Schweitzer Fachinformationen
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Das hellweiße Neonlicht leuchtete so grell, als gäbe es keine Nacht. Zügig schritt Dr. Daniel Breyer den langen Gang der Notaufnahme hinunter, vorbei an schmucklosen Wänden und beigefarbenen Türen. Selbst die farbenfrohen Bilder, die sonst viele Krankenhausflure zierten, fehlten in diesem nüchternen Umfeld. Die Luft war warm und trocken, und Daniel stieg der typische Geruch nach Krankheit, menschlichem Leid und Desinfektionsmittel in die Nase. Tief in seinem Unterbewusstsein sorgte diese Mischung für eine grundsätzliche Alarmbereitschaft, und Daniels Schritte beschleunigten sich unwillkürlich.
Seit er am frühen Morgen aus einem fürchterlichen Albtraum hochgeschreckt war, fühlte er sich wie auf der Flucht und musste sich beherrschen, um nicht loszurennen.
Es war nur ein Traum, sagte er sich, trotzdem hatte er immer noch das Gefühl, Blut würde über seine Hände rinnen. Genauso fest standen ihm die Traumbilder eines verblutenden Patienten vor Augen. Beim Aufwachen hatte er eine schier unerträgliche Angst gefühlt, die in krassem Gegensatz zu seiner ärztlichen Kompetenz stand. Im wirklichen Leben wusste er genau, was bei Blutungen zu tun war, aber im Traum hatte er sich vor Hilflosigkeit gelähmt gefühlt, während das Blut immer weitergeflossen war. Ungeduldig versuchte Daniel, den Traumschatten abzuschütteln, indem er sich auf das Hier und Jetzt konzentrierte.
Rechts und links ging es vom Gang in die einzelnen Zimmer und Kabinen, in denen sich die tägliche Routine abspielte. Hier geschahen aber auch die großen Katastrophen und Dramen, die das Leben in der Notaufnahme bestimmten. Die Wände waren von Scharten und Kratzern übersät, die das Tagesgeschäft hinterlassen hatte, und Daniel fragte sich, wie viele Stunden seines Lebens er hier eigentlich schon verbracht hatte.
Aber selbst dieser Gedanke verscheuchte die quälende Erinnerung an den Albtraum nicht ganz, und Daniel ballte die rechte Hand abwehrend zur Faust, als könnte er so seine negativen Gefühle mit Gewalt bezwingen. Nach außen hin erschien er wohl als Inbegriff des attraktiven Arztes - selbst in der Notaufnahme mit einem gebügelten Hemd unter dem gestärkten weißen Kittel und mit akkurat frisierten dunkelblonden Haaren - , innerlich jedoch fühlte er sich komplett verunsichert.
Seine Schritte machten kleine quietschende Geräusche auf dem spiegelnden PVC-Boden, der gerade gewischt worden war, und Daniel versuchte, sich auf die seltsamen Laute zu fokussieren, um alles andere auszublenden.
Es war nur ein Traum, beschwor er sich wieder, doch gleichzeitig nahm er die leichte Feuchtigkeit auf seiner Stirn und seinen beschleunigten Herzschlag wahr und wusste, dass ihm jetzt nur vollständige Ablenkung helfen konnte. Das war auch der Grund, warum er schon vor sieben Uhr morgens hergekommen war, obwohl sein Dienst erst um halb acht begann.
Kurz vor dem Ende des Gangs bog Daniel nach rechts in den Aufenthaltsraum ab. Auf dem Tisch stand eine einsame Thermoskanne, aufgeschraubt und dann vermutlich in der Eile eines Notfalls vergessen. Daniel schloss den Deckel, wohl wissend, dass der Kaffee trotzdem kalt und ungenießbar bleiben würde.
Dann ging er eilig die zwei Schritte zu dem modernen Kaffeevollautomaten, den der Chefarzt hier als eine Art Entschuldigung für die unterirdischen Arbeitsbedingungen hatte aufstellen lassen und der genau aus diesem Grund von der Belegschaft gemieden wurde. Aber in diesem Moment war das Daniel gleichgültig. Er nahm sich einen Becher und stellte ihn auf den spiegelnden Stahlrost unter die Düse, bevor er auf das Cappuccino-Symbol drückte, was die Maschine mit einem Fauchen zum Leben erwachen ließ. Der angenehme Kaffeegeruch, der nach wenigen Sekunden die Luft erfüllte, brachte Daniel tatsächlich etwas Entspannung.
Gerade als er nach dem vollen Becher greifen wollte, hörte er aus dem Eingangsbereich der Notaufnahme ein seltsames Geräusch. Es klang, als würde ein nasser Sack gegen die Milchglasscheibe der Eingangstür fallen. Dazu kam etwas, das sich eher wie ein Wimmern als wie ein Schrei nach Hilfe anhörte.
Ohne zu zögern, ließ Daniel den Kaffee stehen. Draußen hinter der Milchglastür lagen die Anmeldung und der Wartebereich. Dort saß, wer selbst in die Notaufnahme gekommen war. Notarzt oder Krankenwagen brachten ihre Patienten zu einem Seiteneingang, von dem aus man auf kürzestem Weg auch den Schockraum für die Schwerstkranken und Schwerstverletzten erreichen konnte.
Als Daniel aus dem Aufenthaltsraum stürzte, sah er durch das Milchglas dunkel den Schatten eines Körpers. Von seinen Kollegen aus dem Nachtdienst entdeckte er niemanden, sodass er geradewegs auf die Tür zulief. Dabei bemerkte er, dass die diensthabende Schwester im Pflegezimmer ebenfalls aufgesprungen war. Im Laufen zog sie hellblaue Polyvinylhandschuhe aus einem Spender an der Wand und reichte ihm ein Paar, als sie vor der Tür aufeinandertrafen. Er streifte sie über, während die Schwester die Tür aufgehen ließ. Direkt davor stand ein junger Mann und hielt eine Frau im Arm, die entweder bewusstlos war oder im Begriff stand, das Bewusstsein zu verlieren.
»Hilfe«, brachte er hervor, bevor er unter dem Gewicht seiner Last in die Knie ging.
Die Schwester rief laut nach einer Liege, während Daniel sofort nach der jungen Frau griff. Ihr Körper hatte eine deutlich verminderte Spannung, sodass Daniel Mühe hatte, sie zu fassen zu bekommen. Er musste mehrmals nachgreifen, was ihn aber nicht davon abhielt, sofort mit der Analyse zu beginnen. Die Frau war normal groß und normal schwer, atmete jedoch unnatürlich tief und langsam.
Kussmaulatmung, diagnostizierte Daniel augenblicklich, verlagerte ihr Gewicht und tastete nach ihrem Handgelenk, an dem ein Täschchen baumelte. Der Puls der Patientin war beschleunigt. Unter zu viel grünem Lidschatten waren ihre Augen geschlossen, und ihre hellbraunen Haare hatten sich fast vollständig aus dem Zopfgummi gelöst. Dennoch wiesen sowohl der Zustand ihrer Haare als auch der ihrer Fingernägel auf geordnete Verhältnisse hin.
»Hallo, aufwachen! Wer sind Sie?« Fest klopfte die Schwester gegen die Wange der Frau.
Die Patientin schlug kurz die Augen auf und stammelte etwas Unverständliches. Daniel kniff sie leicht in die Haut, woraufhin sie eine abwehrende Bewegung mit dem Arm machte.
Glasgow Coma Scale von elf, analysierte Daniel blitzschnell. Drei Punkte für die Augenöffnung, drei für die unzusammenhängenden Worte als Antwort und fünf für gezielte Schmerzabwehr. Zusammen mit allen anderen Informationen, die er bisher gesammelt hatte, entschied er in diesem Moment, dass keine Schutzintubation bei der Patientin nötig war. Wenigstens etwas.
Dann registrierte Daniel, dass die Körpertemperatur der Frau eher zu kalt als zu warm war und sich ihre Haut ausgetrocknet anfühlte. Als sie abermals kurz die Augen öffnete, beobachtete Daniel ihre Pupillen. Sie waren weder unnatürlich weit, noch verengt und reagierten adäquat auf den Reiz des hellen Lichts um sie herum, indem sie sich gleichmäßig verengten.
Der Mann, der die Kranke gebracht hatte, lehnte an der Wand neben der Glastür und zitterte am ganzen Körper. Daniel schaute kurz zu ihm, bevor er abermals das Gewicht der Patientin in seinen Armen verlagerte. Jetzt roch er den strengen, säuerlichen Geruch nach Erbrochenem in ihrem Atem, aber da war noch etwas anderes. Fruchtiger, schärfer. Andere hätten sich angewidert abgewandt, aber nicht Daniel. Prüfend sog er abermals die Luft durch die Nase ein.
Aceton, kein Zweifel. Damit war ihm alles klar.
»Wissen Sie, ob Ihre Begleiterin Diabetikerin ist?«, fragte er den jungen Mann, um völlige Gewissheit zu erlangen.
Aber der zuckte nur hilflos mit den Schultern.
Ein Pfleger kam mit einer Liege über den Gang gerannt, und zusammen mit der Schwester hievte Daniel die junge Frau darauf. Während sich die Milchglastür hinter ihnen schloss, zog Daniel den Pullover der Patientin unter ihrer offenen Jacke hoch, tastete ihre leicht verhärtete Bauchdecke ab und entdeckte mehrere kleine punktförmige Wunden. Verletzungen wie von oberflächlichen Spritzeneinstichen. Insulin!
Damit war sich Daniel seiner Diagnose fast zu hundert Prozent sicher. Ausgetrocknete Haut, zu tiefe Atmung, Erbrechen, Acetongeruch. Diese Frau hatte einen insulinpflichtigen Diabetes, doch aus Gründen, die er nicht kannte, zu wenig Insulin im Blut.
»Ketoazidotisches Koma«, murmelte Daniel leise in Richtung der Schwester, die ihn daraufhin verblüfft ansah.
»Du weißt schon, was sie hat?« In ihrer Stimme lag Bewunderung, die Daniel jedoch nicht wahrnahm, weil er voll auf das konzentriert war, was er jetzt zu tun hatte.
»Wir brauchen sofort ihre Blutwerte«, verlangte er, während sie gemeinsam die Patientin im Laufschritt in die erste Kabine vorn links schoben. Der junge Mann, der sie gebracht hatte, rief ihnen durch die geschlossene Tür etwas hinterher, was Daniel jedoch ignorierte. Er konnte sich jetzt nicht darum kümmern.
Die Schwester schloss die Schiebetür der 1, dann zog sie zusammen mit ihrem Kollegen der Patientin Jacke und Pulli aus. Rasch legte der Pfleger eine Blutdruckmanschette und ein Fingermessgerät für die Sauerstoffsättigung an, während die Schwester Daniel ein kleines Tablett mit einem Zugang, Desinfektionsmittel und einem Stauschlauch reichte. Vollkommen ruhig versenkte Daniel den Zugang in einer Vene an der Ellenbeuge der jungen Frau. Dass es aufgrund ihres ausgeprägten Flüssigkeitsmangels erschwert war, bemerkte er nicht einmal. Die Schwester klebte den Zugang fest, nahm daraus Blut...
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