Schweitzer Fachinformationen
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»Die Vorstellung einer heiligen, okkulten Wahrheit, zu der nur eine Initiation den Zugang eröffnet, verstellt den Blick auf die Dimension ihrer Entstehung und ihres Werdens. Was verschleiert ist, wird in einer starren Unzeitlichkeit begriffen. Es ist für alle Ewigkeit verborgen. Nun gibt es aber auch im Geheimen ein Werden.« Anne Dufourmantelle[1]
Liebe Leser,
wie verändert sich eine Gesellschaft? Wie schaffen wir es, uns tiefgreifend neu zu formieren, ohne dass wir als Gemeinschaft auseinanderbrechen und alles im Chaos endet? Das sind die drängenden Frage unserer Zeit. Genau weiß das wahrscheinlich niemand. Ich glaube, es hilft bereits, zu erkennen, was dabei kontraproduktiv ist. Dann ist man bereits einige Schritte weiter. Und dazu kann ich Ihnen einiges sagen. Lassen Sie uns also damit anfangen, zu überlegen, was eine Gesellschaft hindert, sich zu verändern.
Hat meine Anrede Sie bereits stutzig gemacht? Richtig gelesen, ich favorisiere das generische Maskulinum. Das heißt, ich benutze generell die männliche Form, wenn ich spreche und schreibe, eine generelle Anrede, die alle Menschen mit einschließt. Zum Beispiel würde ich auch sagen: »Liebe Zuschauer .« Eigentlich ist dies die üblichste Form aller Ansprachen, mit der die meisten von uns - ob die sogenannte Generation Z (also die ab 1996 geborenen) oder die Boomer - sozialisiert wurden. In der Schule, beim Kinderarzt, beim Beantragen eines Reisepasses oder im Radio - immer galt die männliche Pluralform als allumfassend.
Sprache ist stetig im Wandel. Begrifflichkeiten werden überprüft und gegebenenfalls geändert. Auch Anreden und ihre Wirkung - also wen man ansprechen möchte und wie die Ansprache verstanden wird - werden hinterfragt. So auch beim sogenannten Gendern. Jetzt stellt sich die spannende Frage, weshalb ich diesen Einstieg gewählt habe. An der Frage des Genderns zeigt sich ziemlich exemplarisch, wie wir gesellschaftliche Debatten führen: nämlich ohne dass wir einen Konsens anpeilen, obwohl es alle betrifft. Ein gutes Beispiel dafür also, wie Debatten nicht funktionieren. Meine Präferenz, mit dem generischen Maskulinum zu gendern, ist weder gut noch schlecht. Es ist schlicht eine Option. Zusätzlich momentan aber auch ein durchaus politischer Standpunkt: weil ich so schreibe und spreche, obwohl ich mit der akademischen Tiefe der Genderdebatte vertraut bin. Dabei meine ich, wie bereits erwähnt, damit alle Menschen. Das mag das generische Maskulinum nicht sofort suggerieren, aber allein, dass wir darüber nachdenken, dass das generische Maskulinum nicht alle miteinschließen könnte, ist ja schon eine Folge der Debatte und somit politisch.
Die Debatte darum, ob und wie man gendert, hat groteske Ausmaße angenommen und dazu geführt, dass sich wildfremde Menschen auf der Straße anpöbeln oder Bücher nicht mehr gekauft werden, wenn darin nicht gegendert wird oder vielleicht noch eher gerade, wenn darin gegendert wird.
Wenn Journalisten gendern, dann bekommen sie Nachrichten, in denen ihnen vorgeworfen wird, dass der Journalismus ja gar nicht mehr neutral sei. Linksgrün sei nun überpräsent, einen Text mit Gendergaga könne man ja gar nicht mehr lesen. Wenn ich nicht gendere, fragen mich Menschen, weshalb ich das mache, ob ich bewusst diskriminiere oder es nur vergessen hätte. Falls ersteres der Fall sei, dann seien sie von mir enttäuscht.
Ich nehme das keineswegs persönlich, denn es ist eine durchaus berechtigte Frage, ob man diskriminiert oder nicht. Viel interessanter daran ist, dass deutlich wird, vor welchen Problemen der Journalismus steht. Intern beschäftigt die Debatte, ob man nun gendern soll oder nicht, ganze Redaktionskonferenzen. Journalisten fragen sich, welche pädagogische Aufgabe sie gegenüber den Lesern haben. Oder haben sie überhaupt keine? Eine Kettenreaktion.
Dabei interessiert das Gendern, das scheinbar unseren Bekanntenkreis in Gut und Böse teilt, den kleinen Mann - hier wortwörtlich - gar nicht sonderlich. »Ich hab doch nichts dagegen, mein Gott, wieso ist immer alles gleich so fürchterlich« - so begann eine Konversation im Zug (natürlich im ICE, denn alle zu Selbstüberschätzung neigenden Journalisten reichern ihre Thesen mit Anekdoten aus dem echten Leben an, das sich nun mal zu einem großen Teil in Zoom-Calls, Taxen und Zügen abspielt). Ich entschuldige mich bereits jetzt für die Unannehmlichkeiten, denn dies wird nicht die letzte Anekdote auf Reisen gewesen sein, die sie in diesem Buch von mir hören werden.
Der Mann im Zug war mittelalt, seine Kleidung hatte einen großen Wollanteil, und seine Ledertasche war sicherlich ein Weihnachtsgeschenk. Er las die Frankfurter Allgemeine Zeitung (die auch für ihre interne Diskussion rund ums Gendern bekannt ist - man möchte ja keine Leser umerziehen oder sich der linksgrünen Trendwende anbiedern). Ihm gegenüber saß ich, die erkennbar migrantische Person, zusammen brausten wir in der 1. Klasse eines Intercity-Express in Richtung Berlin - die Aggressionen der Zugteilung in Hamm hatten wir bereits hinter uns. Unser Gespräch startete, weil der Mann mich ganz direkt fragte, was denn ich von diesem Gendern halten würde. So narzisstisch, wie man als Schreiber nun oft ist, dachte ich sofort kurz darüber nach, was in Gottes Namen mich in seinen Augen für diese Ansprache qualifizierte. Werde ich hier marginalisiert, brauchte er die Bestätigung einer jungen Frau, dass seine Weltanschauung doch nicht menschenfeindlich sei, oder war er einfach dringend auf der Suche nach jemandem zum Reden?
»Um ehrlich zu sein, ich gendere persönlich nicht, falls Sie das wissen wollen.«
»Da scheinen Sie ja zu den vernünftigen Personen Ihrer Generation zu gehören.«
»Nein, das denke ich nicht.«
»Na gut, dann nicht.«
Stille. Wo kommt nur dieser Drang her, Menschen anhand ihrer Sprache in Vernunft und Unvernunft einzuteilen? Wir waren uns im Grunde einig, trotzdem war ich auf Hundertachtzig. Wieso zur Hölle generalisierte dieser Herr eine ganze Generation?
»Würde es Sie denn stören«, fragte ich, »wenn ich gendern würde? Was hätten Sie gesagt, wenn ich so geantwortet hätte?«
»Nun ja, dass Sie Leute umerziehen wollen, die damit nie ein Problem hatten. Ich meine, haben wir keine anderen Probleme?«
Er schaut mich verblüfft an.
»Sie anscheinend nicht.«
»Bitte?«
»Da Sie sich ja so sehr am Gendern des Gegenübers zu stören scheinen, haben Sie das Problem.«
»Aber ich habe mit dieser Diskussion doch nicht angefangen! Haben die Leute wirklich nichts anderes zu tun? Ich war auch schon auf Demos.«
Himmel!
»Befreien Demobesuche jetzt von der Teilnahme an gesellschaftlichen Diskussionen?«
»Ich meine ja nur, es gibt doch anständige Dinge, für die man sich einsetzen kann.«
»Sie werten jetzt eine politische Debatte ab, die Ihnen von niemandem aufgezwungen worden ist?«
»Oh doch, die FAZ gendert zumindest nicht, aber die Öffentlichen machen das ja mittlerweile, man kann dem ja nicht entfliehen.«
»Gott segne das reiche Angebot der Medien.«
Er schnaufte.
»Sie sind arrogant.«
»Und Sie verrennen sich.«
Bis Berlin gab es dann nur noch ein paar abgeneigte Blicke, Irritierung und Genervtheit über 37 Minuten Verspätung. Quintessenz: Der Diskurs fällt doch oft genau darauf zurück - auf die Ergötzung des Individuums, die Verabsolutierung der eigenen Meinung. Sowohl von meiner als auch seiner Seite in diesem Fall, so ehrlich muss man sein.
Woher kommt diese Kompromisslosigkeit? Sie zieht sich neuerdings durch alle Debatten in Deutschland wie eine rote Schnur. »Jeder nach seiner Façon?« Längst nicht mehr. Die eigene Meinung konstituiert die Welt, wie sie zu sein hat.
Wenn es nach den Zahlen geht, ist die Sache klar: Rund 65 Prozent der Deutschen wollen nicht gendern. Bei den Anhängern der Grünen sind es knapp 50 Prozent. Innerhalb der SPD sind 57 Prozent dagegen, in der Union gar 68 Prozent. Viel größer wird die Ablehnung bei den Linken mit 72 Prozent, darauf folgen die FDP mit 77 und die AfD mit 83 Prozent. Und besonders spannend: Die Zahlen sind seit der letzten Erhebung vor einem Jahr, nach all den Debatten und Forderungen, nicht etwa gesunken, sondern gestiegen.[2] Wieso ist das Gendern dann überhaupt so ein großes Thema, wo es doch offensichtlich keinen Konsens gibt? Die Diskussion ist längst über die sachliche Analyse hinweg - ob man selbst gendert oder nicht, ist ein Politikum, eine Einstellung, die keineswegs leicht zu entfärben ist.
Man kann auf verschiedene Arten Gendern. Man kann zum Beispiel auch das generische Femininum verwenden. Dann würde es »Liebe Leserinnen« heißen, womit alle Geschlechter angesprochen sein sollen, genau wie bei »Liebe Leser«. Man kann auch ganz explizit Männer und Frauen benennen: »Liebe Leser und liebe Leserinnen«. Aber wie gesagt, das sind dann ganz konkret zwei Geschlechter, was jene Menschen ausschließen würde, die sich keinem der binären Geschlechter zuordnen. Binär sind Mann und Frau. Um auch nichtbinären Menschen gerecht zu werden, könnte man jetzt mit einem Sternchen...
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