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Oliver Hillington betrat das Stadthaus von Lord und Lady Hounslow mit weniger Elan, als er es sonst zu tun pflegte, wenn er einer gesellschaftlichen Einladung folgte. Doch dies war nicht nur der erste Ball der Season des Jahres 1813, den er besuchte, sondern auch der erste, bei dem er nicht mehr lediglich der jüngere Sohn eines jüngeren Sohnes war.
Sein älterer Bruder Edwin war im Winter seiner langen Krankheit erlegen, und die Nachricht, dass damit der angesehene und äußerst wohlhabende, aber leider kinderlose Earl of Glichester in Oliver einen neuen Erben hatte, machte in kürzester Zeit die Runde.
Daher überschütteten die Herrschaften der feinen Gesellschaft, des sogenannten ton, ihn gleich zu Beginn seines Aufenthalts in London mit Einladungen: zwei Bälle, eine Soirée, zwei Dinner in kleinem Kreis, ein Hauskonzert - alles innerhalb von nur einer Woche!
Nicht, dass er bisher ignoriert worden wäre. Als junger, unverheirateter Herr aus gutem Hause, der sich nie vorm Tanzen drückte und charmante und interessante Gespräche zu führen wusste, war er auch ohne Anspruch auf einen Titel stets überall ein gern gesehener Gast gewesen. Aber etwas war nun anders, das konnte er deutlich spüren.
Oliver reichte dem bereitstehenden Diener Mantel, Hut und Spazierstock und wandte sich der Treppe zu, die hinauf in den ersten Stock und zum Ballsaal führte.
»Hillington, ich gratuliere«, rief Lord Cannilworth, der dort auf der untersten Stufe stand, ihm entgegen.
Oliver zuckte zusammen, doch der Lord schien die Unhöflichkeit seiner Worte nicht zu bemerken und fuhr fort: »Damit dürfte klar sein, wer ab jetzt aus dem großen Strauß der neuen Debütantinnen die schönste pflücken darf. Wer sollte dich jetzt noch ablehnen?«
Oliver atmete tief ein. »Durchaus. Ich finde es allerdings bedauernswert, dass mein Bruder dafür sein Leben lassen musste«, erwiderte er trocken.
»So ist das eben. Ach ja, mein Beileid noch.«
Oliver nickte kurz und stieg die Treppe hinauf, ohne Lord Cannilworth weiter zu beachten. Der Mann erwies sich stets aufs Neue als schreckliches Plappermaul und die Taktlosigkeit in Person. Hatte er vergessen, dass die dreimonatige Trauerzeit um Edwin erst vor wenigen Tagen zu Ende gegangen war?
Die pietätlose Begegnung hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, den Oliver mit einem Glas Champagner herunterzuspülen versuchte, sobald er Lord und Lady Hounslow begrüßt hatte.
Noch war es recht früh, dennoch promenierten bereits überraschend viele Gäste durch den Ballsaal und die angrenzenden Räume, in denen es die Möglichkeit gab, dem einen oder anderen Kartenspiel zu frönen oder in Ruhe eine Zigarre zu rauchen. Die Vornehmsten der Eingeladenen würden natürlich zu deutlich späterer Stunde eintreffen. Doch die ersten der anwesenden Damen nutzten sofort die Gelegenheit, ihn zu begrüßen und ihm ihre Töchter vorzustellen, die in diesem Jahr debütierten.
Wie stets war Oliver freundlich und zuvorkommend zu allen, ob sie nun schüchtern zu Boden schauten oder ihm unbeholfen kokette Blicke zuwarfen. Er konnte sich vorstellen, wie schwierig es für die jungen Mädchen sein musste, sich erstmals aufs offizielle Parkett zu wagen, immer mit dem Druck im Rücken, möglichst bald einen passenden Ehemann zu finden.
Im nächsten Jahr würde Elizabeth eine von ihnen sein. Welche Dame seine Schwester dabei in die Gesellschaft einführen würde, war unklar, denn der Familie Hillington fehlte es deutlich an weiblichen Mitgliedern. Olivers und Elizabeths Mutter lebte nicht mehr, ihr Onkel, der Earl of Glichester, war kinderlos verwitwet, Edwin hatte aus guten Gründen nie geheiratet. Es gab weder eine Großmutter noch Tanten. Und Oliver würde gewiss keine Bindung eingehen, nur um seiner kleinen Schwester eine passende Lady an die Seite zu stellen, wenn sie der Königin vorgestellt würde und ihre ersten Schritte bei Bällen wie dem heutigen machte.
Er hatte sich vorgenommen, gegen Ende der Season einmal mit Lady Attersley zu sprechen. Hatte sie nicht Lady Matilda, die Frau seines Freundes Frederick, und deren Schwester Lady Charlotte bei ihrem Debüt begleitet? Vielleicht war sie bereit, auch Elizabeth unter ihre Fittiche zu nehmen?
Aber solche Fragen konnten warten. Heute war er ausschließlich hier, um sich zu amüsieren. Um zu tanzen und locker-leichte Gespräche zu führen. Und um dabei eventuellen Avancen geschickt aus dem Weg zu gehen.
Oliver schaute sich um und nickte einigen Bekannten zu. Amüsiert beobachtete er Viscount Hornible, der durch seine Größe und die roten Haare nicht zu übersehen war. Auch er schien sich die diesjährigen Debütantinnen in ihren unschuldig weißen Kleidern unauffällig genauer anzuschauen.
Oliver grinste und schob sich näher an seinen Rücken heran.
»Schon was Hübsches entdeckt?«, fragte er.
Lord Hornible fuhr herum. »Hillington! Du hast mich erschreckt!«
Oliver lachte. »So versunken bist du in den Anblick der Schönheiten?«
»Schauen ist nicht verboten. Vielleicht finde ich ja eine passende Braut für dich.«
»Das wird nicht nötig sein«, erklärte Oliver entschieden.
»Dann hast du am Ende schon ...?«
»Nein. Aber das liegt keinesfalls am Desinteresse der Damen. Seit mein älterer Bruder gestorben ist, kann ich mich vor Wimpernklimpern kaum retten.«
Lord Hornible nickte mitfühlend. »Ja, die jungen Ladys und vor allem ihre Mamas sind alle scharf darauf, einen Titel an Land zu ziehen. Und jetzt, als neuer Erbe des Earls of Glichester, bist du eben auf einen Schlag ganz besonders interessant geworden.«
»Zum Glück habe ich ein paar Abwehrtechniken.«
»Ach, du musst nur die Richtige finden, also ich ...« Lord Hornible hielt inne. »... ich werde mich genau umschauen«, beendete er seinen Satz.
Das klang ziemlich lahm, fand Oliver. Er war sich sicher, dass der Viscount zunächst etwas völlig anderes hatte sagen wollen.
»Wie wäre es mit der Hellblonden da drüben?«, schlug Oliver ihm vor. »Die hat ganz niedliche Grübchen in den Wangen, wenn sie lächelt.«
Er wies auf eine schlanke junge Dame im weißen Kleid, die sich interessiert umsah, während sie mit einer etwas üppiger ausgestatteten Freundin plauderte.
Lord Hornible nickte. »Wir könnten beide zum Tanz auffordern. Aber blond ist nicht wirklich mein Geschmack.«
»Wie wäre es dann mit der da drüben auf der anderen Seite des Saals? Siehst du, wen ich meine? Die mit den Blüten im dunklen Haar.«
»Die, von der man nur den Rücken sieht? Ihre Haltung ist vorbildlich, aber ihr Gesicht müsste ich mir schon vorher einmal anschauen.«
»Wir könnten ganz unauffällig hinübergehen. Ich kenne sie, soweit ich das beurteilen kann, nicht, aber der Mann, mit dem sie gerade spricht, ist Lord Kendal, mit dem ich befreundet bin.«
»Warum nicht«, stimmte Lord Hornible zu.
Gemeinsam schlenderten die beiden Herren auf die kleine Gruppe mit der Dame zu, die sie ins Auge gefasst hatten. Doch noch bevor sie den Ballsaal ganz durchquert hatten, blieb Lord Hornible stehen.
»Entschuldige«, sagte er zu Oliver. »Lass dich nicht aufhalten, aber ich muss unbedingt Lord und Lady Clafton begrüßen.«
Oliver folgte seinem Blick. »Ah, und ich sehe auch, warum. Sollte es sich bei ihrer Tochter am Ende um die passende Debütantin für dich handeln?«
Lord Hornible wirkte verlegen. Dann neigte er sich zu Oliver und sagte leise: »Tatsächlich dürfte in Kürze bekanntgegeben werden ...« Er hob vielsagend die Augenbrauen.
»Hornible!« Oliver stieß ihn in die Seite. »Du verlobst dich also? Völlig Hals über Kopf?«
»Lady Alice und ich - wir kennen uns schon länger, wir sind schließlich Nachbarn in Sussex. Und wir verstehen uns gut.«
»Du hast nie etwas erzählt!«
»Warum hätte ich das tun sollen? Sie war ja noch nicht einmal in die Gesellschaft eingeführt.«
»Stimmt auch wieder. Dann begrüß mal deine Lady Alice, und ich schaue, wer die Dame mit den Blüten im Haar ist. Ich frage mich, ob ich sie nicht doch kenne.«
Oliver verstummte, denn Lord Hornible war bereits zu den Claftons und ihrer hübschen Tochter geeilt.
Dafür strahlte ihm Lady Kendal entgegen. »Mister Hillington, wie schön, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, es geht ihnen gut?«
Oliver nickte und bedankte sich noch einmal für die mitfühlenden Worte, die Lord und Lady Kendal nach Edwins Tod in einem Kondolenzbrief an ihn und seine Schwester gerichtet hatten.
»Du musst uns bald besuchen kommen, ganz formlos zum Abendessen«, sagte Lord Kendal.
»Sehr gerne, My Lord.«
Lady Kendal kicherte. »Ich sehe schon, es wird höchste Zeit für eine solche Einladung, Freddy. Die letzte ist viel zu lange her. Der Mann kennt unsere Namen nicht mehr.«
»Selbstverständlich doch. Matilda. Und Frederick. Aber wir...