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Sie hat nicht gelitten.
Darauf kam man ständig zurück. Bei jedem Telefonat sagte jemand diesen Satz, und der andere Gesprächsteilnehmer musste beipflichten. Sie hat nicht gelitten. Sie hat nicht gelitten. Das war das Mantra, der Refrain der ersten sechs Stunden.
»Wenigstens .«, Joe hörte zu, als seine Mutter dies am Telefon wiederholte, ». wenigstens dafür können wir dankbar sein, das ist immerhin ein schwacher Trost. Keine Sekunde, und es war vorbei.«
Es dauerte fast vierundzwanzig Stunden, bis sie Gewissheit hatten, die Einzelheiten erfuhren, immerhin war es drei Provinzen weiter passiert. Ihr Freund war unverletzt. Man stelle sich vor - der Freund mit heiler Haut davongekommen, Beatrice dagegen tot, vom Quad geschleudert, aus und vorbei. Bea: Zwanzig Jahre, und das war's. Und keiner, niemand aus diesem Teil der Familie, war dem Typen je begegnet.
Sie waren am Freitagabend auf einer Party im Wald gewesen, es gab ein Lagerfeuer, und gegen drei Uhr früh gemeinsam mit anderen auf einer umgewandelten Eisenbahntrasse nach Hause gebrettert. In einer Kurve prallte ein Reifen gegen eine geborstene Schwelle, einen Steinbrocken, einen Stumpf, an sich halb so wild, kann passieren, man kommt halt ins Schlingern. Ihr Freund rollte, an das Quad geklammert, auf der einen Seite den Abhang hinunter, sie wurde zur anderen Seite geschleudert und knallte mit über fünfzig Stundenkilometern gegen einen Baum.
Sie mussten Entscheidungen treffen, nur hatte nichts von dem, was sie erwogen, länger als fünfzehn Minuten Bestand. Jedes Telefonat wurde durch ein Piepen unterbrochen, die Verbindung war sekundenlang tot. Sie war rasch wiederhergestellt, aber die kurze Störung sprach Bände - sie verriet ihnen, dass sie besser nichts überstürzten, sondern umdisponieren, auf neue Anweisungen warten mussten.
Sein Vater würde in die alte Heimat fliegen. Das stand fest, viel mehr aber nicht. Er würde in den nächsten Flieger nach Nova Scotia steigen, Ort seiner Kindheit und Jugend, und zu seinem Bruder eilen, dem das Haus jetzt gehörte. »Zu alldem zurückzukehren .«, sagte seine Mutter und kniff die Lippen zusammen. Alle anderen würden mit dem Auto fahren, im Osten sähe man sich wieder.
»Joe kann problemlos über Nacht fahren«, sagte sein Vater, und Joe nickte. Dann legte sein Vater innerhalb von zehn Sekunden seinen Plan dar, als ließe der sich durch bloßes Aussprechen umsetzen. »In Montreal fährst du einen Schlenker, sammelst Bess und Regina vor ihrer Seniorenresidenz in CÔte-des-Neiges ein und setzt sie auf der Rückfahrt wieder dort ab.«
»Okay.«
»Mach ihnen aber klar, dass es ohne Stopp weitergeht, ja? Keine Restaurants oder Motels. Tanken, kurz pinkeln und weiter. Das müssen sie kapieren.«
Seine Stimme bebte, als wäre er erschöpft, als hätte er den langen Hin- und Rückweg schon hinter sich. Joe betrachtete seinen fast fünfzigjährigen Vater: Oben immer kahler, seitlich immer grauer, vorne immer fetter. Er sah nicht aus wie jemand, der sich zu einer solchen Reise aufraffen kann.
»Es wird eng, aber wenn das Auto nicht schlappmacht, kostet uns die Reise nur ein paar hundert Dollar, nicht Tausende. Wenn wir wieder da sind, teilen wir die Kosten untereinander auf.«
Sie standen zu dritt im Keller, zogen Unterwäsche und Strümpfe aus dem Trockner und stopften sie in Reisetaschen. Joe wurde von seiner Mutter gebeten, den Blazer seines dunkelblauen Anzugs anzuprobieren. Er hatte das Teil zuletzt bei einer Feier der Hockeymannschaft getragen, vor gut einem Jahr, und es war an den Schultern zu eng. Seine Mutter beschnupperte eine Achsel.
»Geht schon«, sagte sie. »Wir haben nicht die Zeit, ihn reinigen zu lassen, und die Farbe erkennt man nur aus nächster Nähe.«
Jeder hatte eine eigene Agenda. Das Flugticket war skandalös teuer, und Air Canada verlangte obendrein eine notariell beglaubigte Kopie des Totenscheins.
»Ja, gut, wenn es Vorschrift ist«, sagte sein Vater kopfschüttelnd, das Telefon am Ohr. »Mal schauen, was sich tun lässt.«
Joe musste um Aufschub für eine Seminararbeit bitten und einen Ersatz für seine Schichten im Reha-Zentrum finden. Seine Mutter wiederum musste alle freien Tage opfern, die sie für Weihnachten aufgespart hatte. Und der Hund. Wohin mit dem Hund?
Er wusste, wie die Fahrt verlaufen würde. Endlos lange durch das Nichts. Er würde nachts fahren und beide Großstädte übernehmen. Seine Mutter würde ihn ablösen, aber nur tagsüber, während weniger stressfreier Stunden. In Montreal würde er einen Weg durchs dunkle Straßengewirr suchen und sich irgendwie daran erinnern müssen, welches der zwanzig Hochhäuser, die einander glichen wie ein Ei dem anderen, seine Großtanten beherbergte.
Sie standen ihm bevor, sie waren das Schlimmste an der Sache. Der Geruch alter Menschen, er hatte ihn wieder in der Nase. Er ertrug die Nähe von Bess keine fünf Minuten. Nun würden es zig Stunden mit zwei Greisinnen sein, die auf der Rückbank vor sich hin moderten. Er würde durchs Fenster atmen müssen. Sie würden gigantische Koffer mit Blümchenmuster dabeihaben, ständig Extrawürste einfordern und unterwegs über Verwandte reden, die seit Kurzem oder auch seit Ewigkeiten tot waren. Sie würden davon ausgehen, dass er wusste, wer gemeint war, aber die Namen der Fremden, mit denen er angeblich verwandt war, sagten ihm nichts.
»Hab ich's nicht gesagt? Habe ich nicht immer gesagt, das nimmt ein böses Ende?« Seine Mutter warf die zerknitterte Bluse, die sie begutachtet hatte, wieder zur Dreckwäsche.
»Alle wussten, der Junge kommt aus einem schlechten Stall.« Sein Vater flüsterte fast. Sein Anzug steckte schon im Schoner. Den Jungen hätte er bei einer Gegenüberstellung nicht identifizieren können, aber er kannte die Familie.
»Durch die Bank, der ganze Haufen. In den Häusern wurde immer nur Unheil ausgebrütet. Roddie hätte das beenden müssen. Warum hat er Bea nicht von dem Kerl losgeeist?«
Sein Vater strich über die niedrigen Balken der Kellerdecke. Eine Ansammlung verschlungener Stromkabel, schadhafter Leitungen, rostiger Abflussrohre. Quer durch Kanthölzer gebohrte Löcher, improvisierte Sicherungskästen, Notlösungen. Alles verstieß gegen Vorschriften, es mangelte an Geld und Zeit, um es ordnungsgemäß herzurichten. Joe bemerkte, wie sein Vater versuchte, seinen Blick davon loszureißen.
»Und diese Quads? Hab ich das nicht auch gesagt?«, erklärte seine Mutter. »Als damals Siebenjährige bei der Parade am Steuer von solchen mit Wimpeln und anderem Firlefanz geschmückten Kisten saßen? Sunny und die anderen haben gelacht und Süßigkeiten in die Menge geworfen, und ich hab's gesagt. Weißt du noch, wie ich dir ins Ohr gesagt habe: >Irgendjemand wird dabei draufgehen<? Tja, und nun? Was sagen die Leute jetzt? Behaupten sie immer noch, es wäre eine prima Übung für die Kinder, diese Kisten zu fahren?«
»Roddie ist aber auch nicht ganz schuldlos.« Sein Vater hatte sich daran festgebissen. »Er hätte es besser wissen müssen, er hätte von vornherein verhindern müssen, dass sich Bea mit diesen Typen einlässt.«
Seine Mutter knipste nervös das Licht an und aus.
»Pass auf, was du redest, Peter. Wir fahren sofort hin, aber sag erst mal nichts. Roddie ist sicher total fertig. Denk daran, bevor du den Mund aufmachst. Er ist bestimmt am Boden zerstört. Auf diese Weise ein Kind verlieren? Glaub mir: Das hält keiner aus. Kann sein, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist. Es kann noch schlimmer kommen. Wer weiß?«
»Wäre es ein Junge gewesen, dann wäre es vielleicht nicht ganz so dramatisch«, sagte sein Vater, obwohl Joe, noch im Blazer, direkt neben ihm stand. »Bei Jungs rechnet man fast mit so was. Steht jede Woche in der Zeitung. Sie kriegen Ärger, haben Streit oder bauen besoffen einen Unfall. Mädchen nicht. Jedenfalls keine mit Zensuren und Stipendien wie Bea. Roddie hätte wissen müssen, dass der Junge schlechter Umgang ist, dass seine sämtlichen Vorfahren schlechter Umgang waren, dass Ärger vorprogrammiert war. Er hätte das beenden müssen. Und zwar sofort.«
*
Beatrice und Joe und Joe und Beatrice. Obwohl sie weit voneinander entfernt lebten, waren sie eng verbunden gewesen: Joes Familie fuhr alljährlich »in die alte Heimat«, und während zweier stets warmer Wochen im späten Juli oder frühen August waren die Kinder unzertrennlich. Strandaufenthalte, Grillabende, Dorffeste mit Umzügen und Sommerkonzerte. Wenn sein Vater nach zehn, zwölf Stunden Autofahrt in die Zufahrt einbog, stürmte Bea schon aus der Fliegengittertür.
»Alles vorbereitet«, rief sie und griff nach ihm, da war er noch nicht ganz ausgestiegen. »Du ahnst nicht, was wir gleich machen!«
Einmal, sie waren vielleicht elf, kaufte sein Onkel eine Rutschbahn von Canadian Tire. Er rollte das Plastik auf dem gefährlich steilen Hang des Vorgartens aus, als wäre es der gelbe Mittelstreifen einer Fahrbahn, und sie verlängerten die Rutsche mit allem, was ihnen in die Finger kam: vier Rollen Frischhaltefolie, einem Dutzend Müllsäcke, zwei alten grünen Persennings. Sie befestigten alles mit Zeltpflöcken und Ziegeln, kippten Spülmittel und Wasser darauf, ließen den Sprinkler laufen. Danach zogen sie Badesachen an, und sie holte eine Flasche Crisco aus der Küche.
»Wir werden so was von fliegen«, sagte sie und reckte das Bratöl. In ihren Augen funkelte Begeisterung.
Diese mitreißende Art war typisch für Bea. Sie waren Einzelkinder und sechs Wochen auseinander. Ihre Großmutter nannte sie ihre »einzigen, einzigen Kinder«. Bea schraubte die...
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