Schweitzer Fachinformationen
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Der Brief war ein Fehler. Da war sie sich sicher.
April fragte sich oft, ob ihr das Alleinleben zu viel Zeit zum Grübeln ließ. Sie neigte dazu, zu viel nachzudenken, und erzählte sich selbst Geschichten, mit denen sie ihre ansonsten leeren Räume füllte. Ihr Apartment diente ihr dabei häufig als Ausgangsmaterial: Es war eine gemütliche Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines robust aussehenden roten Backsteinbaus aus den 1920ern, und manchmal stellte April sich vor, zur Zeit der Depression wäre eine kleine Familie dort untergebracht und eine Ecke des Wohnzimmers vielleicht mit einem Laken abgeteilt gewesen, um den Eltern ein bisschen Privatsphäre zu geben. Oder in den 1940er Jahren hätte eine Frau, die in einer städtischen Fabrik am Fließband arbeitete, allein dort gelebt, während sie darauf wartete, dass ihr Mann oder Verlobter aus dem Krieg heimkehrte. Oder in den sechziger Jahren eine Singlefrau wie aus »Mad Men«: eine Sekretärin, die Kleider in leuchtenden Farben trug, all die Männer anstarrte, die die Jobs hatten, die sie eigentlich wollte, und sich fragte, wann ihr Leben sich ändern würde. Jeder Einzelne dieser Bewohner konnte seine Spuren hinterlassen haben, in den schwachen Kratzern auf den Holzböden etwa oder den winzigen Absplitterungen an den Fliesen im Bad oder dem altertümlichen, vergilbenden Papier im Wäscheschrank. Vielleicht lebten manche dieser Ex-Bewohner noch, waren aber jetzt woanders und dachten liebevoll an ihre Jahre in diesem Apartment in einer ruhigen Gegend Seattles zurück, von dem aus man im Frühjahr einen Blick auf rosa Kirschblüten unten an der Straße hatte. Gelegentlich stellte April sich vor, all die Menschen aus den verschiedenen Zeitaltern kämen zu einer Art Wiedersehenstreffen zusammen und würden sich dabei irgendwie auf magische Weise Zeit und Raum teilen. Bestimmt wären alle entsetzt darüber, wie viel Miete April heute zahlen musste, aber auch darüber, dass sie es noch immer nicht auf die Reihe bekommen hatte, das Schrankpapier zu erneuern. (Aber gab es überhaupt Leute, die das machten?)
Im Augenblick war Aprils Aufmerksamkeit allerdings auf etwas ganz Neues gerichtet, das nichts mit diesen vertrauten, auf angenehme Weise verwohnten vier Wänden zu tun hatte. Sie hatte diesen Brief geschrieben und ihn an seinen Bestimmungsort gebracht - und es fast augenblicklich bereut.
Niemand schien heute noch echte Briefe zu schreiben, doch April liebte das Konzept einer handgeschriebenen Nicht-E-Mail-Korrespondenz auf Papier. Eine Handschrift verriet mit all ihren Schleifen und Schnörkeln und ihrer Neigung etwas über das Wesen des Schreibenden oder war - wie ein mit kratziger Füllfeder verfasster viktorianischer Roman - ein Portal in eine andere Zeit. Aber April wusste nur zu gut, dass manche Briefe besser nie verschickt wurden. Beispielsweise Briefe, in denen schreckliche Geheimnisse offenbart wurden - die Art von Geheimnissen, die man am besten mit ins Grab oder wenigstens mit ins Greisenalter nahm. Oder Briefe, die das geschriebene Äquivalent zum Tobsuchtsanfall eines Kleinkindes waren, die eine Wut in Worte gossen, welche schnell verflog, durch das zornige Gekritzel auf einem Blatt Papier jedoch fortlebte. Oder Briefe, die Klatsch wiederholten, an dem etwas dran sein konnte oder auch nicht - vielleicht sogar vor allem dann, wenn tatsächlich etwas dran war. Oder spätnachts verfasste Briefe, die mit »Sie kennen mich zwar nicht, aber .« anfingen und etwas zum Ausdruck brachten, was nur als Schwärmerei für einen Menschen beschrieben werden konnte, den man gar nicht richtig kannte.
Dummerweise war Aprils Brief genau von dieser letzten Sorte.
Und auch wenn sie ihn nicht wirklich abgeschickt hatte, hatte er seinen Bestimmungsort dennoch erreicht. Denn sie hatte ihn an einem strahlenden, von Verheißung nur so strotzenden Mainachmittag zwischen die Seiten eines Krimis gesteckt - die von Anthony Horowitz' Die Morde von Pye Hall, um genau zu sein - und diesen Krimi dann in der zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernten Buchhandlung namens Read the Room auf dem Tresen für gebrauchte Bücher abgelegt. In diesem Laden wurden nicht nur neue, sondern auch antiquarische Bücher zum Verkauf angeboten, und es gab dort einen Mann, der offenbar eigens dafür angestellt war, alle frisch hereingekommenen gebrauchten Exemplare durchzusehen und zu sortieren. April kannte seinen Namen nicht, aber er war in den Dreißigern, trug einen eher wild wachsenden, aber unbedingt gut aussehenden Bart und hatte ein sanftes Lächeln von der Sorte, die einen zu schlechten Gedichten inspirieren konnte. Dieser junge Mann würde ihren Brief ganz sicher finden und ihn lesen. Er wirkte bei seiner Arbeit gewissenhaft und umsichtig und war daher vielleicht auch für das Mysterium eines anonymen Briefeschreibers empfänglich. Trotz seines sehr, sehr guten Aussehens - er war mit Sicherheit kein Schauspieler, hätte von seinem Äußeren her aber gut einer sein können -, wirkte er still und belesen und vielleicht sogar ein bisschen schüchtern. Sie hatte ihn höflich mit Kunden und Kundinnen umgehen sehen und einmal beobachtet, wie er für einen älteren Herrn, der Computern gegenüber offenbar skeptisch eingestellt war, geduldig ein Buch im Internet recherchiert hatte. Kurz, er machte einen liebenswürdigen Eindruck.
Und ein liebenswürdiger Mensch war genau das, was April gerade brauchte. Denn sie war, ganz offiziell, einsam. Das Arbeiten im Homeoffice war ihr zuerst bequem vorgekommen, aber mittlerweile schien dieses Konzept, ohne dass April je ihre Einwilligung dazu gegeben hatte, zu einer Dauereinrichtung geworden zu sein, und als eher introvertierter Mensch hatte sie sich vielleicht auch zu leicht daran gewöhnt. Sie zwang sich dazu, die Wohnung auf alle Fälle einmal am Tag zu verlassen, selbst wenn es regnete, wie so oft im Frühjahr in Seattle, und neulich hatte sie sich bei einem ihrer Spaziergänge dabei ertappt, wie sie über einen Mops im Hundepulli vollkommen übertrieben in Verzückung geriet, der dann von seiner Besitzerin auch prompt von ihr weggezerrt wurde. Nun machte April sich Sorgen, weil sie offenbar zunehmend aus der Übung kam, was das Plaudern mit anderen betraf, aber wie sollte sie das trainieren? Sie traf ja niemanden mehr. Sogar ihre Nachbarn im Haus schienen alle genauso zu sein wie sie: still und einzelgängerisch wagten sie sich nur selten vor die Tür. April hörte deren Musik, Schritte und geheimnisvolle Geräusche, sah sie aber nur sporadisch und dachte sich ihre persönlichen Geschichten eher aus, als dass sie sie kannte.
Natürlich hätte sie auch einfach zu dem Mann in der Buchhandlung hingehen und ihn ansprechen können wie ein normaler Mensch, doch nachdem sie noch einmal 84, Charing Cross Road: Eine Freundschaft in Briefen gelesen und sich kurz darauf an einem Abend zwei romantische Komödien hintereinander angesehen hatte, war sie eben auf die Idee mit dem Brief verfallen. In den Filmen ging alles so wunderbar gut aus, und die Briefe (zwischen dem Angestellten eines Antiquariats und einer Büchernärrin) in dem Roman waren so bezaubernd, dass ihr das Ganze mitten in der Nacht plötzlich wie eine gute Idee erschienen war. Manchmal muss man einfach etwas in die Welt werfen und schauen, was passiert, hatte April, im Dunkeln an ihrem Schreibtisch sitzend, gedacht - und das Buch mit dem Brief darin am Morgen extra ganz schnell in dem Laden abgegeben, damit sie keine Zeit hatte, es sich noch einmal anders zu überlegen. Aber während der Spätnachmittag nun in ein stilles Softsweater-Grau überging, fiel es ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
Plötzlich riss der Summton der Klingel sie aus ihren Gedanken. Eigentlich erwartete sie, wie üblich, niemanden. Ihr Bruder Ben war der einzige Mensch in ihrem Leben, der die Angewohnheit hatte, unangemeldet zu Besuch zu kommen, doch sie wusste, dass er, obwohl er nicht singen konnte, an diesem Nachmittag bei einem Vorsingen für ein Musical war. Sie ging zur Tür und drückte auf die Taste der Gegensprechanlage.
»Hallo?«
»Ich hab eine Pizza-Lieferung für . Jackson?«, kam es aus dem Lautsprecher.
»Tut mir leid, das ist nebenan«, sagte April. »Nummer 305.« Es war nicht das erste Mal, dass der Pizzabote diesen Fehler machte. Mr. Jackson, ein pensionierter Lehrer, mit dem April sich gelegentlich in der Lobby oder im Flur unterhielt, bestellte jeden Donnerstag Pizza. Es war ihr unangenehm, dass sie das wusste; vielleicht hatte sie ein bisschen zu viel Zeit, die Gewohnheiten ihrer Nachbarn zu studieren.
»Danke.«
Von ihrem Fenster aus sah April, wie der Pizzabote zu seinem Wagen zurückkehrte, einem kleinen Zweitürer mit einem riesigen leuchtenden Pizzastück auf dem Dach. Vielleicht wartete am Ende seiner Schicht jemand auf ihn; jemand, der daran gedacht hatte, den Backofen für die Pizza, die er mitbrachte, vorzuheizen. Jemand, der sich interessiert erkundigte, wie sein Tag gewesen war und welche Abenteuer er beim Ausliefern erlebt hatte. Jemand, der keinen Brief in einem Buch zurücklassen musste, um jemanden kennenzulernen. Das kleine Auto fuhr davon.
Wie dem auch sein mochte. Den Brief konnte sie nicht mehr zurückholen. Und was konnte schon passieren, wenn der Mann im Buchladen ihn las? Wahrscheinlich nichts, dachte sie, als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß und erneut über alles nachdachte. Vielleicht sollten erwachsene Frauen - April war dreiunddreißig, ein Alter, das sich weder alt noch jung anfühlte -, die im Homeoffice einen Erwachsenenberuf in der...
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