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Es ist, als hätte jemand den Klebstoff gelöst, der aus den Teilen ein Ganzes macht. »Ich stehe neben mir«, »keinerlei Schutzschild mehr«, »Gefühle ohne Kontrolle«, »den Stecker gezogen«, »die Leichtigkeit verloren« und »immer diese Müdigkeit«. Die Patienten, von denen diese Aussagen stammen, haben eine Gemeinsamkeit. Sie leiden unter Hashimoto-Thyreoiditis, einer speziellen Form der Schilddrüsenentzündung. Das Immunsystem greift das Organ an, zerstört seine Zellen und bringt die Produktion von Schilddrüsenhormonen allmählich zum Erliegen.
Die Erkrankung galt einst als seltenes medizinisches Randphänomen. Heutzutage zählt sie zu den am meisten verbreiteten Autoimmunstörungen. In den westlichen Industrienationen ist Hashimoto-Thyreoiditis die weitaus häufigste Ursache der Schilddrüsenunterfunktion. Man schätzt, dass vier bis zehn Prozent der Bevölkerung - manche Studien gehen von bis zu zwölf Prozent aus - irgendwann im Laufe ihres Lebens an Hashimoto-Thyreoiditis erkranken, und die Tendenz ist steigend. Betroffen sind vor allem Frauen. Sie entwickeln die Krankheit rund zehnmal häufiger als Männer.
Eigentlich machen es die Laboranalyse bestimmter Blutwerte und die Ultraschalluntersuchung der Schilddrüse Medizinerinnen vergleichsweise leicht, die Krankheit aufzuspüren. Zudem gibt es wirksame Behandlungsmöglichkeiten, die gut erprobt und sicher sowie kostengünstig durchzuführen sind. In der Praxis bietet sich jedoch leider ein anderes Bild: Viele Patientinnen laufen auf der Suche nach einer Erklärung für ihre Beschwerden von Arzt zu Arzt. Manchmal vergehen Jahre bis zur Diagnose. Und für einen Teil der Betroffenen endet die Leidenszeit auch dann noch nicht. Trotz der Einnahme von Medikamenten bleiben die Beschwerden bestehen. Man geht aktuell davon aus, dass etwa jeder zwanzigste bis zehnte Hashimoto-Patient mit »normalen« Schilddrüsenwerten in seiner Lebensqualität beeinträchtigt ist. Auf Deutschland bezogen würde das bedeuten, dass bei einer Gesamtpopulation von 83 000 000 im schlimmsten Fall rund 830 000 Menschen unter anhaltenden Beschwerden leiden.
Sucht man nach den Ursachen für diesen Missstand, kommt gleich eine ganze Reihe von möglichen Faktoren infrage, von denen einige in unglücklicher Weise miteinander wechselwirken. Obwohl die Forschung in den vergangenen Jahren viele neue Erkenntnisse zu der herausragenden Rolle der Schilddrüse im Stoffwechsel gewonnen hat und sowohl die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema als auch die Fälle in der Praxis immer mehr werden, führt die Hashimoto-Thyreoiditis im Bewusstsein vieler Mediziner noch immer ein Schattendasein. Endokrinologie, also das Teilgebiet, das sich mit der Funktion der Drüsen und der Rolle der Hormone beschäftigt, nimmt im Medizinstudium der meisten angehenden Ärzte nur einen kleinen Raum ein. Ihre Bedeutung dürfte künftig weiter abnehmen. Wie die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie wiederholt bemängelte, werden die stationären Behandlungskapazitäten in den Kliniken weniger. Die Zahl klinischer Lehrstühle für Endokrinologie ist rückläufig. Fehlen die Expertinnen, leidet die Aus- und Weiterbildung von Medizinern.
Hashimoto-Thyreoiditis kann in ganz unterschiedlichen Schweregraden verlaufen. Führt sie zu einer Schilddrüsenunterfunktion, die über lange Zeit unbehandelt besteht, kann sie im schlimmsten Fall lebensbedrohlich werden. Dass es so weit kommt, ist allerdings extrem selten. Hashimoto-Thyreoiditis ist eine Erkrankung mit vielen Gesichtern. Ihre Symptome sind wie so oft bei Autoimmunerkrankungen und endokrinologischen Störungen für die Erkrankten schwer greifbar. Sie können prinzipiell den ganzen Körper betreffen. Die Krankheitsanzeichen von heute können morgen manchmal schon verschwunden und durch ganz andere ersetzt sein. Unter Umständen sind die Beschwerden so diffus, dass Patientinnen sie nur vage beschreiben können - wie die eingangs genannten Beispiele zeigen.
Hashimoto-Thyreoiditis schleicht sich in das Leben der Betroffenen ein. Ihr Beginn ist meist lautlos, ihre ersten Schritte sind kaum wahrnehmbar: ein Schmerz in der Brust oder in den Gelenken, der Grauschleier, der sich über den Alltag legt, die Gravitation, die die Gedanken kreisen lässt, das Gewicht, das einen zurück ins Bett zieht, oder auch das stampfende Herz, das Betroffene nicht einschlafen lässt. Hashimoto-Thyreoiditis kann der Takt Ihres Babyblues sein oder schlicht Ihr innerer Schweinehund, der mit bloßer Willenskraft nicht zu überwinden ist. Selbst konkretere Symptome sind noch allgemeiner Art, wie zum Beispiel Müdigkeit, Erschöpfung, Gewichtszunahme, unerklärliche Traurigkeit, Hautveränderungen, Nacken- und Gelenkschmerzen. Manche Erkrankte scheuen den Weg zum Arzt. Sie können sich oftmals keinen Reim auf das Erlebte machen. Medizinerinnen, deren Aufgabe es ist, aus diesen Schilderungen Hypothesen und schließlich eine Diagnose zu entwickeln, ähneln mitunter altertümlichen Kapitänen, die versuchen, mitten auf dem tosenden Ozean bei sternenlosem Himmel zu navigieren. In dieser Situation kommt es vor, dass Ärzte die Möglichkeit einer vorliegenden Hashimoto-Thyreoiditis übersehen oder vorschnell ausschließen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich vor allem die laborchemische Bestimmung der Schilddrüsenwerte als verlässliches Instrument in der ärztlichen Praxis etabliert. Diagnose und Verlaufskontrolle der Therapie erscheinen danach ganz einfach zu sein: Liegen die Blutwerte eines Patienten im Bereich der Norm, kann es nicht die Hashimoto-Thyreoiditis sein, die Beschwerden verursacht. Die Ansicht ist weitverbreitet, doch sie beruht auf einem Fehlschluss. Neuere Erkenntnisse der Forschung zeigen, dass die geltenden Normwerte zu breit angelegt sein dürften. Das führt unweigerlich dazu, dass ein Teil der Patienten Schiffbruch erleidet.
Immer wieder berichten Hashimoto-Patientinnen, dass sie sich in der Vergangenheit nicht ernst genommen fühlten, dass sie begonnen haben, an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln (bis hin zur existenziellen Krise), und beinahe jegliches Vertrauen in die Ärzte verloren haben - ein Umstand, der die Behandlung jedweder Krankheit nachhaltig erschweren kann. Tatsächlich ist dies so häufig Teil der Krankengeschichte, dass man von einem eigenen Problemkreis sprechen kann, der Betroffenen zusätzlich zu den körperlichen Beschwerden zu schaffen macht: Man könnte ihn als die psychosoziale Komponente der Hashimoto-Thyreoiditis bezeichnen. Er besteht aus Verunsicherung (»Was fehlt mir bloß?«), Selbstzweifel (»Bilde ich mir das alles nur ein?«) und dem Gefühl, vom Arzt, Partner, Umfeld unverstanden zu sein (»Ihre Probleme sind psychosomatischer Natur«, »Stell dich nicht so an!«).
Manche Hashimoto-Patienten suchen nach enttäuschenden Erfahrungen mit der Schulmedizin verzweifelt auf anderen Gebieten nach Antworten auf ihre Fragen und Probleme. Sie durchforsten Internetforen, probieren auf eigene Faust unterschiedlichste Maßnahmen und Mittel wie zum Beispiel Akupunktur, Heilkräuter oder Ernährungsexperimente aus und setzen ihre Hoffnung auf Patientenratgeber, die eher den Autoren als den Lesern Nutzen bringen dürften.
Mit diesem Buch möchten wir Ihnen Mut machen. Hashimoto-Thyreoiditis ist längst kein Schicksal mehr, auf das Sie keinen Einfluss haben. Mit einer Behandlung, die einerseits auf die Bekämpfung der Symptome und andererseits auf die Vermeidung krankheitsauslösender und -verschlimmernder Faktoren abzielt, ist die Krankheit gut in den Griff zu bekommen, um so verloren geglaubte Lebensqualität zurückzugewinnen. Moderne Techniken der Diagnostik und Verlaufskontrolle, ein auf die individuellen Bedürfnisse eines Patienten zugeschnittener Hormonersatz, die Bestimmung und Behandlung anderer bestehender Autoimmunstörungen, die Aufnahme wichtiger Vitamine und Spurenelemente und Anpassungen des eigenen Lebensstils bieten Medizinern ein breites Spektrum an Möglichkeiten, das allerdings zu selten ausgeschöpft wird.
Viele Patienten, bei denen Hashimoto-Thyreoiditis festgestellt wird, sind angesichts der Diagnose verängstigt. Das Wort »Autoimmunkrankheit«, bei dem wohl viele Menschen als Erstes an seltenere Krankheiten wie Multiple Sklerose oder systemischer Lupus erythematodes (SLE) denken, hat bis heute nur wenig von dem Schrecken verloren, der es seit jeher umgab. Erfolge im Verständnis der Krankheitsform und in der Erforschung von neuen Behandlungsmöglichkeiten konnten an den bestehenden Vorurteilen nur wenig ändern. Eine Rolle dürfte aber auch der ungewöhnliche Name der »Hashimoto-Thyreoiditis« spielen, dessen Klang mitunter einschüchternd wirkt.
Man mag es für eine zweifelhafte Ehre halten, wenn der eigene Name für immer und überall mit einer Krankheit verbunden wird. Für Wissenschaftlerinnen, die sich mit ihrem beruflichen, manchmal sogar dem ganzen Dasein der Entdeckung und Bekämpfung von Krankheiten verschrieben haben, ist es ohne Frage eine der höchsten Anerkennungen ihrer Mühen.
Der japanische Arzt Hakaru Hashimoto dürfte von einer solchen Auszeichnung geträumt haben, als er sich 1912 im Alter von 31 Jahren mit einer Entdeckung an die deutsche...
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