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Kapitel 1 Gerade einmal zehn Minuten nachdem ich mich in einen der üppig gepolsterten Sessel im sonnendurchfluteten Wartezimmer hatte fallen lassen, schoben sich abgewetzte weiße Turnschuhe in mein Blickfeld. Ich hatte eingehend den Holzboden betrachtet und darüber nachgedacht, dass sich mit privaten Pflegeheimen offenbar eine hübsche Stange Geld verdienen ließ, wenn sie sich einen derart feudalen dunklen Parkettboden leisten konnten.
Andererseits hatten Charlie Clarks Eltern für die Langzeitpflege ihres einzigen Sohnes auch keine Kosten gescheut, sondern ihn in der besten Einrichtung Philadelphias untergebracht. Die Summe, die sie dafür jährlich aufbrachten, musste astronomisch hoch sein - auf jeden Fall mehr, als ich mit meinem Job als Barkeeperin im Mona's und den gelegentlichen Webdesign-Aufträgen verdiente.
Vermutlich dachten sie, das mache es wett, dass sie Charlie nur einmal im Jahr für vielleicht zwanzig Minuten besuchten. Es gab bestimmt bessere, großherzigere Menschen als mich auf der Welt, denn es fiel mir schwer, das Brennen der Irritation in meiner Kehle zu ignorieren, das entstand, wann immer ich an Charlies Eltern dachte. Jetzt hob ich den Blick zu dem gastfreundlichen Lächeln, das sich die Krankenschwester ins Gesicht gekleistert hatte. Ich blinzelte, weil ich das kupferfarbene Haar und die haselnussbraunen Augen heute zum allerersten Mal sah.
Sie war offensichtlich neu.
Noch immer lächelnd, ließ sie ihren Blick einen Moment länger als üblich auf meinem Haar ruhen. Dabei war meine Frisur keineswegs sonderlich ausgeflippt. Ich hatte mir lediglich vor ein paar Tagen eine purpurne Strähne gefärbt, trotzdem sah ich vermutlich ein bisschen zerzaust aus, weil ich sie zu einem nachlässigen Knoten frisiert hatte. Ich hatte gestern den Schlussdienst in der Bar gemacht, was bedeutete, dass ich erst nach drei Uhr morgens nach Hause gekommen war. Es war schon anstrengend genug gewesen, auch nur aufzustehen, mir die Zähne zu putzen und mir das Gesicht zu waschen, bevor ich in die Stadt fuhr.
»Roxanne Ark?«, fragte sie, als sie vor mir stehen blieb und die Hände vor dem Körper verschränkte.
Der Klang meines vollen Namens ließ mich erstarren. Meine Eltern waren echt schräge Vögel. Vermutlich hatten sie in den Achtzigerjahren Koks geschnupft oder irgendwas. Ich war nach dem Song »Roxanne« benannt, während meine Brüder Gordon und Thomas hießen - zwei der bürgerlichen Vornamen von Sting.
»Ja«, sagte ich und griff nach dem Stoffbeutel, den ich mitgebracht hatte.
Das Lächeln der Pflegerin strahlte weiter, als sie auf die geschlossene Doppeltür zeigte. »Schwester Venter ist heute nicht hier, aber sie hat mir gesagt, dass Sie jeden Freitagmittag kommen, also ist Charlie bereit.«
»O nein, geht es ihr gut?« Sorge stieg in mir auf. In den letzten sechs Jahren meiner Besuche hier hatte ich mich mit Schwester Venter angefreundet. Daher wusste ich auch, dass ihr jüngster Sohn im Oktober endlich heiraten würde und ihre Zweitälteste ihr letzten Monat das erste Enkelkind geschenkt hatte.
»Sie hat sich eine Sommergrippe eingefangen«, erklärte die Schwester. »Eigentlich wollte sie heute wieder zum Dienst kommen, aber wir waren alle der Meinung, dass sie sich lieber übers Wochenende auskurieren sollte.« Die Schwester trat zur Seite, als ich aufstand. »Sie hat mir erzählt, dass Sie Charlie gerne vorlesen.«
Ich nickte und packte meine Tasche fester.
Vor der Doppeltür blieb sie stehen, nahm ihr Namensschild vom Revers ihres Kittels und fuhr damit über einen Sensor an der Wand. Es klickte, dann schob sie die Tür auf. »In den letzten Tagen ging es ihm einigermaßen, wenn auch nicht so gut, wie wir es uns wünschen würden«, fuhr sie fort, als wir in den breiten, weiß gestrichenen Flur mit den schmucklosen Wänden traten. Dieser Flur hatte keine Persönlichkeit. Gar keine Ausstrahlung. »Aber heute Morgen ist er früh aufgewacht.«
Meine neongrünen Flipflops klapperten über den Boden, wohingegen die Turnschuhe der Krankenschwester praktisch keinerlei Geräusch verursachten. Wir gingen den Flur entlang, der zum Gemeinschaftsraum führte. Charlie war dort nie gern gewesen, was so seltsam war, denn früher . vor seiner Verletzung . war er ein sehr geselliger Mensch gewesen.
Und nicht nur das.
Charlies Zimmer lag am Ende eines weiteren Korridors in einem Trakt, der speziell darauf ausgerichtet war, einen schönen Ausblick über den grünen Park und das therapeutische Schwimmbad zu bieten, das Charlie allerdings nie genutzt hatte. Schon früher war er kein großer Schwimmer gewesen, aber jedes Mal, wenn ich dieses verdammte Schwimmbad sah, wollte ich auf irgendetwas einschlagen. Ich hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht weil wir anderen etwas für selbstverständlich nahmen - die Fähigkeit, eigenständig zu schwimmen - oder weil Wasser ein grenzenloses Gefühl ausstrahlte, während Charlies Zukunft inzwischen engen Grenzen unterlag.
Die Krankenschwester blieb vor der geschlossenen Tür stehen. »Sie wissen ja, wie es läuft, wenn Sie wieder gehen wollen.«
Das wusste ich - ich musste mich bei der Schwesternstation abmelden; vermutlich wollten sie nur sichergehen, dass ich nicht versuchte, Charlie heimlich rauszuschmuggeln oder so. Mit einem freundlichen Nicken in meine Richtung wirbelte die Krankenschwester auf dem Absatz herum und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück, den wir gekommen waren.
Einen Moment lang starrte ich auf die Tür, atmete tief ein und dann langsam wieder aus. Das musste ich jedes Mal tun, bevor ich Charlie besuchte. Es war der einzige Weg, diesen scheußlichen Knoten aus Gefühlen - all die Enttäuschung, Wut und Trauer - zu verdrängen, bevor ich den Raum betrat. Charlie sollte nichts davon mitbekommen. Manchmal gelang es mir nicht, trotzdem versuchte ich es jedes Mal aufs Neue.
Erst als ich sicher war, lächeln zu können, ohne vollkommen irre zu wirken, öffnete ich die Tür. Und wie jeden Freitag in den letzten sechs Jahren traf mich Charlies Anblick wie ein Schlag in die Magengrube.
Er saß auf einem Sessel vor dem großen Panoramafenster - in seinem Sessel, einem dieser runden Rattandinger mit einem leuchtend blauen Kissen. Dieser war ein Geschenk zu seinem sechzehnten Geburtstag gewesen, wenige Monate bevor sich sein Leben so abrupt verändert hatte.
Charlie sah nicht auf, als ich den Raum betrat und die Tür hinter mir schloss. Das tat er nie.
Das Zimmer war ganz nett, ziemlich geräumig, mit einem Bett, das eine der Schwestern ordentlich gemacht hatte, einem Schreibtisch, den Charlie nie benutzte, und einem Fernseher, den ich in sechs Jahren nicht ein Mal angeschaltet gesehen hatte.
Er wirkte schrecklich dünn, fast mager. Schwester Venter hatte mir erzählt, dass sie ihn kaum dazu brachten, drei volle Mahlzeiten am Tag zu essen. Und auch die Umstellung auf fünf kleinere Mahlzeiten hatte nicht funktioniert. Vor einem Jahr hatten sie ihn sogar über eine Magensonde ernähren müssen. Die Angst von damals saß immer noch tief, denn damals hatte ich geglaubt, ich würde ihn verlieren.
Sein blondes Haar war am Morgen gewaschen, aber nicht gestylt worden. Früher hatte er einen kunstvoll zerzausten Look getragen, der ihm super gestanden hatte, doch mittlerweile war sein Haar ein gutes Stück kürzer. Er trug ein weißes Hemd und eine graue Trainingshose, die nicht einmal ansatzweise cool aussah. Nein, die hier hatte Gummibündchen an den Knöcheln. Gott, wenn er das wüsste, würde er einen Anfall kriegen, und zwar zu Recht, weil Charlie . na ja, Stil und Geschmack und all das waren ihm immer wichtig gewesen.
Ich ging zu dem zweiten Rattansessel mit dem passenden blauen Kissen, den ich vor drei Jahren gekauft hatte, und räusperte mich. »Hey, Charlie.«
Er sah nicht auf.
Ich spürte keine Enttäuschung. Na ja, da war schon dieses »Das ist nicht fair«-Gefühl, doch ich wurde nicht von einer neuerlichen Woge des Entsetzens überrollt. Denn so war es immer.
Ich setzte mich und stellte meine Tasche neben mir auf den Boden. Aus der Nähe wirkte Charlie älter als zweiundzwanzig - viel älter. Das Gesicht war ausgezehrt, die Haut wirkte blass, und dunkle Ringe lagen unter seinen einst so lebhaften grünen Augen.
Ich atmete ein weiteres Mal tief durch. »Heute ist es lächerlich heiß dort draußen, also lach mich bitte nicht aus, weil ich kurze Hosen anhabe.« Früher hätte er mich gezwungen, mich umzuziehen, bevor er sich mit mir in der Öffentlichkeit gezeigt hätte. »Die Wetterfee hat gemeint, dass wir am Wochenende Rekordtemperaturen kriegen werden.«
Charlie blinzelte langsam.
»Und auch ein paar fiese Stürme.« Ich verschränkte die Finger im Schoß und betete, dass Charlie mich anschaute. Manchmal tat er das; bei meinen letzten drei Besuchen jedoch nicht, und das jagte mir eine Höllenangst ein. Denn als er mich das letzte Mal so lange ignoriert hatte, hatte er kurz darauf einen schrecklichen Krampfanfall erlitten. Diese zwei Dinge hatten nichts miteinander zu tun, trotzdem fühlte ich, wie mein Magen sich verkrampfte; vor allem, weil Schwester Venter mir erklärt hatte, dass Patienten mit durch stumpfe Gewalteinwirkung verursachten Hirnverletzungen zu Krampfanfällen neigten. »Du weißt ja noch, dass ich Stürme mag, oder?«
Keine Antwort.
»Na ja, es sei denn, die Stürme wachsen sich zu Tornados aus«, fügte ich hinzu. »Aber da wir hier in Philly sind, wird es wohl kaum dazu kommen.«
Wieder blinzelte er langsam.
»Oh! Heute Abend...
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