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Kapitel 1
Ich würde Avery Hamilton umbringen.
Mit schweißnassen Händen umklammerte ich das Lenkrad und ermahnte mich selbst, aus dem Auto auszusteigen. Es war an der Zeit. Aber ich wusste auch, dass ich lieber barfuß über glühende Glasscherben gelaufen wäre, als in dieses Restaurant zu gehen.
Was selbst in meinen Ohren übertrieben klang.
Ich wünschte mir nichts mehr, als nach Hause zu fahren, ein Paar Leggins anzuziehen, die wahrscheinlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet waren, mich mit einer Schale Chips auf der Couch zusammenzurollen und zu lesen. Ich machte gerade eine seltsame Phase durch, in der ich historische Schundromane aus den Achtzigerjahren verschlang. Vor Kurzem hatte ich mit einem Wikingerroman von Johanna Lindsey angefangen. Eine Menge aufgerissener Kleider und Alphamännchen auf Steroiden spielten darin eine Rolle, und ich liebte es.
Aber Avery würde mich umbringen, wenn ich heute Abend kniff. Na ja, okay. Sie würde mich schon nicht umbringen - denn wer würde dann in Zukunft Ava und den kleinen Alex babysitten, wenn sie und Cam ausgehen wollten? Der heutige Abend war eine Ausnahme. Cams Eltern waren in der Stadt, also passten sie auf die Kinder auf. Und ich war hier, saß in meinem Auto und starrte einen dieser japanischen Ahornbäume neben dem Parkplatz an, der aussah, als könnte er jeden Moment umfallen.
»Uff«, stöhnte ich und ließ meinen Kopf nach hinten gegen die Stütze fallen.
Wäre heute ein anderer Tag, wäre es vielleicht nicht ganz so schlimm. Aber heute war mein letzter Tag bei Richards und Decker gewesen. So viele Leute hatten mein winziges Büro besucht. Es hatte Ballons gegeben. Und eine Eistorte, von der ich zwei . na gut, drei Stücke gegessen hatte. Ich hatte genug von Menschen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, den Job zu kündigen, in dem ich fünf Jahre lang gearbeitet hatte. Ich hatte mir so lange eingeredet, dass ich die Arbeit dort liebte. Ich ging jeden Morgen ins Büro, schloss die Tür hinter mir und war überwiegend allein , um Versicherungsansprüche zu prüfen. Es war ein ruhiger, klar strukturierter Job, in den man sich eingraben konnte und bei dem absolut keine Gefahr bestand, dass man ihn am Ende des Tages mit nach Hause nahm. Er sorgte dafür, dass ich mir eine Dreizimmerwohnung und den Kredit für den Honda leisten konnte. Es war ein ruhiger, langweiliger Job, der zu meinem ruhigen, langweiligen Leben ganz hervorragend gepasst hatte.
Dann aber hatte mir mein Vater im wahrsten Sinne des Wortes ein Angebot gemacht, das ich nicht hatte ablehnen können. Und dieses Angebot hatte etwas in mir zum Leben erweckt, von dem ich seit langer Zeit geglaubt hatte, es wäre tot. Das Verlangen, wieder richtig zu leben.
Sicher, allein der Gedanke klang kitschig, aber es war die Wahrheit. In den letzten sechs Jahren hatte ich nur von einem Tag zum nächsten gelebt. Hatte keine Vorfreude auf irgendwas verspürt, hatte nichts von den Dingen getan, von denen ich einmal geträumt hatte.
Das Angebot meines Vaters anzunehmen war der erste und wichtigste Schritt, mein Leben endlich wieder in die Hand zu nehmen, doch ich konnte trotzdem noch nicht ganz glauben, dass ich es wirklich tat.
Meine Eltern hassten . ja, sie hassten, wie sich die Dinge für mich entwickelt hatten. Sie hatten so viele Träume und Hoffnungen für mich gehabt. Und ich hatte einmal dieselben .
Das Klopfen am Fenster erschreckte mich so sehr, dass ich zusammenzuckte. Meine Knie knallten gegen das Lenkrad, als ich mich nach links umdrehte.
Avery stand neben dem Auto. Ihre Haare leuchteten in der verblassenden Abendsonne strahlend rot. Sie winkte mir zu.
Peinlich berührt hob ich die Hand und drückte einen Knopf. Das Fenster glitt nach unten. »Hey.«
Avery beugte sich vor, legte ihre Unterarme auf den Fensterrahmen und streckte ihren Kopf in den Innenraum. So sprach sie direkt in mein linkes Ohr. Avery war ein paar Jahre älter als ich und hatte zwei Kinder, eines davon kaum ein Jahr alt. Aber mit ihren Sommersprossen und den warmen braunen Augen wirkte sie trotzdem erst wie knapp über zwanzig.
»Und, was treibst du so?«
Ich sah von ihr zur Windschutzscheibe und dann wieder zurück. »Ähm, ich habe . nachgedacht.«
»Oho.« Avery lächelte milde. »Glaubst du, dass du damit bald fertig bist?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte ich, wobei ich gleichzeitig fühlte, wie meine Wangen heiß wurden.
»Die Kellnerin hat gerade unsere Getränkebestellung aufgenommen. Ich habe dir eine Cola bestellt«, erklärte sie. »Normal, nicht light. Ich hoffe, dass du dich uns noch vor den Vorspeisen anschließen wirst, weil Cam über Fußball redet. Du weißt, wie es um meine Aufmerksamkeit bestellt ist, wenn er sich darüber auslässt.«
Mein linker Mundwinkel hob sich ein wenig. Cam war mehrere Jahre lang Profispieler gewesen. Inzwischen arbeitete er am Shepherd als Trainer, was bedeutete, dass er um einiges öfter zu Hause war als früher.
»Tut mir leid, dass ich euch hängen gelassen habe. Ich hatte nicht vor zu kneifen.«
»Das habe ich auch nicht geglaubt. Aber ich dachte, ein wenig gutes Zureden könnte nicht schaden.«
Erneut guckte ich zu ihr hoch. Das halbe Lächeln in meinem Gesicht verblasste. Mich von Avery hierzu überreden zu lassen gehörte auch zu dem ganzen Rausgehen-und-wieder-anfangen-zu-leben-Thema, aber es war trotzdem nicht einfach.
»Weiß . weiß er von .?« Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.
Averys Miene wurde sanft, dann tätschelte sie mir durch das Fenster den Arm. Inzwischen umklammerte ich das Lenkrad wieder wie ein totaler Freak. Sie nickte. »Cam ist natürlich nicht ins Detail gegangen, weil es deine Geschichte ist, aber Grady weiß genug.«
Was bedeutete, dass er keinen Verdammt-noch-mal-Gesichtsausdruck zur Schau tragen würde, wenn er mich sah.
Zugegeben, irgendwann würde er wahrscheinlich trotzdem starren. Aus der Ferne betrachtet, war nichts an mir falsch. Erst aus der Nähe konnte man erkennen, dass mein Gesicht seltsam schief wirkte.
Und genau davor fürchtete ich mich heute Abend - so wie ich mich immer fürchtete, wenn ich jemandem zum ersten Mal begegnete. Manche Leute platzten einfach mit ihren Fragen heraus, ohne sich darum zu kümmern, ob sie mich damit in Verlegenheit brachten oder mich an diese eine Nacht denken ließen, die ich aus einer Menge von Gründen am liebsten vergessen würde. Doch selbst wenn sie nicht fragten, was mit meinem Gesicht geschehen war, dachten sie darüber nach. Das wusste ich, weil es mir genauso ging. Es war nur menschlich.
Man glotzte mich an, um herauszufinden, wieso meine rechte Kieferhälfte irgendwie anders aussah als die linke. Die Menschen versuchten, ihre Blicke zu verbergen, doch sahen immer wieder auf meine linke Wange und fragten sich, was eine so tiefe Kerbe unter meinem Jochbein hinterlassen haben konnte. Und dann fragten sie sich, ob meine Taubheit auf dem rechten Ohr irgendetwas mit dem Vorfall zu tun haben könnte. Niemand musste die Fragen aussprechen, aber ich wusste, dass sie ihnen durch den Kopf geisterten.
»Grady ist ein echt toller Kerl«, fuhr Avery fort und drückte mir sanft den Arm. »Er ist supernett und wirklich süß. Ich habe dir schon erzählt, wie süß er ist, oder?«
Ich zog den Kopf ein und lächelte - lächelte, so gut ich es eben konnte. Es sah immer ein wenig aufgesetzt aus oder schief. Ich konnte meinen rechten Mundwinkel einfach nicht richtig kontrollieren.
»Ja, das hast du schon ein paarmal erwähnt.« Ich seufzte und löste mühsam die Finger vom Lenkrad. »Es tut mir leid. Ich bin startklar.«
Avery trat zurück, damit ich das Fenster schließen konnte. Dann zog ich den Schlüssel aus dem Schloss und schnappte mir die orangebraune Handtasche. Ich hatte eine Schwäche für Handtaschen. Sie waren so ungefähr das Einzige, was ich mir ständig kaufte. Ich konnte absurd viel Geld für eine Tasche ausgeben. Aber diese herbstbraune Henkeltasche von Coach war definitiv die teuerste, die ich mir bisher geleistet hatte.
Ich trat in die kühle Septemberluft und wünschte mir, ich hätte etwas Wärmeres angezogen als den schwarzen dünnen Rollkragenpulli. Doch der Pulli passte wunderbar zu meinen kniehohen schwarzen Stiefeln. Ich hatte mir heute Abend tatsächlich Mühe gegeben. Ihr wisst schon . Mühe mit meinem Aussehen - was bedeutete, dass ich mir vielleicht auch beim Date ein wenig Mühe geben würde.
»Du musst aufhören, dich ständig zu entschuldigen.« Avery hängte sich an meinem linken Arm ein. »Vertrau mir. Lass dir das von jemandem sagen, dessen Entschuldigungsorgien früher mitunter epische Ausmaße hatten. Du musst dich nicht entschuldigen, denn du hast nichts falsch gemacht.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. Ich wusste, dass Avery eine ziemlich bewegte Vergangenheit hatte. Lange Zeit über hatte ich keine Ahnung gehabt, was ihr zugestoßen war, doch vor ungefähr fünf Jahren hatte sie sich mir anvertraut. Zu hören, was sie durchgemacht hatte - obwohl es sich vollkommen von dem unterschied, was mir geschehen war -, hatte mir geholfen. Zu sehen, wie sie ein solch traumatisches Erlebnis hinter sich gelassen hatte, um glücklich und zufrieden zu leben und sogar die Liebe zu finden.
Avery war der lebende Beweis dafür, dass Narben, seien sie nun körperlich oder emotional, nicht nur eine Geschichte des Überlebens erzählten, sondern immer auch Hoffnung...
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