Prolog, Grenna
Der Himmel ist genauso finster wie der Anlass, aus dem ich heute hier bin. Seit Jahren bin ich nicht mehr in der Hauptstadt gewesen und ich kann nicht fassen, dass der Grund meines Erscheinens die Beerdigung der Königin ist.
Ein dichter Tränenschleier vor meinen Augen erschwert mir die Sicht auf den Trauerzug. Gemeinsam laufen wir durch den sonst so prachtvollen Schlossgarten, in dem sogar die vielen Blumen ihre Köpfe hängen lassen, zu dem Tempel, der Amanda als letzte Ruhestätte dienen soll.
Sämtliche adlige Wandler ganz Ferlens sind nach Haphelon gereist, um unserer verstorbenen Königin die letzte Ehre zu erweisen. Für mich ist sie jedoch nicht nur meine Königin gewesen. In Kindertagen waren Amanda, meine Schwester Dana und ich unzertrennlich. Unsere innige Freundschaft hielt bis ins Jugendalter, als ausgerechnet ein Mann für eine tiefe Erschütterung unseres Verhältnisses sorgte.
Das alles kommt mir nun so nichtig vor und ich bedaure es zutiefst, Amanda in den letzten Jahren nur noch selten zu Gesicht bekommen zu haben. Hätte ich doch nur hartnäckiger versucht, unsere Freundschaft zu kitten, dann hätte ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht so viel von ihrem Leben und dem ihrer Tochter verpasst.
Innerlich völlig leer schreite ich in den kleinen Tempel. Nur die königliche Familie und die drei angesehensten Familien des Landes dürfen ihn jetzt betreten. Mein Mann Aiden ist nach dem König der reichste und einflussreichste Wandler und befehligt zudem die größte Armee ganz Ferlens. Das macht uns zu einer der drei Familien, die sich nun im Halbkreis um die Statuen unserer Götter aufstellen. Zerios und Evra, noch nie hat jemand sie zu Gesicht bekommen und doch sind sie allgegenwärtig. Ihre nackten Leiber, deren geschmeidiger Oberkörper in perfekter Harmonie zu dem muskulösen Unterleib einer Raubkatze steht, verkörpern das Sinnbild eines starken Mannes und einer wunderschönen Frau. Ihre in Stein gemeißelten Antlitze überragen mich um gut zwei Armlängen.
Die Statuen gelten in dieser Halle als Zeichen des Schutzes. Die Götter wachen nun über unsere verstorbenen Liebsten.
Um die Steingebilde herum stehen zahlreiche Podeste mit den Urnen von König Erias' Ahnen. Kleine Steintafeln, in welche die Namen der Verstorbenen gemeißelt wurden und die mit schönen Verzierungen umrahmt sind, lassen die Urnen und damit den gesamten Raum nicht ganz so trostlos wirken.
Aiden sieht mich besorgt an, als sich unsere Blicke treffen. Er weiß genau, wie sehr Amandas Verlust mich schmerzt. Wären wir beide jetzt allein, würde er mich in den Arm nehmen, aber an diesem Ort wäre das mehr als unangemessen.
Das äußere Erscheinungsbild meines Mannes wirkt auf jene, die ihn nicht kennen, durchaus Furcht einflößend. Der volle dunkle Bart, die große, muskulöse Statur und die eisblauen Augen, in denen sich eine wilde Entschlossenheit widerspiegelt. Aber egal, welch starker Krieger Aiden ist, er verfügt über eine sehr mitfühlende Ader. Ohne ihn hätte ich nicht gewusst, wie ich den Tod meiner Schwester verkraften soll. Dana ist erst vor zwei Jahren auf brutale Art und Weise aus ihrem Leben gerissen worden und nun ereilte Amanda das gleiche Schicksal.
Während ich krampfhaft versuche mein Schluchzen zu unterdrücken, steht unser Sohn Vincent aufrecht neben seinem Vater und wirkt als Einziger im Tempel völlig teilnahmslos. Ehrfürchtig senkt er sein Haupt, doch seine Miene ist eisern. Ich kämpfe vehement gegen jede einzelne Träne, er dagegen steht wie ein Fels da und verzieht keinen Muskel im Gesicht. In seinen zwanzig Lenzen ist er zu einem Krieger herangewachsen, der nicht besonders gut darin ist, Mitgefühl zu zeigen. Nur des Anstands wegen hat er Aiden und mich begleitet.
Ich wische mir eine Träne aus dem Gesicht und blicke zu Prinzessin Silayla, die ich kaum wiedererkenne. Als ich sie vor sieben Jahren bei ihrem Besuch in Adon das letzte Mal gesehen habe, war sie ein aufgewecktes junges Mädchen, das fröhlich durch unseren Garten gerannt ist, während ihre Mutter und ich mit den adligen Damen auf der Veranda Tee getrunken haben. Heute ist sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch Amanda hatte diese unverkennbaren schilfgrünen Augen und lange dunkelrote Haare. Genau wie Silayla ist Amanda ihr Leben lang eine schlanke Frau gewesen.
Bei diesen Erinnerungen laufen mir erneut Tränen über das Gesicht. Ich fühle mich so leer und schwerfällig und frage mich, wie es wohl erst der Prinzessin geht. Wie ein Geist steht sie in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid vor der Urne ihrer Mutter. Ihre Haut hat sämtliche Farbe verloren und ihre Gesichtszüge wirken beinahe eingefroren.
Ihr Vater, König Erias, steht wie ein Schatten seiner selbst neben ihr und versucht gefasst zu wirken. Er und Amanda haben sich aufrichtig geliebt und es zerreißt mir das Herz, anzusehen, wie er und Silayla sich jetzt quälen.
Der König ist seiner Frau ein guter Ehemann gewesen, so wie er Silayla ein guter Vater ist. Ich kann den immer stärker werdenden Schmerz in seinen grüngrauen Augen sehen, als er zu seiner Tochter sieht. Um ihr Halt zu geben, legt er eine Hand auf ihre Schulter, aber Silayla zieht sie in Windeseile beiseite und sieht ihren Vater finster an.
Ein Kälteschauer erfasst mich beim Anblick ihrer Bitterkeit. Es schmerzt mich zutiefst, sie so gebrochen, starr auf die Urne blickend, dort stehen zu sehen, doch ich versuche mich zusammenzureißen und stark zu wirken.
Was hat sie nur alles durchmachen müssen?
Schlimmste Gerüchte über die Nacht, in der Amanda starb, sind bis nach Adon vorgedrungen und haben mich zutiefst erschüttert. Bei dem Gedanken daran, was die Angreifer Silayla angetan haben, bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals. Etwas Schlimmeres, als einem geliebten Wandler beim Sterben zusehen zu müssen, gibt es nicht.
Der Priester, den ich bislang nur beiläufig wahrgenommen habe, hält eine kleine Schale mit geweihtem Öl darin in seinen Händen. Vor Amandas Urne hebt er sie in die Höhe. Seine blasse, zerfurchte Haut zeugt von den vielen Lenzen, die er bereits erlebt hat. Seine gut genährte Statur hat er in ein gelb-goldenes Gewand gehüllt, welches mit den typischen schwarzen Rosetten auf Brusthöhe und dem leichten Pelz am Kragen versehen ist. Auch die schwarzen Striche auf seiner Stirn gehören zum gewohnten Erscheinungsbild eines Priesters.
Er schließt seine Augen und eröffnet mit rauer Stimme das Gebet. »Zerios, wahrer Herrscher über ganz Korsua, geleite unsere verstorbene Königin auf ihrem letzten Weg. Schütze und bewache sie.«
»Zu Lobe Zerios«, antworten wir alle gemeinsam. So huldigen wir dem Gott und verstärken die Worte des Priesters.
»Evra«, fährt er fort, »unser aller Amme, geleite unsere verstorbene Königin auf ihrem letzten Weg. Tröste und hüte sie.«
»Zu Lobe Evra«, bringe ich die Worte mit aller Mühe über meine Lippen. Die tiefen Stimmen der Männer übertönen meine gequälte, zitternde Aussprache.
Der Priester taucht seine Fingerspitzen in das Öl und benetzt damit Amandas Urne, die mir bildlich vor Augen hält: Dies ist wirklich ein Abschied für immer. Ich kann es nicht glauben. Kann nicht glauben, dass meine einst liebste Freundin so grausam aus dem Leben gerissen wurde und ich nie wieder die Möglichkeit haben werde, ihr herzliches Wesen oder ihr strahlendes Lächeln zu sehen. Alles, was mir geblieben ist, sind Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten.
Schwer atmend blicke ich auf den weißen Stein, in den ihr Name gemeißelt ist. Ich werde dich so schrecklich vermissen, verabschiede ich mich in Gedanken von Amanda. Die anderen Wandler verlassen bereits nach und nach den Tempel, doch ich stehe noch einen Moment da, halte mir noch einmal das Bild dieser wunderschönen und liebenswerten Wandlerin vor Augen. Eines Tages werden wir uns wiedersehen.
Schwerfällig wende ich mich ab und folge den anderen hinaus in den Garten. Neben dem prachtvollen Steinbau bleibe ich stehen und muss erst einmal tief durchatmen. Vincent und die anderen Adligen laufen zurück in das Schloss, nur mein Mann bleibt neben mir stehen. »Kann ich etwas für dich tun?«, fragt er besorgt, doch ich winke ab.
»Ich glaube nicht.«
Aidens Umrisse verschwimmen, als ich Silayla wahrnehme. Begleitet von zwei Soldaten schlägt sie eine völlig andere Richtung ein. Hin- und hergerissen sehe ich ihr nach. Mein Kopf sagt mir, dass sie jetzt ihre Ruhe braucht. Doch mein Herz sagt: Lass sie wissen, dass du für sie da bist, wenn sie jemanden zum Reden braucht.
»Geh ruhig schon einmal vor«, flüstere ich Aiden zu, ohne ihn anzusehen.
Er folgt meinem Blick und seufzt leise auf. Er weiß genau, was ich vorhabe. Seinem schweren Atmen nach zu urteilen teilt er meine Meinung nicht, will mich jedoch nicht von meinem Vorhaben abhalten. »In Ordnung.« Er streicht mir kurz über die Schulter, bevor er den anderen Wandlern folgt.
Ein letzter tiefer Atemzug und ich laufe langsam mit geradem Rücken und etwas Abstand Silayla und ihren Wachen hinterher. »Prinzessin«, rufe ich, sobald die anderen Gäste außer Sichtweite sind.
Sie bleibt abrupt stehen und dreht sich zu mir um. Ihre eiserne Miene bereitet mir eine Gänsehaut. »Was gibt es?«, fragt sie so kühl, dass mich ein eisiger Schauer überkommt.
Im Prinzip kenne ich sie kaum. Aber die tiefe Freundschaft, die ich einst mit ihrer Mutter pflegte, lässt in mir den Drang aufkommen, ihr helfen zu wollen. »Ich möchte Euch mein aufrichtiges Beileid ausdrücken. Ich weiß, wie schwer so ein Verlust zu verkraften ist.«
Silaylas Augen verformen sich zu Schlitzen, die mich bedrohlich anblitzen....