1. KAPITEL
Endlich Sonne! Dr. Hailey Easton hatte genug von der Kälte und war nach Florida gezogen, um die eisigen Winter in Ohio, ihr Leben dort und ihre toxische Beziehung hinter sich zu lassen. Hier in Venice wartete warmes Wetter auf sie und ein Neuanfang. Was sie jedoch nicht erwartet hatte: dass sie Dr. Cayden Wilton begegnen würde.
Als sie ihn auf dem Krankenhausflur sah, reagierte ihr Körper sofort. Und zwar so intensiv, dass es sie selbst verblüffte - insbesondere nach den letzten zehn Jahren, in denen sie nach und nach den Glauben an die Männer verloren hatte.
Manchmal hatte das Leben noch Überraschungen zu bieten. Oft waren das keine guten, aber vielleicht würde sich das hier in Florida ändern.
Sie selbst hatte sich jedenfalls schon vorher verändert - von Kopf bis Fuß hatte sie sich selbst ein Umstyling gegönnt, und die äußerlichen Veränderungen machten sich auch innerlich bemerkbar: Sie fühlte sich leichter und freier und wollte die Vergangenheit endgültig hinter sich lassen.
Ihr neues Leben sollte von der freundlichen Floridasonne beschienen werden, die ihr Selbstbewusstsein stärken würde. John hatte sie immer glauben lassen, dass sie nicht mehr verdiente als das, was er ihr gab, und nachdem sie es so lang in dieser Beziehung ausgehalten hatte, immer in der Hoffnung, dass er sich ändern würde, war sie irgendwann selbst davon überzeugt gewesen.
Fast.
Denn dann hatte sie ihr Medizinstudium beendet und sich gedacht: Jetzt oder nie. Sie hatte ihr altes Ich in Ohio zurückgelassen, genauso wie John, genauso wie falsche Träume. Und nun war sie hier in Florida und eine ganz andere Hailey.
"Ich sehe ganz genau, wo du hinschaust", sagte Renee, "und muss dir leider sagen, dass das Zeitverschwendung ist."
Ihre Kollegin bestätigte ihren eigenen Verdacht: Dr. Wilton war eine ganz andere Liga, zu der sie keinen Zugang hatte.
Nein, lass das, schimpfte sie mit sich selbst. Johns Stimme würde keinen Einfluss mehr auf sie haben.
Aber auch ohne negative Einflüsterungen ihres Ex blieb Hailey realistisch: Sie war wirklich keine Schönheit.
Dafür hatte sie ein gutes Herz, mochte Menschen . und zumindest waren ihre Zähne und ihre Augen nicht ganz hässlich. Und Augen galten doch als Fenster zur Seele. Deswegen hatte sie sich auch selbst ein Geschenk zum Ende ihres praktischen Jahrs gemacht und sich die Augen lasern lassen. Jetzt brauchte sie also keine Brille mehr - sah aber trotzdem noch recht durchschnittlich aus und war ein wenig übergewichtig. Niemand drehte sich je nach ihr um. Cayden Wilton in all seiner Pracht war hingegen bestimmt häufig die Ursache eines Schleudertraumas.
"Er ist vergeben", sagte Renee, während sie zwischen Hailey und dem Kardiologen hin- und hersah.
Sie saßen zu zweit in dem kleinen Büroraum im hinteren Bereich der Schwesternstation. Die Wände des Krankenhauses waren hellgrau gehalten, die Decken und Zierleisten weiß. Die gefliesten Böden, ebenfalls weiß, trugen zu einer ruhigen, sauberen Atmosphäre bei. Ein Duft nach frischer Bettwäsche zog durch die Räume und sprach für die Reinlichkeit der Einrichtung.
Vergeben? Umso besser. Sie war hier, um an sich selbst zu arbeiten, mit sich selbst glücklich zu werden. Eine neue Beziehung interessierte sie nicht. Und wenn sie irgendwann doch wieder bereit sein würde für Männer, dann würde sie erst einmal ganz locker ausgehen und das genießen. In jeder Liga.
"Vergeben?", fragte sie dennoch - und überraschte sich damit selbst. Sie war meist so zurückhaltend, dass sie keine Fragen stellte. Vielleicht waren die ganzen Selbsthilfebücher, die sie in letzter Zeit verschlungen hatte, doch für etwas gut.
Dass Dr. Wilton keinen Ehering trug, hatte sie schon bei ihrer letzten Begegnung bemerkt, aber das bedeutete natürlich nicht, dass er alleinstehend war. Wie John war Dr. Wilton ein wunderschöner Mann, und bestimmt stürzten sich alle Frauen auf ihn, ohne dass er dafür etwas tun musste.
"Vielleicht wäre beansprucht das bessere Wort", sagte Renee. "Wenn er irgendwann bereit sein sollte, sich zu binden, wird er sich wohl für Leanna Moore entscheiden. Zumindest glauben das alle. Vor allem Leanna selbst. Sie sind unsere Celebritys. Wir nennen sie Caydna."
Caydna, das Promi-Pärchen des Venice General Hospital. In ihrem alten Krankenhaus in Ohio hatte es niemanden gegeben, der einen eigenen Hollywood-Pärchennamen erhalten hatte, so wie Bennifer, Brangelina oder Tayvis.
Hailey hatte Dr. Wilton schon zweimal gesehen. Einmal am anderen Ende der Krankenhaus-Cafeteria, wo ihre Einführungsveranstaltung stattgefunden hatte. Ein zweites Mal gestern während ihrer ersten Schicht als neue Stationsärztin. Und heute war das dritte Mal. Jedes Mal fragte sie sich, ob sie schon vor ihrem dreißigsten Geburtstag in die Wechseljahre kam, so verrückt, wie ihr Körper mit Hitzewallungen reagierte.
Es war ihr einfach unmöglich, den Blick von diesem großen, sportlichen Kardiologen zu lösen, der gerade den Flur der Chirurgie heruntergelaufen kam. Er hatte wunderschöne grünbraune Augen und braunes, leicht welliges Haar. Er schien ihr regelrecht zu befehlen, ihn anzustarren.
Als er auf die Schwesternstation zusteuerte, kam plötzlich Sharla Little aus dem Krankenzimmer ihres Ehemannes geschossen und rief nach ihm, sodass er stehen blieb. Melvin Little hatte sich gestern Abend einer Blinddarm-Notoperation unterziehen müssen. Heute früh hatte Hailey ihn sich während der Visite angesehen und in seiner Akte den Herzchirurgen markiert, damit er sich um die ziemlich ausführliche Vorgeschichte einer Herzinsuffizienz kümmerte.
Mrs. Little sah müde aus und wischte sich erschöpfte Tränen aus dem Gesicht. Hailey konnte nicht hören, was die beiden beredeten, aber Dr. Wilton legte Sharla tröstend einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich. Hailey war verblüfft, wie einfach es für ihn schien, Mitleid zu zeigen. Er war also nicht nur gut aussehend und intelligent, sondern auch noch empathisch.
Ihre Gedanken kehrten zu dem zurück, was Renee ihr gerade erzählt hatte.
"Leanna Moore?", fragte sie. Warum auch immer - an Klatschgeschichten wollte sie sich eigentlich nicht beteiligen. Und doch sah sie die blonde Frau mit dem makellosen Gesicht vor sich, die sie von der Plakatwerbung kannte. "Die Radiomoderatorin?"
"Genau die."
Hailey versuchte, sich wieder auf den Computer und die vielen Nachrichten zu konzentrieren, die dort auf sie warteten.
Aber Renee unterbrach sie gleich wieder. "Leanna ist hier geboren und aufgewachsen und der Liebling von ganz Venice. Sie ist hinter Dr. Wilton her, und dabei ist es ihr egal, was die Leute sagen. Die beiden haben sich auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt, und sie hat ihn überredet, einmal pro Woche in ihre Morgenshow zu kommen und über Herzgesundheit zu reden. Eigentlich geht er nie öfter als ein paarmal mit Frauen aus, aber mit Leanna hat es mehrere Monate gedauert, und sie sind wohl immer noch in Kontakt. Sie scheint ihm also wirklich etwas zu bedeuten. Oder er findet es einfach gut, Geld für Bedürftige zu sammeln und Werbung für einen guten Zweck zu machen. Ich glaube, er ist Mitglied in allen Freiwilligenkomitees, die das Krankenhaus so hat."
"Das ist bewundernswert."
"Er ist bewundernswert. Und das gilt nicht nur für sein Lächeln. Er hat zwar den Ruf, ein Frauenheld zu sein, aber wir bewundern ihn alle, und ganz ehrlich: Die meisten von uns haben irgendwann einmal für ihn geschwärmt."
Hailey zog die Augenbrauen hoch. Gestern hatte Renee noch erzählt, dass sie glücklich verheiratet war. "Du etwa auch?"
Renee grinste und lehnte sich zurück. "Ich habe schließlich Augen im Kopf, auch wenn ich schon über fünfzig bin. Er ist . jammi ."
Sie fächerte sich mit einer Hand Luft zu, und Hailey musste lachen. "Du meinst also, ich sollte ihn fragen, wenn ich mir in netter Begleitung diese Tiki-Bar in Manasota ansehen will, die du mir empfohlen hast?"
Nicht dass sie das vorhatte. Sie hatte noch nie einen Mann nach einem Date gefragt. Aber es machte Spaß, sich mit Renee zu unterhalten. Allein der Gedanke, jemals so etwas machen zu können, war verrückt. Sie war schon immer zurückhaltend gewesen und hatte John über sie und ihre Beziehung bestimmen lassen. Ihr war es wichtiger gewesen, alles harmonisch zu halten.
Gut ausgegangen war das nicht.
Renee machte große Augen. "Ich sag dir was, du Neuling - mach das unbedingt! Vergiss alles, was ich dir erzählt habe, und hab Spaß. Aber pass auf dein Herz auf, damit es nicht gebrochen wird."
Das war ohnehin schon passiert - in der einzigen Beziehung, die sie je gehabt hatte. Und es war besonders schmerzhaft gewesen, weil es sich so in die Länge gezogen hatte.
Sie atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. Dann schüttelte sie den Kopf. "Ich habe nur einen Witz gemacht, aber Augen im Kopf habe ich genauso wie du. Dr. Wilton sieht aus, als gehöre er ins Fernsehen statt in ein echtes Krankenhaus. Aber erzähl mir doch von diesen Freiwilligenkomitees und welche Wohltätigkeitsorganisationen es gibt. Ich würde mich in meiner neuen Heimatstadt gern einbringen."
Es ging ihr nicht nur darum, sich selbst zu helfen, sondern auch der Welt. In...