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Mexiko, heute. Die beiden Journalisten Andrew und Carlos sollen eigentlich nur ein Routinestück über die Ölindustrie in Poza Rica, Veracruz, machen, wo ein amerikanischer Konzern groß einsteigt. Zufällig finden sie die furchtbar verstümmelte Leiche eines jungen Umweltaktivisten, Julían Gallardo. Während Carlos noch fotografiert, trifft die Guardia Civil ein und scheucht beide aus der Stadt. Trotz massiver Drohungen stellen die beiden weitere Nachforschungen an, bevor sie nach Mexico City zurückkehren. Als Carlos dort umgebracht wird, flieht Andrew außer Landes. Aber der Tod von Carlos, der nicht nur sein Kollege und Freund war, sondern auch sein Lover, lässt ihn nicht los. Er kehrt nach Poza Rica zurück und recherchiert die Geschichte von Julían Gallardo und bringt damit nicht nur Polizei, Militär und Kartelle gegen sich auf ...
Niemand hatte uns gebeten nachzusehen, und seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht wünschte, wir wären einfach weitergefahren.
»Nur eine Sekunde«, hatte Carlos hinter mir gesagt, sich neben den Toten gehockt, den wir entdeckt hatten. Der Auslöser seiner Kamera klickte so rasch hintereinander, dass man es in der feuchten Dunkelheit kurz vor der Morgendämmerung auch für zirpende Grillen hätte halten können.
»Komm schon, Mann, eine Sekunde sind bei dir zehn Minuten«, sagte ich gähnend und putzte meine Brille mit einem Zipfel meines Hemds. Nach vier Tagen im Jeep und in vollklimatisierten Hotelzimmern klang meine Stimme heiser, meine Kehle fühlte sich an wie eine mit Glasscherben gefüllte Socke.
Carlos lachte und sagte: »Kann sein.«
Bevor wir den Toten gefunden hatten, hätte ich niemals gedacht, mich später überhaupt noch mal an Poza Rica zu erinnern. Wir hatten gedacht, es würde um eine stinknormale Story gehen, einen ganz gewöhnlichen Artikel. »Warten auf den schwarzen Goldrausch« lautete die vorläufige Überschrift - ein Porträt von Poza Rica, der heruntergekommenen Erdölmetropole in Veracruz, im Osten Mexikos, »eine Stadt«, hatte ich geschrieben, »die wie scheintot verharrt und auf ausländische Investitionen wartet, um aus den fünfzehn Milliarden Barrel Rohöl der Region Kapital zu schlagen - und in ihrem früheren Glanz zu erstrahlen.«
Wir hatten gedacht, wir würden vier Tage lang Interviews führen, dann wären wir wieder zu Hause, würden Text und Fotos zu einer jener freudlosen, aber gutbezahlten Reportagen zusammenstellen, von denen alle Freiberufler träumen, bis sie tatsächlich einen solchen Auftrag bekommen.
Aber okay, nach den acht Jahren, die ich nun schon in Mexiko lebte, hätte ich wissen müssen, dass es so etwas wie einen stinknormalen Artikel hier gar nicht gibt.
Ob in Iguala oder Reynosa, Manzanillo oder Apatzingán, in allen armen Städten findet man dieselben verrammelten Ladengeschäfte und abgewrackten Kfz-Werkstätten, dieselben blauen Logos der Anonymen Alkoholiker und die mit Blut gesprayten Tags der Straßengangs.
Auch dieselben Altäre an Taxiständen, dem heiligen Judas und der Jungfrau von Guadalupe gewidmet, dieselben verblichenen Wandgemälde aus der Zeit der Revolution, dieselben Plazas, Musikpavillons und Büsten toter Berühmtheiten.
An jedem Laternenmast und in jedem Schaufenster hängen dieselben »Vermissten«-Plakate, dieselben kaputten Abflussrohre verbreiten denselben Blut-und-Schwefel-Gestank.
Aber nachdem wir den Toten entdeckt hatten, war nichts mehr so wie vorher.
Zehn Minuten zuvor hatten wir die Heimfahrt Richtung Mexico City angetreten, im Radio liefen Boleros. Hin und wieder machten wir Halt, um Bohrtürme für unseren Artikel zu fotografieren: Im Mittelkreis eines verdorrten Fußballplatzes, auf einem kostenpflichtigen Parkplatz, am Ende einer kleinen Seitenstraße zwischen dem Best Western Hotel und der Banco Azteca.
Kurz vor fünf Uhr morgens fuhren wir also gerade die Hauptstraße hinunter, niemand war auf dem Weg zur Arbeit, niemand ging von der Spätschicht nach Hause, in den dunklen Ecken unter der großen Überführung lag der Müll vom Markt des Vortags. Wir kamen an einer auf und ab schwenkenden Tiefpumpe am Ende eines Sträßchens zwischen einem hellerleuchteten Oxxo-Supermarkt und einer geschlossenen Bar vorbei, als Carlos sagte: »Ach, du Scheiße, halt an, vato.«
»Was?«, fragte ich, parkte oben an der Ecke, als Carlos bereits zu einer auf dem Boden liegenden Person rannte.
Erst wollte ich ihm nachrufen, es sei bestimmt nur ein Besoffener, aber dann stieg ich aus dem Jeep und sah den Mann, dessen Arme und Beine in einer Haltung ausgestreckt lagen, die kein betrunkener Schläfer je freiwillig einnehmen würde. Ich blieb stehen, außer Atem, oben an der Straße, mein Herzschlag bebte in meiner Kehle und meine Fingerknöchel traten weiß hervor, als ich die Tür des Jeeps viel zu fest umklammerte und ein leichter, feuchtkalter Regen auf mich niederfiel.
Ich hatte kein Problem mit Leichen. Sie erzählen alle nichts, ob sie nun verkohlt in einem ausgebrannten Wagen sitzen, gefesselt am Strand liegen oder grünlich verfärbt und seifig aus Massengräbern lugen. Aber der arme Kerl, der da neben der Tiefpumpe unter der Straßenlaterne lag, war anders als alle anderen Leichen, die ich je gesehen hatte. Seine gefälschten Levi's und die weiße Unterhose waren heruntergezogen, so dass ein Büschel Schamhaare um ein blutiges Loch herum zum Vorschein kam, sein Schwanz und die Eier, geschält wie Trauben, lagen auf seinen mehrfach gebrochenen Händen. Seine billige Lederjacke war offen, darunter trug er ein Polohemd, das keinesfalls fabrikmäßig rot gewesen war und dessen Färbung einen zuckrigen Metzgersgeruch verströmte, der den 7-Eleven-Kaffee, den ich im Jeep getrunken hatte, beinahe wieder in meinen Mund zurückbefördert hätte.
»Kotz hier bloß nicht rum, vato«, sagte Carlos und lachte, als er mich spucken hörte. »Du ruinierst mir noch mein Bild.«
»Genau, weil's nämlich so ein schöner Anblick ist«, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an, um den Gestank zu überdecken, während die Pumpe im Hintergrund schepperte.
Wer behauptet, der Tod habe einen eigenen Geruch, irrt sich: Er hat Dutzende, und ich kenne nur ein paar davon. Bei den Morden am Strand von Acapulco, über die Carlos und ich einige Jahre zuvor berichtet hatten, waren die Täter auf Jet-Skis herangerast, man hatte den Blutgeruch nicht von dem des trockenen Blasentangs unterscheiden können. Bei dem großen Lagerhausmassaker in Tlatlaya, über das wir Mitte 2014 berichtet hatten, rochen die von Kugeln zersiebten Eingeweide vor allem nach Weizen. Die in Tacxo entdeckten Massengräber stanken dagegen durchdringend und pilzartig nach Buttersäure, so dass ich danach nie wieder Appetit auf Roquefort hatte.
Selbst aus der Entfernung konnte ich erkennen, was dem Jungen angetan worden war. Das Blut auf seinem Hemd stammte nicht von der Einschusswunde: Am Hals bildeten Blutergüsse eine Art Kragen, der ihm die Luft abgeschnürt hatte, aber weder auf der Brust noch im Gesicht befanden sich sichtbare Verletzungen. Tatsächlich hatte er gar kein Gesicht mehr. Und daher kam auch das viele Blut: Sein Gesicht war abgeschnitten, seine Augen ausgequetscht, übrig war nur eine feuchte, rote, mit Dreck und Schottersteinchen gesprenkelte Maske, die Zähne waren schwarz. Ein Stanley-Messer vermutete ich: Gezackte Ränder säumten die Wunde rechts vom Kinn. Anhand der zerfetzten Haut auf der linken Seite konnte ich feststellen, dass die Täter nicht weitergeschnitten, sondern den Rest seines Gesichts mit den Händen abgerissen hatten.
Eine Ameise krabbelte über den Steg aus Knochen und Knorpel, wo einst die Nase war. In meinem Magen brodelte es wie in einem Vulkan. Carlos beugte sich vor, blies die Ameise weg, dann nahm er wieder den Deckel vom Kameraobjektiv.
»Halt auf der Straße Ausschau«, sagte Carlos sanft und kehrte mir den Rücken zu.
Eigentlich wollte ich sagen: Wenn du dich nicht beeilst, kotze ich hier alles voll.
Tatsächlich aber sagte ich: »Okay« und schluckte den sauren Geschmack im Mund herunter.
»Alles gut, vato«, sagte Carlos zu dem Toten, als er sich mit der Hand neben den verklebten blutigen Haaren des jungen Mannes abstützte, hinkniete und wie im Gebet dabei leise murmelte: »Es ist vorbei.«
Carlos hatte immer behauptet, wenn jemand ermordet wurde, würde sein Geist noch eine Weile am Tatort verweilen. Die Jesuiten auf der Highschool in Juárez hatten ihm das angeblich beigebracht. Und dass die Seele, weil sie gewaltsam aus dem Körper vertrieben wurde, zu verängstigt sei, zu erschrocken, um ins Nirgendwo davonzuschweben.
»Hab keine Angst«, sagte er zu dem gesichtslosen Jungen, nahm einen langen Zug von seiner...
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