Kapitel 1, Annabella
Tief atme ich ein und aus, bevor ich nach der Hand meines Vaters greife. Die riesige Holztür zum Thronsaal prangt vor uns, einladend, mit den feinen Schnitzereien, die Abbilder unserer Götter Zerios und Evra darstellen. Ein gut gebauter junger Mann und eine wunderschöne Frau, deren Unterleiber in den muskulösen Körper einer Raubkatze übergehen. Zerios wirkt überaus stark und mächtig, Evra hingegen entspricht dem Sinnbild einer Frau: Eine schlanke Figur mit weiblichen Rundungen, volle Lippen und große strahlende Augen. Mehr als einmal habe ich mir gewünscht, wenigstens ein bisschen ihrer Schönheit abbekommen zu haben. Doch die Götter sind mir in dieser Sache nicht gnädig gewesen.
Liebevoll tätschelt mein Vater meine Hand. »Du siehst hinreißend aus«, sagt er, als könne er meine Gedanken lesen. Vielleicht hat er auch einfach mitbekommen, wie schmachtend ich Evras Abbild betrachtet habe.
»Danke, Vater«, antworte ich leise. Ich bin viel zu aufgeregt, um lauter sprechen zu können. Mein Herz schlägt schnell, erste Schweißperlen rinnen mir den Rücken herab und benetzen mein feines violettes Kleid. Reinste Seide umschmeichelt meinen schlanken Körper und obwohl diese schlicht gehaltene Ausführung mit den wenigen Goldperlen und dem schmalen Schnitt kein Vergleich zu meinem richtigen Brautkleid ist, hat es ein Vermögen gekostet. Ein Vermögen, welches mein Vater nur allzu gern bezahlt hat. Ich kann mich noch sehr gut an seinen stolzen Gesichtsausdruck erinnern, als er den Schneider damit beauftragte, zwei Brautkleider für die zukünftige Königin von Andalier zu nähen.
In den meisten Fällen wird bei einer königlichen Hochzeit nur ein Mantel am Leib getragen und die Zeremonie findet oft im Freien statt. In ganz Korsua müssen der König und die Königin nach dem Ja-Wort gemeinsam zur Jagd aufbrechen. Ein schlichter Mantel und eine Trauung vor dem Wald erweisen sich daher als äußerst vorteilhaft. Karim hat meinem Vater jedoch deutlich zu verstehen gegeben, dass etwas Derartiges für ihn außer Frage steht. Mein Vater hat sich natürlich nicht zweimal sagen lassen, was zu tun ist, und Geld spielt für ihn keine Rolle. Also trage ich nun diesen schlichten Traum und später ein pompöses Kleid, bei dessen Ankleiden mir mindestens zwei Dienstmädchen helfen müssen. Aber das sollte mich im Moment wenig beschäftigen, es gibt etwas anderes, was mir viel mehr Furcht bereitet: die Jagd.
Allein dieses Wort lässt mich erzittern. In meiner Familie gibt es keinen einzigen geschickten Jäger. Verwunderlich ist das nicht. Umso reicher ein Wandler ist, umso mehr lässt er gewisse Dinge von anderen Wandlern erledigen. Unter uns Adligen geht kaum jemand zur Jagd. Auch der König erlegt seine Beute nicht immer selbst. Dafür hat er seine Jäger. Und dennoch müssen Karim und ich nach unserer Hochzeit gemeinsam ein Tier erlegen - umso größer, desto besser. Die Angst davor schnürt mir schon jetzt die Kehle zu, habe ich es bis jetzt doch noch nicht einmal erfolgreich zustande gebracht, ein Kaninchen zu erlegen.
»Bist du bereit?«, fragt mich mein Vater und schenkt mir ein liebevolles Lächeln.
Ich nicke ihm nüchtern zu und blicke an mir herab. »Ob ich dem König gefallen werde?«
»Du siehst wunderschön aus, mein Schatz«, versucht mich mein Vater einmal mehr zu bestärken. Aber welcher Vater würde seiner Tochter die bittere Wahrheit ins Gesicht sagen?
Obwohl ich ihm kein Wort glaube, nicke ich erneut. Karim und ich heiraten gewiss nicht aus Liebe. Wie auch, wir kennen uns schließlich kaum. Ich stehe nur hier, weil meine Familie zu den wohlhabendsten in ganz Andalier gehört. Unzählige Hektar Land nennen wir unser Eigen, auf dem Weintrauben, Äpfel, Birnen und Zitronen angebaut werden. Unsere Leibeigenen verkaufen das Obst auf den Märkten oder verarbeiten es zu sehr kostspieligem Wein.
»Ich bin so stolz auf dich.« Mein Vater strahlt über das ganze Gesicht, was seine prallen Wangen noch mehr zur Geltung bringt. Für meine Hochzeit hat er sich neue dunkelgrüne Gewänder vom besten Schneider der Stadt anfertigen lassen - ebenfalls aus feinster Seide. Meine komplette Familie hat er für dieses Ereignis neu einkleiden lassen.
Schon seit ich denken kann, versucht mein Vater, durch Geld wettzumachen, was ihm an Größe und Präsenz fehlt. Seine Eltern stammen aus dem niederen Adel und er hat jede Stufe seines Erfolges mühsam erklommen. Stück für Stück erweiterte er seine Obstplantage und trieb den Handel voran. Der dafür verdiente Respekt bleibt jedoch aus. Die anderen Adligen sagen ihm zwar nie etwas Abfälliges ins Gesicht, aber sobald er ihnen den Rücken zukehrt, haben sie nichts als Spott für ihn übrig. Mit seinem fülligen Bauch und der geringen Körpergröße ist mein Vater nie ein Frauenschwarm gewesen. Dafür sind er und meine Mutter die liebenswertesten Wandler, die ich kenne.
»Du wirst eine wunderbare Königin sein«, fügt er voller Freude hinzu.
»Das hoffe ich.« Und ich bete dafür, meine Ehe möge keine trostlose Einöde werden.
Mit einem dezenten Knarren öffnet sich die Tür und mein Herz macht einen Satz, als sich der pompöse und säulenbedeckte Saal vor uns erstreckt. Auf dem grauen Steinboden ist ein purpurfarbener Teppich ausgerollt und überall im Raum stehen bunte Vasen mit frischen Blumen darin. Von den Decken hängen zahlreiche Kronleuchter herab, in denen hunderte von Kerzen entzündet wurden. Die adligen Gäste schimmern und glänzen in ihren schönsten Kleidern und bilden ein breites Spalier, das direkt zu den Thronen führt, vor denen Karim auf uns wartet.
Gefesselt von dem Anblick und durch das Rauschen meines Blutes bin ich unfähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater. Erhobenen Hauptes macht er einen Schritt nach vorn und zieht mich mit sich. Während er vor Freude gleich zu platzen scheint, schnürt sich das Band um meinen Hals immer fester zu. Karim ist nicht als Mann bekannt, der Frauen treu umsorgt oder Sinn für Romantik hat. Das einzige, was ihn im Leben anzutreiben scheint, ist der Durst sein Reich zu vergrößern. Nur wegen des verlorenen Krieges gegen Ferlen hat er überhaupt nach einer Ehefrau gesucht. Mein Vater hat mir geraten, nicht öffentlich darüber zu sprechen, aber König Karim benötigt dringend Geld. Etwas, das meine Familie zur Genüge hat.
Langsam schreitet mein Vater voran, kostet den Moment dabei voll aus. Seine runde Nase streckt er leicht in die Höhe und sein Blick schweift immer wieder nach rechts und links zu den Adligen. Seine Mimik schreit dabei geradezu: Seht her, das ist meine Tochter und sie wird Königin. Ich bin der Vater der Königin!
Die Adligen reagieren mit trotzigem und missgünstigem Kopfschütteln oder sehen woanders hin. Doch die Stimmung meines Vaters trübt sich dadurch nicht im Geringsten.
Für mich fühlt sich der Gang quälend langsam an und es verlangt mir einiges ab, den Blick nach vorn gerichtet zu halten. Das Bild, welches mich erwartet, macht es mir nicht gerade leichter. König Karim steht in feine dunkle Gewänder gehüllt vor den Thronen. Seine polierten schwarzen Stiefel glänzen, der Bart ist akkurat gestutzt und in seinem kurzen braunen, ordentlich nach hinten gekämmtem Haar steckt eine diamantenbesetzte Goldkrone. Seine Hände hält er hinter dem Rücken und er macht einen sehr angespannten Eindruck. Für einen kurzen Moment rümpft er sogar die Nase.
Ich schlucke schwer. Gewiss entspreche ich nicht dem Schönheitsideal. Mein Spiegel verrät mir das jeden Tag. Auch mit meinen sechzehn Jahren habe ich noch die vollen Wangen aus Kindertagen und mein Gesicht ist sehr rundlich. Mein Körper weigert sich, fraulich zu werden, und mein Busen will einfach nicht wachsen. Das Einzige, was mir wirklich an mir gefällt, sind meine langen blonden Haare, die von Natur aus gelockt sind. Die Anhänger der goldfarbenen Schmuckkette auf meinem Kopf mussten verlängert werden, damit sie genau wie mein Haar bis zum Bauchnabel reichen. Was für eine Verschwendung von Geld, bedenkt man, für wie wenige Augenblicke ich diese Kette tragen werde.
Der König mustert mich argwöhnisch und muss keine fünf Sekunden gebraucht haben, um zu bemerken, dass ich so gar nicht seinen Erwartungen entspreche. Dennoch wird er die Hochzeit nicht platzen lassen. Dafür ist er viel zu sehr auf das Geld angewiesen, welches ihm unsere Ehe einbringen wird.
Die letzten Meter trennen mich von meinem Bräutigam, der doppelt so alt ist wie ich und sich nicht einmal zu einem kurzen Lächeln durchringen kann. Allein das würde mir schon dabei helfen, mich nicht mehr ganz so unwohl in meiner Haut zu fühlen. Aber die hochgezogenen Brauen und die völlig unterkühlte Mimik lassen mich innerlich verkrampfen.
Ich erlaube mir einen kurzen Blick zur Seite, nur um für einen Moment diesen braunen Augen zu entfliehen, die mich ganz und gar nicht wie eine stolze Braut fühlen lassen. Aber in den Gesichtern der Gäste finde ich auch keinen Zuspruch. Nur Neid und Übelwollen. Die Pumas, Tiger und alle anderen Rassen um mich herum haben für eine Heirat überhaupt nicht zur Diskussion gestanden. Die zukünftige Königin musste eine lange reinrassige Löwenblutlinie vorweisen können. So wie ich.
Ich will gerade wieder den Blick nach vorn richten, da entdecke ich meine Mutter. Gemeinsam mit meinen drei jüngeren Schwestern steht sie in der vordersten Reihe auf der rechten Seite. Von Glück erfüllt, presst sie ihre Hände gegen die Brust und stößt einen Seufzer aus. Ich höre ihn nicht, aber ich sehe, wie sich ihre Lippen bewegen. Sie sind voll und zartrosa, genau wie die Diamanten um ihren Hals. Auch nach der Geburt von vier Kindern besitzt sie eine zauberhafte Figur, die...