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Im Februar 2023 war ich zu einer Hochzeit in Karachi eingeladen, der Millionenmetropole im Süden Pakistans. Der Garten war größer als ein Sportplatz, voller geschmückter Zelte, es gab Berge von hervorragendem Essen, und auf der Bühne spielte Rahat Fateh Ali Khan, einer der berühmtesten Sänger des Landes. Exquisit gekleidete Menschen tanzten und sangen. Dieser Abend war nur einer von mehreren. Die tatsächliche Hochzeit werde noch pompöser, erfuhr ich. Jemand reichte mir Orangensaft und fragte: "Would you like some water with your juice?" Ich war durstig und dankbar für den Vorschlag. Beim ersten großen Schluck merkte ich erst, dass ich zwar "water" verstanden, das Angebot allerdings offenbar "wodka" gelautet hatte. In der Islamischen Republik Pakistan ist Alkohol eigentlich verboten. Doch wer Geld hat, braucht sich nicht an Regeln zu halten. Mehr noch: Wer viel Geld hat, ändert die Regeln. Auf der anderen Seite der Mauer, hinter dem Stacheldraht, waren Straßen gesperrt, private Sicherheitskräfte und die Polizei bewachten uns, und die teuren, großen Autos vor dem Anwesen sorgten für Abstand zwischen jenen, die nichts haben, und jenen, die so viel haben, dass sie nicht wissen, wohin damit. Rund eine Million Menschen haben in Karachi nicht einmal Zugang zu sauberem Wasser. Das für uns Selbstverständlichste ist hier Luxus.
Keine halbe Stunde von der opulenten Feier entfernt liegt Lyari, der älteste Stadtteil Karachis, auch "die Mutter Karachis" genannt. Die Gassen sind so eng, dass man auch mit kleinen Autos nicht weit kommt. Wasser gelangt hierher nur mit Eselwagen in Kanistern. Denn aus den Leitungen fließt keines. Die Wassermafia zweigt die wenigen Ressourcen, die es gibt, von den Hauptleitungen ab und verkauft sie, je nach Qualität, jedenfalls zu hohen Preisen. Das günstigste Wasser ist nicht genießbar, es macht krank. Die Menschen wissen das, doch es bleibt ihnen keine andere Wahl, als es zu trinken und ihren Kindern zu trinken zu geben. Sauberes ist für sie unerschwinglich. In Pakistan sind wenige Familien reich und mächtig, während Millionen Menschen mittellos sind.
Diese krasse Form von Ungleichheit kann sich niemand wünschen. Ohne funktionierendes Rechtssystem und intakten Sozialstaat braucht es auch mehr Geld für die Reichen: mehr Sicherheitspersonal, mehr Zäune, um sich und sein Vermögen zu schützen. In Pakistan reich zu sein, bedeutet nicht dasselbe wie reich zu sein in Deutschland. Es bedeutet wenig Bewegungsfreiheit. Ohne Sozialstaat wird es gefährlicher, wird es mehr Verbrechen und Gewalt geben. Die Kosten für Sicherheit, körperliche Unversehrtheit und Schutz des Privateigentums steigen ohne Sozialstaat. Der Staat bräuchte mehr Geld, um Kontrolle auszuüben. Hat er aber nicht, also gibt es mehr Kriminalität. Deshalb müssen sich jene, die mehr haben, schützen. So gibt es mehr Bedarf an Sicherheitsdiensten und "gated communities", also bewachten Wohnanlagen. Sozialversicherungen sind nicht zufällig in Zeiten großer Ungleichheit entstanden, weil die Gefahr größer wurde, dass jene, die nichts haben, jenen, die viel haben, etwas wegnehmen könnten. Denn wer zu wenig hat, um zu überleben, wird sehr wahrscheinlich bereit sein, Gewalt anzuwenden, um zu überleben.
Ungleichheit innerhalb eines Landes kann problematisch sein, aber ebenso kann Ungleichheit zwischen Ländern zum Problem werden. Wenn die Unterschiede sehr krass werden und die Menschen diese auch wahrnehmen, ist der Antrieb, das eigene, schlechter gestellte Land zu verlassen, groß. Das führt auch zu einem Brain Drain, also einer Abwanderung von Humankapital, und schädigt ohnehin bereits arme Länder noch mehr. Und es gibt viele andere Gründe, warum Ungleichheit global Probleme macht, nicht nur, wenn Menschen ihr Zuhause verlassen. Neben ethischen Aspekten, wenn in mehr oder minder fernen Ländern Menschen in Armut leben und unsere Billigprodukte herstellen, ist sie auch eine Verschwendung von Talent; sie erzeugt umweltpolitische Probleme und globale wirtschaftliche Instabilität. Globale Ungleichheit destabilisiert internationale Beziehungen und hat negative Auswirkungen auf Innovation und Fortschritt wegen der unterschiedlichen Ressourcenausstattung. Ungleichheit verstärkt außerdem globale Gesundheitskrisen, wie die Covid-19-Pandemie bewiesen hat, außerdem fördert sie Korruption und schwache Institutionen. Globale Ungleichheit begrenzt globale Nachfrage und erschwert die Erreichung globaler Nachhaltigkeitsziele.
Ungleichheit ist nicht festgeschrieben, sondern beweglich. In den 1960er-Jahren begann der Ökonom Sir Anthony Atkinson, sich mit Einkommensdaten, Ungleichheit und Armut zu befassen, speziell mit Kinderarmut. Fünfzig Jahre später musste der Doyen der Ungleichheitsforschung feststellen, dass Kinderarmut in Großbritannien mehr geworden war und dass sie Teil eines größeren Problems ist, nämlich zunehmender Ungleichheit. "Kinder wachsen in Armut auf, weil ihre Mütter und Väter keinen existenzsichernden Lohn verdienen oder keine Arbeit finden können."1
Auch wenn es oft nicht so scheint: Im Großen und Ganzen wird sehr vieles sehr viel besser. In den vergangenen dreihundert Jahren haben sich die Lebensumstände weltweit auf beeindruckende Weise grundlegend zum Positiven gewandelt. Selbst der reichste und wohlhabendste König aus früheren Zeiten würde wohl gerne mit der Lebensqualität der meisten Menschen im heutigen Amerika oder Europa tauschen, wenn er könnte. Heute leben die meisten Menschen in den Industrieländern in robusten Wohnungen, in denen die Temperatur das ganze Jahr über reguliert werden kann, sie besitzen Waschmaschinen und viele Annehmlichkeiten mehr. Ganz zu schweigen von moderner Medizin oder unserem grenzenlosen Zugang zu Informationen. Das extreme Tempo der technischen Innovation in den vergangenen drei Jahrhunderten, in denen der Kapitalismus durchgestartet ist und sowohl das Wirtschaftswachstum als auch die Weltbevölkerung geradezu explodiert sind, hat dazu geführt, dass sich die Lebensqualität in fast allen Bereichen für alle massiv verändert hat.
"Allen wird es morgen besser gehen", lautet das Wachstumsversprechen des Kapitalismus. Und solange der Kuchen für alle größer wird, ist auch alles gut. Doch was, wenn es zu wenig Wachstum gibt? Dann kann es nicht allen besser gehen und es kommt eher zu Verteilungskämpfen. Verteilungskämpfe können in vielfältiger Form auftreten: von tariflichen Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern bis hin zu politischen Auseinandersetzungen über Steuer- und Sozialpolitik, die den Zugang zu begrenzten Ressourcen regeln sollen. Verteilungskämpfe sind also nicht zwangsläufig gewalttätig, sondern spiegeln oft den Versuch wider, bestehende Macht- und Verteilungsverhältnisse friedlich neu auszuhandeln.
Oft wissen wir, wo das Problem bei einer Sache liegt und sogar, wie es gelöst werden könnte. Und dennoch passiert es nicht. Das ist wirtschaftlich gesehen nicht nur in Pakistan so, das ist ein weltweites Phänomen. Beispielsweise wäre es besser, wir würden Dinge wie Autos und Waschmaschinen mieten oder teilen, anstatt sie zu kaufen und zu besitzen. Das Mieten von Geräten könnte nicht nur aufgrund effizienterer Nutzung Ressourcen schonen, sondern auch eine längere Lebensdauer durch professionelle Wartung und Reparatur fördern, anstatt sie bei Defekten frühzeitig zu entsorgen.
Die Idee der Sharing Economy gibt es seit Jahrzehnten, praktiziert wird sie allerdings bloß in sehr geringem Umfang. Den Grund kennen wir alle: Wir denken an heute, nicht an morgen. Wir neigen dazu, kurzfristige Vorteile unverhältnismäßig höher zu schätzen als langfristige. In der Ökonomie nennt sich das Konzept zu diesem Verhalten "hyperbolische Diskontierung". Diskontierung bedeutet, dass Dinge in der Zukunft als weniger wertvoll empfunden werden, und statt hyperbolisch könnte man "stark übertrieben" sagen. Vereinfacht gesprochen: Wenn wir die Wahl haben, einen Apfel jetzt zu bekommen oder zwei Äpfel später, also sagen wir, bis nächste Woche müssten wir warten, fällt die Entscheidung oft zugunsten der raschen Gratifikation aus. Aus ökonomischer Sicht ist die schnelle Befriedigung jedoch mitunter die schlechtere Entscheidung.
Viele Dinge, die ökonomisch Sinn ergeben und gut wären, geschehen nicht - vor allem, wenn es um längerfristige Angelegenheiten geht. Denken wir an frühkindliche Betreuung und Bildung, an den Gesundheitsbereich, an Umweltverschmutzung oder an die Vorbereitung auf seltene Katastrophen wie etwa Pandemien. Unternehmen achten auf ihre Gewinne, und Politiker:innen aller Parteien haben stets die nächste Wahl im Blick. Je weiter die...
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