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Drei Blutstropfen im Schnee.
Wolfram von Eschenbachs Parzival: Im sechsten Buch soll Parzival wegen seiner Verdienste in die Tafelrunde des Königs Artus aufgenommen werden. Artus ist auf der Suche nach ihm, aber sie verfehlen einander. Nur Artus' bester Jagdfalke begleitet Parzival, der sich im Wald verirrt und dort die Nacht verbringt. Am nächsten Morgen betritt er eine schneebedeckte Lichtung und erblickt eine Schar Wildgänse. Artus' Falke stürzt sich auf eine von ihnen, sie verliert drei Tropfen Blut, die sich im Schnee abzeichnen.
Sie erinnern Parzival an das Gesicht seiner Gemahlin. Zwei Tropfen an ihre Wangen, der dritte an ihr Kinn. Parzival verfällt in eine Art Trance.
Die Szene hat für die weitere Handlung und die Gralssuche keine Bedeutung. Deshalb grübelt die Mediävistik: Ist sie überhaupt wichtig? Oder ist sie «nur als kleines Detail gedacht und kann ruhig überlesen werden»?
Von der Fragwürdigkeit dieses nur, geschätzte Leserinnen und Leser, handelt das vorliegende Buch.
Woran erinnert man sich, wenn man sich an Lektüren erinnert? Weniger an Handlungsverläufe als an Details. Wie im wirklichen Leben, in dem man lange Zeitverläufe nicht mehr parat hat, sich aber noch genau an tausend unwichtige Einzelheiten erinnert, so in der Literatur. Niemand, der Parzival gelesen hat, wird sie vergessen, die drei Blutstropfen im Schnee.
Keine große Literatur ohne markante Details. Beliebig gewählt nur ein paar Beispiele aus dem Ur-Epos und Gründungsdokument der europäischen Erzählkunst, der Homerschen Odyssee. Als Odysseus nach zwanzig Jahren seiner bekannten Irrfahrten als verkleideter Bettler nach Ithaka zurückkehrt, begrüßt ihn schwanzwedelnd Argos, sein alter getreuer Hund, der zu schwach ist, ihm entgegenzugehen, und kurz darauf selig entschläft. Die Amme Eurykleia, die dem Heimkehrer die Füße wäscht, erkennt ihn an einem besonderen Detail: der Narbe am Bein, die ihm vom Angriff eines Ebers in jungen Jahren zurückgeblieben war.
Penelope, seine Gattin, stellt ihn auf die Probe: Er möge bitte das Bett aus ihrem Schlafzimmer heraustragen. Odysseus ist entrüstet: Er selbst hat doch das Bett aus einem fest verwurzelten Olivenbaum geschnitzt! Das neuvereinte Paar verbringt die Nacht unter Tränen und Gesprächen. Und Eos, die Göttin der Morgenröte, läßt einmal fünfe grade sein und gewährt den Liebenden großzügig eine Extrastunde.
Mit einem Sprung in die Moderne: Auch wenn man nicht mehr weiß, wie genau Madame Bovary in finanzielle Schwierigkeiten geriet, eines wird hängenbleiben: ihre stundenlange Kutschenfahrt durch Rouen mit ihrem Liebhaber, bei zugezogenen Vorhängen.
Oder denken wir an Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Was wäre die Recherche ohne die Madeleine? Diese Madeleine, ein muschelförmiges Gebäck, tunkt der Erzähler Marcel in eine Tasse Lindenblütentee, und unversehens steigt die Kindheit wieder in ihm auf. Aber innerhalb der berühmten Passage gibt es ein Detail, das man notfalls hätte herausoperieren können und das doch gerade als metaphorische Winzigkeit unerhörten Charme entfaltet - entfaltet im wörtlichen Sinn.
Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten, aus meiner Tasse Tee.
Kein Proust-Leser wird die Szene mit der Madeleine vergessen, die Urszene des Romans und des in ihm entwickelten Themas der unwillkürlichen Erinnerung, der mémoire involontaire. Aber auch die japanische Porzellanschale vergißt man nicht - das Gegenteil des sprichwörtlichen Sturms im Wasserglas.
Details sind die Primzahlen der Prosa. Oder die duftenden Strauchrosen am Wegrand des Plots. Manche Romane laufen auf ein Detail hinaus. Bei anderen ist das Detail ein Kristall oder ein Spiegelchen, das in der Miniatur das große Ganze reflektiert.
Manche Details sind verräterisch. Bei Shakespeare sind es zwei seltene Adjektive, die ein Licht auf ein Jahrtausendrätsel werfen. In Bram Stokers Dracula ist es ein einziges Verb, mit dem ein Spalt aufklafft, durch den wir eine dunklere Erzählschicht erkennen. Bei Vladimir Nabokov genügt die Kombination zweier Namen, der eine heute berühmt (Lolita), der andere unauffällig (Walzer), und es öffnet sich eine Falltür in die Vergangenheit, die dann selbst vom amerikanischen Verfassungsgericht inspiziert wurde.
Andere Details entzücken durch ihre schiere Funktionslosigkeit. Das Ballgewoge in Leo Tolstois Krieg und Frieden, die verwickelten Liebesgeschichten, die ausführlich beschriebenen Schlachten, die taktischen Manöver Napoleons, die Intrigen innerhalb der russischen Generalität, die Schwäche des Zaren, der Brand Moskaus, der Rückzug der französischen Armee und die Attacken der Husaren sind das eine. Aber dann gibt es dieses violette Hündchen, das in der Zelle den Helden aufmuntert und später den traurigen Gefangenenzug begleitet .
«Und der Soldat stieß einen kleinen Hund, der an ihm hochsprang, von sich weg, kehrte zu seinem Platz zurück und setzte sich.» So führt Tolstoi das Motiv fast unbemerkt ein. Pierre ist in Moskau von den französischen Soldaten eingesperrt worden. Sein Kompagnon Karatajew findet in dem Hund einen Begleiter: «, sagte er, tastete nach dem Hund an seinen Füßen, drehte sich wieder um und schlief sofort ein.»
Am 6. Oktober frühmorgens kam Pierre aus dem Schuppen und blieb auf dem Rückweg an der Tür stehen, um mit dem langen, lilafarbenen Hündchen mit den kurzen, krummen Beinen zu spielen, das um ihn herumsprang. Dieser kleine Hund lebte bei ihnen im Schuppen, nächtigte bei Karatajew, manchmal lief er irgendwo in die Stadt, kehrte aber immer wieder zurück. Vermutlich hatte er nie jemandem gehört, und auch jetzt war er niemandes Hund und hatte nicht einmal einen Namen. [.] Dass er niemandem gehörte und ihm der Name, ja sogar die Rasse und selbst eine bestimmte Farbe fehlte, machte dem kleinen lilafarbenen Hund offenbar nichts aus. Sein buschiger Schwanz stand wie ein fester runder Helmbusch nach oben, die krummen Beine dienten ihm so gut, dass er häufig, als verschmähe er den Gebrauch aller vier Beine, das eine Hinterbein graziös hochhielt und sehr geschickt und rasch auf drei Pfoten lief. Alles war ihm Gegenstand des Vergnügens. Bald wälzte er sich vor Freude winselnd auf dem Rücken, bald wärmte er sich in der Sonne mit nachdenklicher und bedeutungsvoller Miene, bald tollte er ausgelassen herum im Spiel mit einem Span oder Strohhalm.
So wird uns das Hündchen vorgestellt, dessen Existenz zur Handlung rein gar nichts beiträgt und dessen Fehlen kein Leser von Krieg und Frieden als Lücke empfunden hätte.
Hundert Seiten später ist Pierre in anderer Lage. Er ist zwar aus seinem Schuppen befreit, aber nicht zu seinem Vorteil. Napoleon hat sich zum Rückzug entschlossen, nachdem der Zar geflüchtet und Moskau abgebrannt ist. Seine Soldaten, hungrig und frierend, eskortieren die hungrigen und frierenden russischen Gefangenen, um sie unterwegs nach Belieben zu erschießen. Die ursprünglich beim Abzug aus Moskau eingeführte Ordnung, daß gefangene Offiziere getrennt von den Soldaten marschierten, ist längst aufgegeben; «alle, die marschieren konnten, gingen zusammen, und Pierre schloss sich beim dritten Tagesmarsch wieder Karatajew und dem lila krummbeinigen Hund an, der sich Karatajew zum Herrn gewählt hatte».
Am 22., mittags, ging Pierre eine schmutzige, glitschige Straße hinauf und achtete auf seine Füße und die Unebenheiten des Weges. [.] Der lila krummbeinige Graue lief fröhlich am Wegrand, ab und an, zum Beweis seiner Geschicklichkeit und Zufriedenheit, zog er ein Hinterbein ein und sprang auf drei Beinen, und dann wieder stürzte er sich auf allen vieren mit Gebell auf die Krähen, die auf dem Aas saßen. Er war lustiger und glatter als in Moskau. Überall lag Fleisch der verschiedensten Lebewesen herum - vom Menschen bis zum Pferdefleisch - und in unterschiedlichsten Stadien der Verwesung; die Marschierenden ließen die Wölfe nicht näher heran, so dass der Graue fressen konnte, soviel er wollte.
Niemand bemerkt, was kurz darauf geschieht; Tolstoi buchstabiert es nicht aus. Pierre hört einen Schuß. Napoleons Soldaten haben einen russischen Gefangenen erschossen.
Ein Hund begann zu jaulen, hinten, an der Stelle, wo Karatajew saß. «So ein dummes Vieh, weshalb jault er?» dachte Pierre. Genausowenig wie er sahen sich seine Soldaten-Kameraden um zu der Stelle, von wo der Schuß und dann das Jaulen des Hundes zu hören gewesen waren; aber auf allen Gesichtern lag ein strenger Ausdruck.
Das violette Hündchen...
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