Schweitzer Fachinformationen
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Die Pferdetramway ruckelte auf den Holzschienen der Ringstraße entlang, kutschierte vorbei am neu erbauten Fundament des Burgtheaters, dessen Mauern nur zögerlich emporwuchsen, und vorbei am Volksgarten, der mit seinen prächtigen Baumalleen zu einem ausgedehnten Spaziergang einlud. Das Hufgeklapper wirkte beinahe einschläfernd, während Wien an mir vorüberzog. Ein Herr neben mir räusperte sich lautstark und gab mir mit hochgezogenen Augenbrauen zu verstehen, dass er meine bequeme Haltung nicht befürwortete. Wenig damenhaft, wie Mutter oder mein Kindermädchen dem Herrn beigepflichtet hätten. Doch Mutter war nicht hier und konnte sich nicht über meine von mir gestreckten Beine mokieren. Und Eugenie, mein verschrobenes Kindermädchen, hatte Vater aufgrund unseres finanziellen Engpasses entlassen. Nun war nur noch Martha, unser Hausmädchen, geblieben, und die hatte weiß Gott keine Zeit, um mich bei meinen Ausflügen zu begleiten. So eine kleine Geldnot hatte demnach auch ihre Vorteile. Endlich durfte ich das Haus allein verlassen, ohne Eugenie, die nach ein paar Schritten ihren schmerzenden Rücken durchdrücken musste und ständig zeterte, weil ich junges Ding viel zu umtriebig war.
Ohne auf die fordernden Blicke meines Sitznachbarn zu reagieren, richtete ich den Blick wieder nach draußen. Ein Herr lüftete seinen Zylinder zum Gruß, eine Dame fasste ihr Kind an der Hand und zerrte es hastig über die Straße, ein Einspänner wirbelte mit seinen Rädern Staub auf, ein junger Mann bog mit seinem Fahrrad wackelig in eine Seitenstraße ab.
Wien lebte, war emsig und geschäftstüchtig. Und ich? Ich konnte es kaum erwarten, an der nächsten Haltestelle auszusteigen.
Es war jeden Morgen derselbe Weg, den es zu meistern galt: Über den weitläufigen Heldenplatz, auf dem zu dieser Tageszeit reges Treiben herrschte. Vorbei an der lang gezogenen Hofburg mit dem Reiterdenkmal des Prinzen Eugen, der wie immer griesgrämig in die Welt blickte. Und dann, wenige Schritte weiter, stand ich vor der Hofreitschule und konnte ihn förmlich riechen, den Geruch der Pferde, der Ledersättel und der Zaumzeuge. Wie ein magisches Elixier leitete der Geruch mich durch den Eingang, vorbei an den übermenschlich großen Statuen aus hellem Marmor und durch den mächtigen Rundbogen mit dem verschnörkelten schmiedeeisernen Tor.
Bestimmt würde die Morgenarbeit in wenigen Minuten beginnen, und ich war spät dran, aber die Tortur des Ankleidens hatte wie immer mehr Zeit beansprucht, als mir lieb war: die Schnürung des Korsetts, die Martha mir so eng zurrte, bis mir die Luft wegblieb und die Fischbeine sich in meine Lenden bohrten. Die unzähligen Röcke, in die es sich hineinzuquälen galt, und das Haar, das akkurat hochgesteckt werden musste, um mit einem unnützen Hütchen gekrönt zu werden. Natürlich etwas zartes Rouge auf die Wangen, die Augenbrauen in Form gebracht und Handschuhe aus feinem Rehleder übergezogen. Martha hatte mir noch den mit Spitze bezogenen Schirm in die Hand gedrückt, der meine Haut vor Sonnenstrahlen schützen sollte - und den ich nie benutzte, weil ich es bevorzugte, mein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegenzurecken. Martha wusste das, dennoch würde sie es nie verabsäumen, mich wie eine feine Dame auszustaffieren, bevor sie mich aus dem Haus entließ. Und ich ließ es wortlos über mich ergehen, denn schließlich befolgte das Dienstmädchen nur Mutters Anweisungen. Mutter, die darauf hoffte, aus mir eine Dame zu formen, die sie ohne peinliche Zwischenfälle in die feine Gesellschaft einführen konnte.
»Da bist ja, mein Madl!« Hinter Vaters buschigem Schnurrbart zeichnete sich ein Lächeln ab, das selbst seine grauen Augen zum Strahlen brachte. »Die Morgenarbeit beginnt in wenigen Minuten, also beeil dich!« Er schnalzte mit der Zunge und zog die ergrauten Augenbrauen hoch.
»In wenigen Minuten? Dann solltest du dich wohl selbst beeilen, nicht wahr, Papa?«, erwiderte ich und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Ich warte auf Marjan, aber der scheint ebenso zum Trödeln zu neigen wie du.« Er hielt in der Stallgasse Ausschau nach seinem Stallknecht und klatschte schallend laut in die Hände.
»Er wird schon kommen«, sagte ich, um seine Ungeduld zu besänftigen und zu verhindern, dass er Marjan grundlos maßregelte. Mein Vater bekleidete seit Jahren das Amt des ersten Oberbereiters in der Spanischen Hofreitschule und wurde als solcher geachtet, respektiert und in manchen Augenblicken wohl auch gefürchtet, wenn er zum Beispiel in der Sattelkammer penibel die Sauberkeit der Trensen oder den Hochglanz der Reitstiefel prüfte. Er behielt stets den Überblick, erkannte, wenn ein Hengst zu hart beritten worden war und ein paar Tage Pause benötigte - oder einen erfrischenden Galopp durch den Volksgarten.
Er erwartete von seinen Bereitern, dass sie sich verausgabten und das Beste aus sich und ihren Hengsten herausholten; schließlich fühlte er sich dafür verantwortlich, das Kaiserpaar und seine Gäste gut zu unterhalten, um im besten Fall mit einem wohlwollenden Lächeln der Hoheiten belohnt zu werden.
»Komme schon, Herr Oberbereiter Böhm!« Marjan, der Stallknecht, der erst vor ein paar Jahren seine Heimat Slowenien verlassen hatte, um hier in der Hofreitschule zu arbeiten, nickte mir schüchtern lächelnd zu. Sein Blick fühlte sich an wie eine zarte Berührung, die meine Wangen aufgeregt prickeln ließ. Reumütig blickte er zu meinem Vater, wissend, dass der es nicht leiden konnte, wenn man mich ansah wie eine Dame, eine Frau, eine Erwachsene. Für ihn sollte ich das kleine Mädchen bleiben, dessen weibliche Rundungen nicht durch die Schnürung des Korsetts hervorgehoben wurden und deren volle Lippen nicht die Blicke der Männer auf sich zogen.
Wie gern wäre auch ich dieses Mädchen geblieben, das sich nicht zu kümmern hatte um gesellschaftliche Regeln, das wild sein konnte und auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes von seiner Freiheit träumte. Eine Freiheit, die es nicht gab. Nicht für das weibliche Geschlecht. Wir Frauen mussten uns anpassen, unterordnen, zustimmen oder schweigend nicken. Wir Frauen waren Zierrat, aufgeputzt, um der Welt zu zeigen, welch teuren Schmuck man sich für die Gattin oder die Tochter zu leisten vermochte. Perlenbesetzte Ohrringe, Broschen aus Elfenbein, Kleider aus teurer Seide und obendrauf ein mit Pfauenfedern verziertes Hütchen. Von Frauen wurde erwartet, dass sie sich stillschweigend den Wünschen der Männer unterordneten, sich in Verzicht übten und dennoch ein gütiges Lächeln auf den Lippen trugen.
Marjan führte Vaters weißen Lipizzanerhengst am Zügel. Gidrane blähte die Nüstern und brummelte sanft zur Begrüßung. Die spitzen Ohren des Pferdes waren aufmerksam auf meinen Vater gerichtet, den Blick wach und den Kopf hoch getragen, tänzelte er förmlich an mir vorbei in die Reithalle, deren Sand vor dem Morgentraining der Bereiter frisch geharkt worden war.
Vater schwang sich in den Sattel, griff in den Zügel, stieg in die Steigbügel, straffte die Schultern und drückte den Rücken durch. Dann griff er nach der Gerte, die Marjan ihm reichte, und trieb Gidrane in die Halle.
»Geht es Ihnen gut, Fräulein Böhm?«, fragte Marjan leise, nachdem Vater sich bei den anderen Bereitern eingereiht hatte.
Ohne zu antworten, blickte ich ihn an und suchte in seinem klaren Blick nach meinem Spiegelbild. Lange Wimpern zierten seine Augen, deren Farbenspiel ein Repertoire an Grüntönen bot. Sein Blick wirkte temperamentvoll, doch ich wusste es besser: Marjan war ein ernster Mensch, neigte zur Zurückgezogenheit und Stille. Stets war er getrieben von der Sorge, meinen Vater oder die anderen Bereiter nicht zufriedenzustellen. Und doch war er der beste Stallknecht, der je für meinen Vater gearbeitet hatte. Stets war Marjan der Erste, der morgens den Stall betrat, und abends verließ er ihn erst, wenn alle Pferde versorgt waren und zufrieden an ihrem frischen Heu malmten.
»Danke, es geht mir gut«, antwortete ich und stellte fest, dass es der Wahrheit entsprach. Hier in der Hofreitschule fühlte ich mich wohl, blühte ich auf, hier erschien die Welt sofort klarer, alle Sorgen in die Ferne entrückt. Hier vergaß ich Mutters Drängen nach einer pläsierlichen Handarbeit, wie sie es gern nannte, wenn sie mich zu einer Blumenstickerei nötigte, die in mir den Wunsch wachrief, das Stück Stoff in die lodernden Flammen im Kamin zu schleudern. Hier gab es nur die Pferde, ihre schwungvollen Bewegungen und ihre kraftvolle Leichtigkeit, die mich gedanklich in weite Ferne trugen.
»Ich muss hoch, wenn ich den Bereitern zusehen will«, sagte ich und wandte mich mit einem leichten Knicks von Marjan ab. Mit einem Griff nach meinen schweren Röcken machte ich mich auf den Weg, hoch zu den Tribünen, wo das Licht der Frühlingssonne durch die großzügig angelegten Fenster wärmte. Den Kopf in den Nacken gelegt, blickte ich hoch zu den Säulen und Pfeilern, welche die Halle gliederten und die Zuschauergalerie zierten, und zur Kastendecke mit den prachtvollen Blüten aus Stuck und den kristallenen Kronleuchtern, deren üppiges Kerzenlicht die Reitschule abends in warmes Licht tauchte.
»Schau nicht so verbissen!«
Dieser Satz ließ mich hellhörig zu den Reitern nach unten starren. Die Zweispitze auf den Köpfen erschwerten den Blick in die Gesichter. Natürlich kannte ich sie alle, doch eines schien mir an diesem Tag völlig fremd. Kantige, schmale Züge, hohe Wangenknochen und dunkles Haar, das unter der Kopfbedeckung hervorlugte, die Haltung so aufrecht, als wollte er alle anderen überragen.
Hatte Vater nicht vom neuen Oberstallmeister erzählt,...
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