II. Allgemeine Stilistik.
Inhaltsverzeichnis A. Die Eigenschaften des guten Stiles im allgemeinen.
Inhaltsverzeichnis 5. Der oberste Grundsatz des guten Stiles.
Der oberste Grundsatz des guten Stiles, aus dem sich alle übrigen Eigenschaften ergeben, ist die vollkommene Übereinstimmung des Ausdruckes mit der Sache. Sofern eine solche Übereinstimmung in dem Hörer oder Leser volles Wohlgefallen und das Gefühl des Befriedigtseins erweckt, kann man sie auch kurz als die wahre Schönheit der Darstellung bezeichnen. Um diese zu erreichen, muß der Stil folgende Eigenschaften haben: 1. Deutlichkeit, 2. Sprachrichtigkeit, 3. Sprachreinheit, 4. Bestimmtheit und Kürze des Ausdruckes, 5. Angemessenheit, 6. Wohllaut und Neuheit des Ausdruckes, 7. Anschaulichkeit und Lebendigkeit, 8. Natürlichkeit. Je nach der Stilgattung wird natürlich bald die eine, bald die andere Eigenschaft überwiegen; eine belehrende Abhandlung z.B. wird vor allem nach Deutlichkeit und Klarheit, eine fesselnde Schilderung nach Anschaulichkeit und Lebendigkeit zu streben haben usw., aber wenn auch eine Eigenschaft in den Vordergrund tritt, so dürfen deshalb die anderen nicht fehlen.
Anmerkung. Die älteren Stilistiker stellten die Zweckmäßigkeit als das oberste Gesetz des guten Stiles auf. Diesen Irrtum gründlich widerlegt und hoffentlich für immer aus der Wissenschaft des Stiles entfernt zu haben ist das Verdienst Beckers (Der deutsche Stil, 3. Aufl. S. 5 flg. 12 flg. 60 flg.).
6. Deutlichkeit.
Die erste Forderung, die an eine sprachliche Darstellung gestellt werden muß, ist die der Deutlichkeit. Wenn jemand über einen Gegenstand spricht oder schreibt, so muß in der ganzen Darstellung überall zutage treten, daß der Sprechende oder Schreibende den Gegenstand bis ins kleinste mit seinem Verstande beherrscht, und ferner muß die Darstellung so beschaffen sein, daß durch sie auch der Hörende oder Lesende den dargestellten Gegenstand mit seinem Verstande vollkommen zu erfassen vermag. Eine solche Darstellung nennt man deutlich. Die Deutlichkeit verlangt daher, daß der Darstellende den Gegenstand, ehe er über ihn spricht oder schreibt, rein und scharf aufgefaßt, nach allen Seiten hin durchdacht und eine der Wahrheit und Wirklichkeit völlig entsprechende Anschauung über ihn gewonnen habe. "Die größte Deutlichkeit war mir immer die größte Schönheit", sagt Lessing. Der Deutlichkeit dienen außerdem hauptsächlich die drei folgenden Eigenschaften des guten Stiles: die Sprachrichtigkeit, die Sprachreinheit, die Bestimmtheit und Kürze des Ausdruckes.
7. Sprachrichtigkeit.
Die Sprachrichtigkeit oder Korrektheit besteht darin, daß die Darstellung nicht gegen die Gesetze der Wortbildung und Wortbiegung, sowie der Satzbildung und Satzfügung verstößt. Diese Gesetze stellt die Grammatik dar, und man kann daher kurz sagen: die Sprachrichtigkeit beruht auf der sorgfältigen Befolgung der grammatischen Regeln.
Anmerkung. Einen Verstoß gegen die Sprachrichtigkeit nannten die Alten Solözismus (von Soli, einer Stadt in Cilicien, deren Bewohner ein sehr fehlerhaftes Griechisch sprachen), einen Verstoß gegen die Sprachreinheit dagegen Barbarismus.
8. Sprachreinheit.
Die Sprachreinheit bezieht sich auf die Wahl der Worte. Sie fordert, daß der Schreibende nur solche Worte und Redewendungen gebrauche, die der deutschen Sprache eigentümlich, seinem Zeitalter nicht unverständlich und in den gebildeten Kreisen unseres Volkes üblich sind. Gegen die Reinheit des Ausdruckes verstößt daher derjenige, der in seine Darstellung a) Fremdwörter und fremde Redewendungen, b) veraltete Wörter (den Gebrauch solcher Wörter nennt man Archaismus), c) landschaftliche Ausdrücke (die Verwendung derselben in der Schriftsprache heißt Provinzialismus), d) willkürliche und dem Geiste unserer Sprache widerstrebende Neubildungen (Neologismen) einmischt.
a) Fremdwörter und fremde Redewendungen. Die Forderung, die Fremdwörter zu meiden, ist nicht so zu verstehen, als ob alle Fremdwörter ohne Ausnahme aus Rede und Schrift verbannt werden müßten, vielmehr ist hier mit großer Sorgfalt zu scheiden zwischen entbehrlichen und unentbehrlichen Fremdwörtern. Im allgemeinen läßt sich als Regel feststellen, daß Fremdwörter niemals da gebraucht werden dürfen, wo uns ein gleichbedeutendes und schön gebildetes deutsches Wort als Ersatz zu Gebote steht. Vor allem muß man zunächst scheiden zwischen Fremdwörtern und Lehnwörtern. Unter Lehnwörtern versteht man solche Wörter, die bereits in einer früheren Periode in unsere deutsche Sprache aufgenommen worden sind und völlig deutsche Form angenommen haben, z.B. Anker (lat. ancora), Brief (lat. breve), predigen (lat. praedicare), Pforte (lat. porta), Regel (lat. regula), Schule (lat. schola), Spiegel (lat. speculum), Tafel (lat. tabula), Ziegel (lat. tegula) u.a. Diese Wörter werden von uns gar nicht mehr als Fremdwörter empfunden, und es wäre lächerlich, auch diese durch rein deutsche Ausdrücke wiedergeben zu wollen, wie es Philipp von Zesen u.a. getan haben, die Person durch Selbstand, Fenster durch Tageleuchter, ja sogar das Wort Nase, das gar kein Lehnwort, sondern wie andere Benennungen von Teilen des Körpers, z.B. Herz, Fuß, Ohr, Zahn, urverwandt mit der griech.-lat. Bezeichnung ist, durch Löschhorn usw. übersetzten. Aber auch von den eigentlichen Fremdwörtern, d.h. von denjenigen, die wir wirklich als solche empfinden, erweisen sich viele als unentbehrlich, und wer diese durch selbstgemachte Verdeutschungen ersetzen wollte, der würde in Gefahr kommen, seinen Hörern und Lesern unverständlich zu werden. Die meisten dieser Wörter sind technische Ausdrücke der Wissenschaften und Künste. Neben diesen unentbehrlichen Fremdwörtern ist aber leider in unsere deutsche Sprache eine ganz außerordentlich große Zahl völlig entbehrlicher Fremdwörter eingedrungen, und diese sind es, welche die Reinheit und Schönheit unserer Sprache so schwer schädigen. Mit größter Strenge fordert die Reinheit des Ausdruckes, daß diese Fremdwörter, für die genau zutreffende, oft weit bessere einheimische Ausdrücke sich darbieten, in allen Stilgattungen vermieden werden, und der Gebrauch eines solchen Fremdwortes sollte billig als ein ebenso arger Verstoß gegen den guten Stil gelten wie der Gebrauch eines falschen Kasus oder einer falschen Verbalform. Denn die lexikalische Seite unserer Sprache verlangt dieselbe Berücksichtigung wie die grammatische Seite. Meist leidet durch die Fremdwörter auch der Wohlklang der Rede, die vielen Wörter auf -tät und -ieren z.B. sind fast ausnahmslos unschön, und ihr Klang beleidigt das Ohr (z.B. Authentizität, Reziprozität, Kredulität, Probabilität, Monstrosität, Intelligibilität, Idealität, Souveränität, Spezialität, identifizieren, rehabilitieren, inventarisieren, rekonstruieren, spezifizieren, spezialisieren, stigmatisieren, sympathisieren, usw.). Das deutsche Wort hat gewöhnlich edleren und höheren Klang als das Fremdwort, man vergleiche z.B. Mut und Courage, Unglück und Malheur, Gnade und Pardon, Vergnügen und Pläsier, edle Leidenschaften und noble Passionen, dunkel und obskur, Geschenk und Präsent, unsicher und prekär, gewinnen und profitieren usw. Durch die Einmischung von Fremdwörtern wird daher der Ausdruck leicht unedel und niedrig.
Gute Verdeutschungen sind: Beförderung (Avancement), Widerstreit (Antagonismus), Dienstalter (Anciennität), Ruhegehalt (Pension), Verwaltung (Administration), Anzeige (Annonce), Zerrbild (Karikatur), Versteigerung (Auktion), Einleitung (Exordium), Feldzug (Kampagne), Mehrheit (Majorität), Minderheit (Minorität), Antrieb (Impuls), Naturtrieb (Instinkt), Eilbote (Kurier), Zeitungsschriftsteller (Journalist), Streitschrift (Pamphlet), Duldsamkeit (Toleranz), Spaziergang (Promenade), Reifeprüfung (Maturitätsexamen), folgetreu (konsequent), zuständig (kompetent), rechtmäßig (legitim), amtlich (offiziell), lautlich (phonetisch), geeignet (qualifiziert), reißend schnell (rapid), festsetzen (stipulieren), Vertauschung (quid pro quo) u.v.a.[2]
Ebenso wie die Fremdwörter sind fremde, aus anderen Sprachen herübergenommene Wendungen und undeutsche Übertragungen fremder Ausdrücke zu meiden. Durch solche undeutsche Wendungen wird die Reinheit des Stiles in hohem Grade verletzt. Die meisten derselben entstammen der französischen (Gallizismen) und der lateinischen Sprache (Latinismen). Ein Gallizismus ist z.B. die Wendung: "gegenüber von dieser Meinung" (vis-à-vis de...) statt: "dieser Meinung gegenüber"; ferner der Gebrauch des hinweisenden Fürworts jener statt des dem Französischen fehlenden der in Sätzen wie: "Die kühne Tat des Horatius Cocles und jene...