Burtchen Bataineh
Vom Verlieren und Finden
Die vierjährige Noura hat von ihrer Mutter eine große Münze als Taschengeld bekommen, weil sie heute morgen für das Unkrautrupfen im Gemüsegarten belohnt wurde. Nun will sie die 50 Cent für Süßigkeiten unten am Kiosk an der Straßenecke ausgeben. Die Mutter schlägt ihr vor, eine Handvoll Fondant zu kaufen, denn Noura liebt alles Süße. Ihr arabischer Name bedeutet auf Deutsch: die Süße. Die christliche Familie El-Ashkar wohnt in den Bergen von Syrien, wo man noch die mehr als 2000 Jahre alte Sprache Aramäisch spricht wie zu Jesu Zeiten.
Noura hüpft die Bergstraße hinab, bis sie am Kiosk von Herrn Choukri ankommt. Er fragt sie nach ihrem Kaufwunsch. Noura erklärt erwartungsvoll: "Eine Handvoll von Dank möchte ich haben." Der dicke Verkäufer stutzt erst, dann lacht er aus vollem Hals. "Es heißt 'vielen Dank' oder 'herzlichen Dank'!", kichert er und lässt Noura einfach stehen. Er bedient eine neu hereingekommene Hausfrau. Dann ergänzt er noch: "Dank kann man nicht kaufen."
Nach einer Weile schleicht Noura enttäuscht mit dem Geldstück in der Faust wieder aus dem Laden hoch in Richtung ihres Elternhauses. Dabei kommt sie an einem Gewürzladen vorbei. Plötzlich muss sie furchtbar niesen, weil der Pfeffergeruch ihre Nase kitzelt. Das blöde Geldstück flutscht ihr dabei aus der Hand, hopst in großen Sprüngen die Straße hinunter und verschwindet "platsch!" im Wassergraben voller Unkraut neben der Straße.
Na super! Jetzt hat Noura keine Nascherei und dazu noch das Geld verloren. Sie stampft wütend wie ein Stier auf die asphaltierte Straße. Am liebsten würde sie jetzt jemanden verhauen oder etwas kaputt machen. - Hach! - Dann aber entscheidet sie sich dazu, ihre beste Freundin Ruth zu besuchen und mit ihr zu spielen. Ruth geht auch noch nicht in die Schule. Und im Gegensatz zur moppligen Noura ist Ruth schön groß und dürr wie eine Bohnenstange. Noura kann ihrer Freundin alles erzählen, sie hört immer geduldig zu.
Aber als Noura oben am Berg ankommt, wo das Grundstück mit dem riesigen Haus, dem herrlichen Garten und den Fuhrwerkshallen von Ruths Familie steht, ist alles irgendwie komisch. Es ist zu still: Kein Terrier kommt schwanzwedelnd angerannt, um Noura schnüffelnd zu begrüßen. Alle Türen sind verschlossen. Keine Musik schallt wie sonst aus geöffneten Fenstern. Alles sieht aus, als ob es schlafen würde.
Noura kann sich das nicht erklären und ist froh, dass der zwölfjährige Nachbarsjunge Rafik auf seinem schnellen Mountainbike den Berg heruntergesaust kommt. Noura stoppt ihn mit der Frage: "Weißt du, wo die Familie Es-Sauri ist?"
"Na, die sind doch gestern klammheimlich in den Libanon geflohen, mit Sack und Pack einfach abgehauen!"
Rafik rast schon wieder weiter.
"Ruth auch?", fragt Noura lautstark hinterher.
"Na logo!", brüllt Rafik zurück.
"Aber warum denn?", kreischt Noura noch, bekommt aber keine Antwort mehr. Jetzt wird Noura so richtig wütend. Schon wieder hat sie etwas verloren, nämlich ihre beste Freundin. Ein bisschen ängstlich und unsicher fühlt sie sich aber auch.
Sie läuft nach Hause, um ihre Mutter zu fragen. Die muss es ja wissen. Nouras Mama war nämlich Lehrerin, bevor sie eine Familie gründete. Zur Familie gehören Papa Ari El-Ashkar, der als Arzt im Krankenhaus von Damaskus arbeitet, dann Mama Esther, die vierjährige Noura, ihre achtjährigen Zwillingsbrüder Jonathan und Yousseri und die zwölfjährige Schwester Naomi.
Zu Hause angekommen, geht Noura etwas verunsichert in den Garten. Dort hängt die Mutter gerade einen Korb voll frisch gewaschener Hemden, T-Shirts und Jeanshosen auf die Wäscheleine.
"Mama, warum sind die Es-Sauris in den Libanon geflohen?", platzt Noura jetzt in die idyllische Gartenstille. "Ach Noura, es ist Krieg", lautet Mamas lakonische Antwort.
"Was ist Krieg?" Noura versteht überhaupt nichts.
"Wenn sich Leute um etwas streiten und zanken oder neidisch auf etwas sind, was andere haben, es aber lieber für sich hätten. Dann stänkern sie oder machen den andern alles kaputt, ja, sie töten sogar die anderen."
"Aber es gibt doch die zehn Gebote, damit sich alle vertragen und freundlich zusammenleben!"
"Richtig: Fast alle Länder haben die zehn Gebote in ihre Regierungserklärungen aufgenommen. Aber es gibt immer Leute, die sich nicht daran halten. Sie nehmen sich einfach ein anderes Land oder die Bodenschätze, ja sogar Menschen als Gefangene."
"Mama, ist denn bei uns echt Krieg?", will Noura wissen.
"Ja, mein Schatz, schon seit mehr als einem Jahr. Aber hier bei uns in den Bergen ist es noch ziemlich ruhig. Hama und Homs, die beiden Städte im Norden, sind schon kaputtgeschossen worden, und die Menschen, die nicht dabei gestorben sind, flohen in die Türkei. - Hast du noch nie die Panzer rasseln hören, wenn sie nachts das Tal durchqueren? Hast du keine Bomben und Raketen gehört oder ihren Lichtschein bemerkt?"
Jetzt fällt es Noura wie Schuppen von den Augen! Sie versteht plötzlich, dass sie in den vielen Nächten nicht von Gewittern mit Blitz und Donner und rauschendem Regen geträumt hat. Auch hat ihr ihre Fantasie einen Streich gespielt, wenn sie dachte, dass die Leute im Tal oder weiter weg in Damaskus Volksfeste mit anschließendem Feuerwerk feiern würden.
"Es ist Krieg, und wir können nichts dagegen tun?", fragt Noura nun fassungslos.
"Doch, wir können auch fliehen. Aber wenn wir uns wehren wollen und bleiben, wird man uns verwunden, verfolgen oder sogar umbringen."
"Können wir nicht unserer Regierung sagen, dass sie aufhören soll mit dem Krieg?"
"Ach Noura, in der Regierung gibt es inzwischen mindestens 15 verschiedene Geheimpolizei-Organisationen, die sich gegenseitig und gemeinsam uns bespitzeln. Sie horchen die Menschen aus, um für sich einen Vorteil zu erwischen. Deshalb verschwinden immer wieder Menschen, und niemand weiß, ob sie im Gefängnis gelandet sind oder ermordet wurden oder fliehen konnten. Mit der Regierung können wir nicht rechnen. Die hilft uns nicht."
In der folgenden Woche sucht Noura verzweifelt ihre Puppe. Sie erinnert sich, dass sie die Puppe mit dem echten Haar aus Tante Marjams langem Zopf im Gartenhäuschen auf die Matratze gesetzt und ihr vom Krieg und den ganzen Problemen erzählt hat. Doch dann wird sie von der Mutter gebeten, die frisch gelegten Eier einzusammeln. Noura läuft sehr vorsichtig mit den weißen und hellbraun gesprenkelten Eiern in einer alten Emailleschüssel vom Hühnerstall in die Küche und bringt alle heil herein.
Nach dem Abendessen diskutiert die Familie, ob und wann und wohin sie fliehen will. Papa Ari meint, er muss nur noch vier Tage Schicht im Krankenbetrieb arbeiten, dann hat er eine halbe Woche frei. Dann werden sie alles Nötige einpacken, was in die Schulranzen und die Sporttaschen hineinpasst, und zu Tante Marjam nach Madaba in Jordanien fahren. Papa liefert die Familie ab, fährt nach Hause zurück und holt Matratzen samt Bettzeug und Kleidungsstücke. Damit fährt er über die grüne Grenze auf steinig bestaubten Feldwegen wieder nach Jordanien. Er kann bei einer Kontrolle sagen, dass er seine Schwester Marjam besuchen will.
Über der ganzen Aufregung durch die Flucht hat Noura ihre Puppe total vergessen. Aber als sie am nächsten Morgen in Tante Marjams Wohnzimmer aufwacht, sitzt da die Puppe mit einem neuen Rüschenkleid und einer neuen Zopffrisur. Alle singen: "Zum Geburtstag viel Glück!" Noura feiert ihren fünften Geburtstag.
Tante Marjam wohnt mit ihrer Tochter Asme in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der hauptsächlich von Christen und palästinensischen Leuten bewohnten hübschen Stadt Madaba, die auf sieben Hügeln erbaut wurde und von Wein- und Obstanbau lebt. Im Tal östlich gibt es seit Jahrzehnten ein Camp für Flüchtlinge. Früher hausten hier aus Israel geflohene Palästinenser. Heute ist es von syrischen, kurdischen, afghanischen und sogar afrikanischen Schutzsuchenden übervölkert. Tante Marjam arbeitet als Krankenschwester beim Roten Halbmond (das arabische Rote Kreuz). Weil sie aber so wenig Platz hat in ihrer Wohnung und auch von Amts wegen keine Flüchtlinge aufnehmen darf, meldet Nouras Papa die Familie El-Ashkar im Camp als Flüchtlinge an.
Sie bekommen ein Zelt zugeteilt, in dem schon eine Mutter mit sieben Kindern wohnt, deren Vater im Krieg erschossen wurde. Nouras Mama übernimmt sofort den Unterricht für alle interessierten Kinder, denn es gibt keine Schule im Camp und man darf das Camp auch nicht verlassen. So lernt Noura bald Arabisch, Englisch und Französisch schreiben und lesen. Natürlich fehlen Stifte und Hefte. Also schreibt man in den Sand am Boden.
Irgendwann sind die schöne Altstadt von Damaskus und all die wunderbaren...