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Vom Dämonischen, stellt Thomas Mann in seiner Einführung zu Dostojewski fest, solle man dichten; ihm kritische Essays zu widmen erscheine ihm, gelinde gesagt, indiskret. Dem Vorwurf, höchst indiskret zu sein, könnte sich auch diese Untersuchung ausgesetzt sehen, wenn sie der Frage nachgeht, was in den frühen Tagebüchern denn Handfestes über homosexuelle Kontakte hätte vermerkt sein können. Nun wird über diese Frage gerätselt, seit die späten Tagebücher veröffentlicht sind, die Thomas Mann der Nachwelt ausdrücklich anheimgegeben hat, mit allen «heitere[n] Entdeckungen», die er ihr dabei trokken in Aussicht stellt. (13.10.1950) Und gerade in den späten Tagebüchern finden sich verstreute Hinweise zum Kern dieser Frage, die es erlauben, die Vermutungen der jüngsten Biographen in zweierlei Hinsicht zu korrigieren.
Man wisse es zwar nicht, schreibt der beste unter ihnen, Hermann Kurzke, aber wahrscheinlich habe es in früher Zeit irgendeine Art körperlichen Kontakt gegeben, der als «erniedrigend, demütigend und beschmutzend erfahren wurde und ein lebenslanges Trauma hinterlassen hat. Es mochten die Strichjungen in Neapel gewesen sein.»[15]
Er ist nicht der einzige Biograph, an dessen Horizontlinie die Strichjungen spazieren, mit denen der junge Thomas Mann in Italien in Berührung gekommen sein kann; eine Linie, auf die der Neapelreisende selber weist, wenn er 1896 dem eingeweihten Freund Otto Grautoff schreibt, auf dem Toledo gebe es unter tausend anderen Verkäufern auch schlau zischelnde Händler, «die einen auffordern, sie zu angeblich Mädchen zu begleiten, und nicht nur zu Mädchen .»[16] Grautoff wußte, was die drei Pünktchen bedeuten sollten, zumal derselbe Brief ein Portrait der Stadt Neapel enthält, «eine Physiognomie mit etwas aufgestülpter Nase und etwas aufgeworfenen Lippen, aber sehr schönen, dunklen Augen .», das mehr dem eines jungen Neapolitaners glich. Der Klage über die nicht abzuschüttelnden Händler, die ihre Ware anpriesen, bis man grob werde, schließt Thomas Mann das Bekenntnis an, daß er schon beinahe zum Reisessen entschlossen sei, nur um von der Geschlechtlichkeit loszukommen.
Einmal unterstellt, es sei ihm dies mit oder ohne Diät nicht gelungen, und weiter unterstellt, er sei doch einmal einem jener zischelnden Zuhälter gefolgt - was spricht dagegen, daß der junge Thomas Mann ein homosexuelles Rencontre gehabt haben könnte, und was spricht dagegen, daß der fast sechzigjährige weltberühmte Autor eben diese Erfahrung als so belastend und kompromittierend empfand, daß er ihre Enthüllung als tödliche Gefahr ansah, als Ruin seines Rufs, dem er im Zweifelsfall den Freitod vorziehen würde?
Es sind die Briefe und Tagebücher, die leise dagegen sprechen und bei deren genauer Lektüre sich die Horizontlinie verschiebt. Denn es geht zweierlei aus ihnen hervor. Das erste ist, daß Thomas Mann mit den jungen Männern ganz offensichtlich über einen schüchternen Kuß nie hinausgelangt ist. Das soll nicht heißen, daß für sein Abirren ins Malavita-Viertel Neapels oder Roms nicht manches spräche; wie wir sehen werden, spricht dafür sogar einiges. Es heißt nur, daß es dabei nicht zu einer erfüllten homosexuellen Begegnung gekommen sein kann. Die blieb ihm, wie alle privaten Aufzeichnungen nahelegen, ein Leben lang verwehrt.
«Erfüllung» ist dabei gerade das Wort, das er benutzt, als er kein Jahr nach der Koffer-Entwarnung beim Blättern in den geretteten Tagebüchern seine letzte Leidenschaft Revue passieren läßt: die Freundschaft mit Klaus Heuser, der im Herbst 1927 bei ihnen in München zu Gast gewesen war und den er wiederholt in Düsseldorf besucht hatte. «Tief aufgewühlt, gerührt und ergriffen» ist er von dem Rückblick auf dieses Erlebnis,
das mir heute einer anderen, stärkeren Lebensepoche anzugehören scheint, und das ich mit Stolz und Dankbarkeit bewahre, weil es die unverhoffte Erfüllung einer Lebenssehnsucht war, das «Glück», wie es im Buche des Menschen, wenn auch nicht der Gewöhnlichkeit, steht, und weil die Erinnerung daran bedeutet: «Auch ich». (24.1.1934)
Das könnte noch alles mögliche bedeuten und würde die Frage offenhalten, was er unter «Erfüllung» begreift. Ebenso ist es mit einem anderen Wort, das in weniger keuschen Ohren expliziteren Klang genießt:
Las lange in alten Tagebüchern aus der Klaus Heuser-Zeit, da ich ein glücklicher Liebhaber. Das Schönste und Rührendste der Abschied in München, als ich zum ersten Mal «den Sprung ins Traumhafte» tat und seine Schläfe an meine lehnte. Nun ja, - gelebt und geliebet. Schwarze Augen, die Tränen vergossen für mich, geliebte Lippen, die ich küßte, - es war da, auch ich hatte es, ich werd es mir sagen können, wenn ich sterbe. (20.2.1942)
Was Thomas Mann darunter verstand, ein Liebhaber zu sein, geht aus einem Interview mit dem 77jährigen Klaus Heuser hervor. Es gab nicht mehr als eine Umarmung und einen Kuß, kaum diesen kann der einst Verherrlichte bestätigen; eine bloße Freundlichkeit des gar nicht verliebten Jungen, der von dem Gefühlszauber, den er erregte, fast nichts mitbekam.[17] Von Thomas Mann wiederum wissen wir, daß dieser Kuß der Höhepunkt seines erotischen Lebens war. Klaus Heuser nämlich, so schreibt er am 16.7.1950, als er eine Art Bilanz seiner Amouren zieht, war der Jüngling, der ihm «am meisten Gewährung entgegenbrachte».
Über die tatkräftigeren Homosexuellen äußert er sich voller Indignation. Nach der Lektüre Gore Vidals bemerkt er: «Das Sexuelle, die Affairen mit den diversen Herren mir eben doch unbegreiflich. Wie kann man mit Herren schlafen.» (24.11.1950) Und auch wenn es nicht Herren, sondern Knaben sind, finden die ihnen auf den Leib Rückenden seine gesammelte Antipathie:
Beendete das Buch über oder gegen Gides Journal. Verstimmt gegen ihn durch sein allzu direkt sexuell aggressives Verhalten gegen die Jugend, ohne Achtung, Ehrerbietung vor ihr, ohne sich seines Alters zu schämen, unseelisch, eigentlich lieblos. Ich - und einem geliebten Jungen irgend etwas zumuten! Undenkbar! Seine Verehrung durch Niederträchtigkeiten stören! Befremdung. (6.10.1951)
Wenn es aber neben den geliebten Jungen auch noch die ungeliebten gab, wenn er zwei strikt getrennte Kategorien gehabt hätte, eine, die den göttlichen Jüngling umfaßte, dem nicht zu nahe zu treten war, und eine zweite, in der sich gesichtslose bloße Körper und käufliche warme Fleischpuppen tummelten? «Ich sage, trennen wir den Unterleib von der Liebe!» belehrt der Zwanzigjährige den Freund Grautoff, ganz nach der bürgerlichen Konvention seiner Zeit.[18] Es klingt etwas nach juveniler Großsprecherei, und es steht auch in scharfem Kontrast zu der einzigen Lehre, die er im Werk je mit religiöser Verve vertreten hat, dem Axiom von der heiligen Liebe, in der sich das Fleischlichste mit dem Geistigsten mische und mischen müsse. Nun könnte dieses Axiom gerade der Wiedergutmachung und Buße eines herzlosen Abstiegs in die Abenteuer des Fleisches dienen. Aber da gibt es den einen Konjunktiv, der solche vollzogenen Abenteuer doch eher unwahrscheinlich macht. Im Halbschlaf träumt der Greis, daß er von Franzl, dem Letztgeliebten und «Repräsentanten der ganzen angebeteten Gattung», mit einem Kuß Abschied nähme. Freilich:
Ob die Wirklichkeit mich je tauglich gefunden hätte, ist eine Frage für sich. (6.3.1951)
Was doch nichts anderes heißen kann, als daß sie ihn über den Kuß hinaus nie auf die Probe gestellt hat. Woraus wir wiederum schließen dürfen, daß in den frühen Tagebüchern, was die angebetete Gattung betrifft, allenfalls Träumereien, nicht jedoch krude Tatsachen beschrieben worden sein können.
Diese Träumereien aber hatte Thomas Mann längst öffentlich gemacht. Was ihm, falls es ruchbar würde, als «unaussprechliche Gefahr» erschienen sein soll, davon sprach er dreißig Jahre lang immerzu. Gerade wenn man nicht den Fehler begeht, die heutige Liberalität zurückzuspiegeln auf die Zeit, als es noch hochriskant oder unmöglich war, sich als Homosexueller zu bekennen, wird man sich darüber wundern, wie weit er sich vorgewagt hat. Wie Thomas Mann über die Homoerotik schreibt, ist von erstaunlicher Offenheit und erstaunlichem Mut. «Die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon vieles um ihn gelitten hatte» (VIII, 273),[19] so stand es schon 1903 im Tonio Kröger, und an dieser Sache sollte sich in den nächsten Jahrzehnten nichts ändern. Auch Castorp wird Madame Chauchat nur deshalb lieben, weil sie ihm mit ihren Kirgisenaugen als Wiederverkörperung seines Jugendschwarms Hippe erscheint. Und weder Clawdia Chauchat noch Inge Holm noch eine der anderen matten Frauenfiguren, mit denen Thomas Mann die Helden flankiert, kann gegen die tiefere Attraktion der Hansens und Hippes bestehen.
Wenn man darüber immerhin noch hinweglesen konnte, so doch schlecht über die Geschichte Gustav von Aschenbachs. Hier fällt der letzte Schleier der Camouflage,[20] das weibliche Hilfspersonal wird nach Hause geschickt, im Mittelpunkt lockt der vergötterte Tadzio allein. Spätestens ab 1912, spätestens mit dem Tod in Venedig, in dem Thomas Mann von einem leicht als alter ego zu erratenden Schriftsteller erzählt, der in blinder Passion einem Knaben verfällt, wußte man nicht nur im George-Kreis über das offene...
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