Schweitzer Fachinformationen
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»Du hier?«, fragte Lotti überrascht, als ausgerechnet Daniel nach ihr die Kanzel betrat, wie das Arztzimmer der Notaufnahme genannt wurde. Er hatte sich gerade die Hände desinfiziert, und Lotti roch noch den typischen Geruch, der sie hier ständig mal stärker, mal schwächer umgab.
»Holger ist krank«, erklärte Daniel. »Da bin ich eingesprungen, was aber auch schon egal ist, weil ich ja sowieso meistens hier bin.«
Er klang ungewöhnlich frustriert dabei, und Lotti überlegte, dass seine Aussage wahrscheinlich genau den Tatsachen entsprach. Daniel war ein Urgestein der Notaufnahme, außerdem einer der Kollegen, der seine Überstunden nicht aufschrieb, sonst hätte ihn die Personalabteilung wahrscheinlich längst in Zwangsurlaub geschickt. Sie blickte in seine grünen Augen hinter der Hornbrille. Wie immer trug Daniel unter seinem gestärkten weißen Kittel ein Hemd mit Krawatte, während sie selbst ihre Bereichskleidung, einen blauen Kasack und Hosen, anhatte. Es war ihr schleierhaft, wie er es aushielt, in der stets etwas zu warmen Luft hier mehrere Kleidungsschichten zu tragen, aber der Kittel ließ ihn seriös und fast elegant wirken.
Daniel Breyer war der kompetenteste ihrer Kollegen. Hinter seinem Rücken »Sherlock der Notaufnahme« genannt, war er ein Meister darin, auch noch die abwegigsten Diagnosen in Erwägung zu ziehen. Lotti war immer froh, wenn sie mit ihm Dienst schob. Irgendwie vermittelte ihr seine geballte Kompetenz das beruhigende Gefühl, dass den Patienten und ihr nichts Schlimmes passieren könnte.
»Und wer kommt heute noch?«, erkundigte sie sich, während sie sich am Computer einloggte und die Patientenliste aufrief. Die unnatürliche Wärme in der Notaufnahme und die gleißend helle Beleuchtung ließen Lotti gleichzeitig wach und müde werden. Sie gähnte unwillkürlich.
»Kommt heute nicht die Neue?«, fragte Kira, die diensthabende Chirurgin in Grün, die gerade den Kopf durch die Tür steckte. An der Frühbesprechung nahmen die Chirurgen traditionell nicht teil, aber offenkundig hatte Kira eine Sekunde Luft, um sich hier auf der nichtchirurgischen Seite der Notaufnahme sehen zu lassen.
Die gesamte Notaufnahme war in zwei Teile unterteilt, auf der internistischen Seite lagen die Zimmer mit den arabischen Nummern 1 bis 7, der Schockraum und die Kanzel, auf der chirurgischen die Räume I bis IV, der Gipsraum und das Chirurgenzimmer, wie der ärztliche Arbeitsraum mit den Computerarbeitsplätzen und Monitoren drüben genannt wurde.
»Oh ja, die Vertretung für Catrin soll heute eintreffen.« Lotti dachte mit einem Funken Wehmut an ihre Lieblingskollegin. »Wisst ihr, wie es Catrin geht?«
»Es geht ihr gut«, erwiderte Kira ruhig, während sie sich ihre leuchtend roten Haare zum Zopf band. »Sie gönnt sich eine Auszeit und reist mit ihrer Schwester einmal quer durch Afrika.«
»Wie schön.« Lotti dachte, dass Catrin wirklich alles Gute verdient hatte. »Und die Neue?«
»Keine Ahnung.« Kira zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur gehört, dass es eine Anfängerin sein soll. Weißt du mehr, Daniel?«
Daniel, der in einer erstaunlichen Geschwindigkeit begonnen hatte, einen Befund zu tippen, blickte nicht einmal auf. »Ich weiß von nichts.«
Eine Anfängerin wäre gar nicht so schlecht, überlegte Lotti, dann müsste ich nicht länger die Jüngste in der Notaufnahme sein. Das war schließlich nicht gerade die angenehmste Position in der Hackordnung der Kollegen und bescherte ihr regelmäßig Ärger.
»Wahrscheinlich ist es eine Anfängerin, weil es so billiger ist«, mutmaßte Kira und klang leicht genervt dabei. »Die Verwaltung nimmt doch stets die billigste Variante, komplett unabhängig davon, wie sinnvoll sie ist.«
»Da hast du recht«, stimmten ihr die beiden Kollegen aus dem Nachtdienst zu, Riccardo und Ayhan, die gerade hinzukamen.
»Vorstellbar wäre es in der Tat«, meinte auch Daniel. »Aber immerhin bekommen wir jetzt überhaupt eine Vertretung. Das ist nach der langen Zeit mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.« Er ließ die Liste der abgearbeiteten Fälle ausdrucken und reichte sie Ayhan.
»Aber die Neue ist noch nicht da. Das ist ein schlechtes Zeichen«, unkte Kollege Riccardo. Er trug einen halb leeren Becher Kaffee in der Hand, den er jetzt auf dem Schreibtisch neben Lotti abstellte.
»Keine Zeit für Kaffee gehabt?«, erkundigte sie sich voller Mitgefühl, aber Riccardo gähnte nur breit. »Hat man je Zeit für irgendetwas?«
»Vielleicht hat die Neue gehört, wie es hier zugeht, und war schlau genug, noch schnell abzuspringen.« Kira wies mit der Hand um sich herum.
»Oder es ist so wie mit dem neuen Mitarbeiter aus der Urologie, der erst zwei Stunden zu spät kam und dann erklärte, er könnte wegen ausgeprägter Höhenangst nicht weiter oben als im zweiten Stock arbeiten«, erwiderte Ayhan mit einem Grinsen.
Lotti lachte, aber ihre Fröhlichkeit erstarb, als vom Gang seltsam schlappende Geräusche hörbar wurden.
»Der Bademeister kommt, ich verschwinde.« Kira hob die Hand. »Ruhigen Dienst.«
»Nichts gegen dich, Lotti, aber wenn wir nur zu zweit bleiben, wie sollen wir dann einen ruhigen Dienst haben?«, protestierte Daniel.
Aber Kira war schon in dem Verbindungsgang zwischen chirurgischer und nichtchirurgischer Notaufnahme verschwunden. Keine Sekunde zu früh, denn nun bog Dr. med. Volker Turmer, leitender Oberarzt der Notaufnahme, ins Zimmer. Aus Gründen, die niemand verstand, trug er Badelatschen im Dienst, die nicht nur seltsame Geräusche auf dem versiegelten PVC-Boden machten, sondern ihm auch den Spitznamen »Bademeister« eingebracht hatten. Der Oberarzt war fachlich herausragend, aber menschlich ausgesprochen kantig. Niemand war so gut wie er darin, Kollegen niederzumachen, und er nutzte jede Gelegenheit dazu, dieses Talent maximal auszuspielen. Zeiten besonderer Turmer'scher Grässlichkeit waren erfahrungsgemäß die Früh- und Spätbesprechung, was beides zu verhassten Pflichtterminen werden ließ. Auch jetzt unterdrückte Lotti mühsam den Impuls, Kira hinterherzurennen. Wenn sie doch wenigstens irgendetwas unfassbar Dringendes zu tun hätte! Aber ausgerechnet jetzt warteten keine unaufschiebbaren Patienten, und den einzigen wirklichen Notfall, der diesen Namen zu hundert Prozent verdiente, hatten die Nachtdienstkollegen gerade noch abgearbeitet.
Vorsichtig blickte Lotti zu Turmer. Der Bademeister mit den kurzen grauen Haaren und dem faltendurchfurchten Gesicht sah noch übler gelaunt aus als sonst, und sie konnte sich vorstellen, dass das auch mit ihr zu tun hatte. Im letzten Dienst hatte sie etwas verbockt und eine Patientin mit einer unvollständigen Dokumentation entlassen. Dafür würde es heute sicherlich Keile für sie hageln. Unwillkürlich dachte Lotti an ihr Zuhause, an ihr Bett und an Laurenz. Warum hatte sie sich nicht doch krankgemeldet?
»Frau Dr. Richter«, begann der Bademeister auch schon mit seiner Eisesstimme, die die letzten positiven menschlichen Regungen erstarren lassen konnte. »Ich bin erstaunt, dass Sie sich noch hierhertrauen.«
Lotti schluckte. Wie zum Selbstschutz versuchte sie, die Erinnerung an Laurenz und sein Lächeln herbeizuzaubern. Das munterte sie ein winziges bisschen auf. »Ich bin auch überrascht, hier zu sein«, sagte sie. Seit ihrem ersten Tag in der Notaufnahme wusste sie, dass beim Bademeister Angriff die beste Verteidigung war, was ihr aber meist nur so halb gelang.
Wütend sah Turmer sie aus seinen hellen, wässrig blauen Augen an, aber Lotti bemerkte, dass sich ausgerechnet Daniels Mundwinkel hoben. Daniel, der doch sonst immer die Ernsthaftigkeit in Person war.
Der Bademeister holte Luft. Doch bevor er loswettern konnte, ließ sich nun Daniel hören. »Ich bin ausgesprochen froh, dass Frau Dr. Richter hier ist. Allein diese Schicht zu stemmen wäre schlicht ein Ding der Unmöglichkeit«, erklärte er sachlich.
Da der Bademeister an Widerspruch - außer von der unerschrockenen Kira - nicht gewöhnt war, drehte er sich sofort wie ein gereizter Bulle im Stierkampf zu Daniel.
»Ach ja?« Er klang so unfreundlich, dass Lotti trotz der Wärme im Zimmer ein kalter Schauer über den Rücken lief. Daniel hatte ihr wahrscheinlich helfen wollen, hatte es aber unter Umständen damit noch schlimmer gemacht. Und tatsächlich donnerte der Bademeister in Lottis Richtung weiter, dass der Kaffee in Riccardos Becher leicht zu zittern begann. »Dr. Richter, Sie sind die inkompetenteste Person in dieser Rettungsstelle. Sie sind ja noch unfähiger als der Pförtner, was etwas heißen will. Machen Sie nie wieder so einen Fehler in meiner Notaufnahme, haben Sie mich verstanden? Sonst sorge ich höchstpersönlich dafür, dass Sie gefeuert werden und jemand anderes Ihre Stelle bekommt.«
Lotti nickte langsam. Was sollte sie auch sonst tun? Etwa darauf hinweisen, was sie alles richtig machte? Sie verabscheute die Frühbesprechungen und hasste es, dass der Bademeister seine schlechte Laune überproportional häufig an ihr ausließ. Sie hatte keine Ahnung, warum, aber irgendwie war sie ihm ein wandelnder Dorn im Auge. Wenn doch erst die Neue käme - dann könnten sie diese Last vielleicht teilen! Aber von der jungen Kollegin fehlte weiterhin jede Spur.
Während der Bademeister nun den Nachtdienst ob seiner Inkompetenz auseinandernahm, schwand Lottis Hoffnung, dass die Neue noch auftauchte. Womöglich hatte sie wirklich, wie Kira gesagt hatte, noch rechtzeitig den Absprung geschafft. Der Bademeister erwähnte sie jedenfalls mit keinem Wort.
Sie waren gerade fertig mit der...
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