Bastian Wysoglad: Abgetaucht
Es gibt Städte, große und kleine. Und es gibt Dörfer. Man unterscheidet sie von den Städten anhand ihrer Bebauung, des Straßennetzes, der Einwohnerzahl . vor allem aber erkennt man sie an den Kindern und Jugendlichen - an ihrer zu Freundschaft geneigten Art, ihrer Offenheit gegenüber anderen Menschen und ihrer Einstellung zur Welt. Ihr Leben ist nicht so eingefahren und getaktet wie das der Stadtkinder. Ich bin ein Dorfkind, und dies ist meine Geschichte. Ich erwarte nicht, dass Sie sie mir glauben; aber seien Sie sich darüber im Klaren, dass kleine Orte Dinge verbergen, von denen die moderne Schnelllebigkeit der Welt keine Vorstellung hat. Ich möchte Ihnen von einem solchen Ort und seinem Geheimnis erzählen. Es wird mir nicht leichtfallen, aus Gründen, die sich während der Geschichte ergeben. Und obwohl inzwischen zwanzig Jahre vergangen sind, ist dies die Geschichte eines Dorfkindes.
Als Jugendlicher war ich in einer Clique. Außer mir wohnten alle seit ihrer Geburt in Schlemen - ein kleines Dorf südlich von Dresden, ein alter Bestandteil der Gemeinde Radebeul und seit jeher für die unmittelbare Wasserquelle, die Elbe, bekannt. Nur ich war mit meinen Eltern erst 1998 aus Dresden hinzugezogen. Damals war ich elf Jahre alt. Doch hätte man nicht von der Tatsache gewusst, wäre es nicht aufgefallen, weil mich die Gruppe in einer Art und Weise aufgenommen hatte, dass ich mich fragte, ob wir uns von früher kannten. Und wir alle waren froh, dass es so war; wir fragten uns, ohne darüber zu sprechen, wie wir uns wohl entwickelt hätten, wären wir in der Großstadt zehn Kilometer weiter nördlich aufgewachsen, wo der Verkehrslärm keine Tages- und die Jugendlichen keine Ruhezeiten kannten.
Nun, heute weiß ich, dass uns eine schreckliche Sache erspart geblieben wäre.
Aber alles der Reihe nach. Wie ich schon sagte, zog meine Familie erst später aus Dresden nach Schlemen, weshalb ich mich noch gut daran erinnern kann, wie ich den Anschluss, der später nicht mehr wegzudenken war, gefunden hatte. Vor allem aber weiß ich eines: Wir waren eine Gruppe, unzertrennlich, die Gedanken der anderen lesend und uns immer (na gut, fast immer) einig. Hin und wieder liefen uns andere Dorfbewohner über den Weg, und dann waren wir die Ersten, die den Mund öffneten, um zu grüßen. Die Gesichter der Leute, besonders von den älteren Damen, waren manchmal erstaunlich überrascht, das können Sie sich nicht vorstellen, aber nicht ohne Freude. Kaum waren sie dann um die nächste Hausecke verschwunden, ließen wir unseren Ton wieder anschwellen, der von allem anderen als Höflichkeit gesegnet war, von dem aber jeder wusste, wie er ihn aufzunehmen hatte. Eine Sache, die, denke ich, Stadtkinder mit einem größeren Hauch Empörung geschluckt hätten. Aber wir verstanden uns einfach. Das hat eine Gruppe von Dorfkindern so an sich, besonders wenn alle im selben Ort leben.
Eine wichtige Sache gäbe es da noch zu erwähnen, die uns Dorfbewohner von den Straßenhockern unterscheidet: Unsere nie erschöpfende Motivation, die nie einsetzende Trägheit - denn wir sind ständig unterwegs und geraten nicht in das Loch der Stubenhocker, welches jeder solche einmal durchlebt, spätestens wenn der erste Schnee die letzten Blätter auf den Bürgersteigen bedeckt. Wir haben uns oft gefragt, wie heutige Jugendliche in unserem damaligen Alter ihren Drang nach Erlebnissen überwinden; immerhin muss jeder einmal den Wunsch verspüren, aus seinen vier Wänden zu kommen und etwas zu erleben, von dem er berichten kann.
Jedenfalls dachten wir das.
Ich gebe zu, dass Schlemen nicht der beste Ort ist, um seinen Wünschen nach Abenteuern gerecht zu werden - mit einer Rutsche und einer Schaukel für Kleinkinder (. na schön, und einem Briefkasten) ist da nicht viel zu machen -, doch es schien uns von Anfang an vorherbestimmt, dass wir irgendwann das Ortsschild von Schlemen übertreten würden, um uns nach neuen Anreizen umzusehen.
Und es hatte funktioniert.
Wenn ich diesen Tag auch seit Jahren zu vergessen versuche.
Unsere Clique, die ich zu Beginn erwähnt hatte, trug den offiziellen Titel »Die Schlemener Dorfbande«. Wir hatten keine Ausweise oder Visitenkarten oder einen ähnlichen Quatsch, weil wir der Meinung waren, dass uns ohnehin jeder kannte - je kleiner die Nachbarschaft, umso größer die Plapperwerke. In einem kleinen Dorf weiß jeder über die Geheimnisse des anderen Bescheid, ohne dass der Betreffende ahnt, dass andere über seine Geheimnisse Bescheid wissen, so wie wir wussten, dass Herr Hänsel im Sommer vor drei Jahren von Marks Mutter auf seiner Terrasse auf der Palmenstraße beim Masturbieren erwischt wurde, als sie ihm ein Paket bringen wollte, das die Post versehentlich bei ihr abgelegt hatte. Oder dass sich in dem alten Haus der Benders, welches schon seit Jahren leer stand, einst ein Mord zugetragen hatte (genau genommen war es ein Doppelmord, denn der Besitzer hatte seine Frau zuerst vergewaltigt, sie erschossen und sich dann selbst ein tödliches Gesöff zusammengemixt, welches er neben ihr liegend ausgetrunken hatte). Wir waren uns natürlich im Klaren, dass man über uns und einige unserer Mätzchen Bescheid wusste. Und über uns selbst - über Alexander Berghold, Morten Biesold, Tom Kriegel und mich.
Alex war der Älteste von uns vieren und besuchte mit siebzehn Jahren die elfte Klasse des Goethe-Gymnasiums in Langewitz. Er war sozusagen unsere Führungsposition, und wie es schien, wollte er die nach seinem Abitur behalten. »Sobald ich Lehramt studiert habe, bestimme ich endlich selber, wann die Kinder ihr Zeug einpacken«, hatte er uns oft vermittelt.
Tom war der Jüngste und ging ebenfalls aufs Gymnasium, allerdings auf ein christliches in Dresden, da seine Eltern katholisch waren.
Morton und ich waren im gleichen Alter, doch unser Bildungsgang ließ höchstens einen Realschulabschluss an der Oberschule in Langewitz zu. Zu dem Zeitpunkt, als der Schrecken passierte, gingen wir in die neunte Klasse. Wir wollten beide Schriftsteller werden, und nun sieht es so aus, als könnte es bei mir tatsächlich funktionieren, doch wer weiß, wem ich das Geschriebene zeigen werde - ob ich es überhaupt jemandem zeige -, aus Angst, die Leute könnten mich verspotten und üblere Gerüchte über mich verbreiten als zu unserer Zeit in Schlemen.
Ich sagte bereits, dass wir eines Tages Schlemen verließen . Das stimmte auch, allerdings gingen wir kaum weiter als ein paar hundert Meter in den angrenzenden Wald. Es war ein heißer Tag im Juli des Jahres 2003, und wir brauchten alle mal eine Erfrischung. Wir besaßen zwar einen Pool in unserem nicht bescheidenen Garten, doch es war nicht gerade abenteuerlich, wenn unsere Eltern dabei auf der Terrasse saßen und zusahen, wie wir im Wasser herumalberten und planschten, und wir ständig auf der Hut sein mussten, nicht von ihnen geschimpft zu werden, wenn hin und wieder ein paar Spritzer über den Beckenrand schwappten und die Feuertonne auf der angrenzenden Wiese bespritzten. In unserem Alter wollten wir für uns sein, unbeobachtet und frei und . unabhängig.
Und uns allen brannte ein ganz bestimmter Wunsch unter den Nägeln: Wir wollten den Steinbruch auf dem Berg besuchen.
Wir hatten nie darüber gesprochen, doch alle wussten wir, dass er existierte, weil wir als Kinder mit unseren Eltern dort spazieren waren, als es etwas kühler war. Und da wir auch wussten, dass wir alle dieselben Gedankengänge hegten, bedurfte es an jenem Tag nicht vieler Worte, zu vereinbaren, unsere Badesachen zu packen und uns auf den Weg nach oben zu machen. Wir planten, bis zur Dunkelheit dort zu bleiben, um den Abenteuereffekt zu erhöhen, zumindest aber bis zur Dämmerung. Doch als wir loszogen, stach uns die Hitze noch mit ihrer vollen Kraft in den Rücken und verbrannte unsere Nacken. Wir wussten, es würde eine herrliche Belohnung werden, nachdem wir uns erst einmal durch die Hitze gequält hatten, die mit jedem Schritt nach oben anzusteigen schien. Unsere T-Shirts durchnässten, sodass wir befürchteten, einen Kälteschock zu erleiden, wenn wir in die Frische des von den Steinen gekühlten Wassers eintauchen würden.
Auf halbem Weg durch die Sträucher (anfangs hielt der Schatten des Waldes die Hitze noch in Schach, doch nach kurzer Zeit war auch der machtlos) hielt Morten mich am Arm fest und sagte: »Können wir nicht eine Pause machen? Ich sterbe gleich.« Er wickelte die Flasche Ginger Ale aus seinem Handtuch und begann den Deckel aufzuschrauben.
Ich hätte seinem Wunsch gern zugestimmt, da auch mich die Hitze nahezu betrunken machte, doch Alex kam mir zuvor. »Nur noch ein Stückchen, ihr Luschen. Dann könnt ihr eure Ärsche im Wasser wälzen, und heute Abend könnt ihr euch darauf ordentlich einen runterholen.«
»Du darfst ihn mir gerne auf der Stelle lutschen, wenn wir jetzt anhalten und ich etwas trinken darf«, gab Morten zurück.
Doch Alex reagierte nicht auf ihn.
»Fick deine Mum.«
Wir quälten uns weiter durch die sengende Hitze, stiegen über knackendes Unterholz. Irgendwo über uns gab ein Kuckuck seine routinemäßigen Töne von sich, Amseln raschelten in den Büschen neben uns. Ich pflückte eine Heidelbeere von einem der Sträucher neben dem Weg. Kurz darauf tat Tom es mir gleich. Ein kleiner Trost, auch wenn wir alle nur an das Wasser dachten, das schon bald unsere Haut mit einem erfrischenden Schleier umhüllen würde.
»Jetzt . seid ihr am Arsch«, keuchte Morten. »Der Fuchsbandwurm wird sich in euren dünnen Gedärmen vermehren, und dann werden sie...