlich wappne ich mich, sie zu verteidigen, falls meine Mutter sie anfährt. Was sie nicht tut. Nein, sie lächelt! »In der Strickjacke siehst du sehr hübsch aus«, sagt sie zu Ruby.
Vor dem Nachmittagstee haben wir eine halbe Ewigkeit in einem Kaufhaus verbracht, wo Mutter zwei große Tüten voller Kleidung gekauft und darauf bestanden hat, dass Ruby ihre Lieblingskapuzenjacke auszieht und zum Geburtstagstee im Swallow Hotel ihre neue rote Strickjacke trägt.
»Die ist klasse«, sagt Ruby. »So retro.«
»Wie bitte?«, fragt Mutter, und ich überlege, ob sie ein wenig schwerhörig ist.
Sie ist erstaunlich gut gealtert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Die einzige sichtbare Beeinträchtigung, die die Jahre mit sich gebracht haben, ist ihre Arthritis. Die Fingerknöchel an beiden Händen sind merklich geschwollen. Davon abgesehen habe ich keine Anzeichen von physischer Schwäche oder Verfall an meiner Mutter bemerkt. Ich gebe zu, dass es mir ein kleines Triumphgefühl verschafft; wenn man sein Leben lang von jemandem tyrannisiert wurde, sich getrieben fühlte, einen Ozean zwischen sich und seine Kindheit und Jugend bringen zu müssen, kann man vielleicht nicht anders. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich über kleinliche Regungen wie Schadenfreude erhaben bin.
Ruby wiederholt ihre Bemerkung nicht, weil sie damit beschäftigt ist zu ergründen, wie man das Teesieb zum Einschenken des Assamtees benutzt, den sie und meine Mutter sich bestellt haben. Sie teilen sich eine Kanne.
»Jetzt bist du beinahe eine richtige junge Dame«, sagt Mutter. Ihre Finger sind so gekrümmt, dass sie es kaum schafft, sich ein Pistazien-Macaron vom obersten Teller der Etagere zu nehmen.
»La-di-dah«, trällert Ruby. Sie spreizt beim Teetrinken affektiert den kleinen Finger ab, um die aristokratische Marotte zu veralbern.
Wieder erwarte ich, dass meine Mutter sie scharf zurechtweist, wie sie es bei mir getan hätte, doch sie lacht und entblößt dabei das Zahnfleisch und lange Zähne. Ein Macaronkrümel klemmt zwischen ihren Schneidezähnen. »La-di-dah!«, wiederholt sie. »Was für ein lustiges kleines Ding du bist.« Es ist das höchste Lob, das sich ein Kind von ihr erhoffen kann.
»Entschuldigt mich«, sage ich.
Auf der Damentoilette des Hotels, umgeben von erdrückender Chintztapete und im kalten Luftzug, hole ich mein Handy hervor. Die letzten SMS, die Chris und ich uns geschrieben haben, sind zweieinhalb Monate alt. Es war ein schöner kalifornischer Morgen. Er war bei der Arbeit, ich stand in unserer lichtdurchfluteten Küche und beobachtete einen Kolibri am Futterhäuschen in unserem Garten. Das Schwirren der smaragdgrünen Flügel war bezaubernd.
Ich hab ein Geschenk für dich, schrieb er.
Danke! Wie aufregend!!! Was ist es?
Wart's ab . bin gegen 7 zurück xx
Es war eine kleine japanische Keramikvase mit einem wunderschönen Craquelé. Die Vase überlebte den Aufprall, der Chris das Leben kostete. Er war auf dem Heimweg, als ein Lieferwagen bei Rot über die Ampel fuhr. Er krachte in die Fahrerseite von Chris' Wagen, als Chris gerade die Kreuzung überquerte. Der Lastwagenfahrer war betrunken. Am nächsten Tag brachte mir eine Polizistin die Vase zusammen mit Chris' Messenger-Bag. »Die war im Fußraum auf der Beifahrerseite«, sagte sie. Die Vase war in Geschenkpapier eingewickelt.
Ich scrolle durch die SMS, die Chris und ich mehrmals täglich ausgetauscht haben. Es ist ein Zwang, dem ich nicht widerstehen kann, egal wie sehr es jedes Mal wehtut. Für jemand anderen, der sich diese Nachrichten ansieht, mögen sie banal erscheinen, aber ich kann mir beim Lesen Momente unseres Lebens ins Gedächtnis rufen. Dann stelle ich mir vor, Chris wäre noch am Leben. Als ich sie zu Ende durchgelesen habe, tue ich, was ich immer tue. Ich schicke eine Nachricht an seine Nummer: Ich liebe dich so sehr, und innerhalb von Sekunden kommt zurück: Nachricht konnte nicht versendet werden.
Manchmal ist meine Trauer um ihn so intensiv, dass es sich anfühlt, als würde ich aus einer offenen Wunde bluten. Wenn das geschieht, überkommt mich eine entsetzliche Angst. Wie kann ich die Mutter sein, die Ruby braucht, wenn ich so gebrochen bin? Worauf zwangsläufig die nächste Frage folgt: Wenn ich es nicht kann, biete ich damit meiner Mutter Raum, sich an meinen Platz zu drängen? Der Gedanke ist unerträglich.
»Soll ich Ihre Sachen für Sie aufhängen?«
Anthea, die Haushälterin meiner Mutter, fragt mich das schon, seit Ruby und ich vor wenigen Wochen in Lake Hall eingetroffen sind. Sie hat ein Problem damit, dass...
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