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Eigentlich konnte Asta Marie nicht leiden. Aber sie fühlte sich gezwungen, sie zu lieben, denn sonst hätte sie ihre Arbeit nicht ausführen können. Nicht so, wie sie es tun musste. Sie fand Marie eigensinnig und verwöhnt, und sie neidete ihr das ganze Leben, das Marie hatte.
Astas Mutter war viele Jahrzehnte lang Haushälterin bei Maries Eltern gewesen, dem Webereidirektor Wilhelm Triepke und seiner Frau Minna. Dann aber war in der Küche der Herd explodiert, und die Haushälterin hatte so schwere Brandwunden davongetragen, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Zum Glück hatten die Triepkes ein schlechtes Gewissen, sodass sie die sechzehnjährige Asta fortan zur Gesellschafterin ihrer gleichaltrigen Tochter gemacht hatten. Das war nicht nur großherzig, das war in erster Linie von Vorteil für die Triepkes selbst gewesen, denn Marie hatte keine Freunde. Die jungen Mädchen, die ihre Mutter für sie manchmal eingeladen hatte, die Töchter von Bekannten, fand Marie langweilig, weil sie sich nicht für das Malen interessierten.
Asta war außerdem der Ansicht, dass sie einfach zu schön für Freunde war, während Marie beteuerte, keine Freunde zu brauchen und auch keine zu vermissen. Asta jedenfalls würde sich niemals freiwillig mit einer schönen Frau befreunden. Himmel, was das für neidische Gefühle in ihr auslösen würde! Sie wusste selbst, dass sie weder schön war noch begabt oder klug. Und an Maries Seite fühlte sie sich hässlich, linkisch und schrecklich dumm, aber sie wurde dafür bezahlt, sich um Marie zu kümmern. Auch dafür, um mit Maries Eigenheiten klarzukommen - Eigenheiten, die sich nur schöne und reiche Mädchen leisten konnten.
Während Asta von einer Heirat und Kindern und vielleicht, wenn sie ganz viel Glück hatte, auch von einem eigenen Haus träumte, wollte Marie malen. Ja, Marie wollte Malerin werden!
Dabei war die Malerei eine brotlose Kunst, das wusste doch jeder. Reiche Fräuleins malten, um sich die Zeit bis zur Ehe zu vertreiben und um danach ein angesehenes Hobby zu pflegen, aber genau das wollte Marie nicht. Marie meinte es ernst. Sie wollte malen und von ihrer Kunst leben.
Nie hatte Asta etwas ähnlich Unsinniges gehört!
«Warum willst du in einem dreckigen Kittel vor einer wackeligen Staffelei stehen und Farbe aufs Holz schmieren, während du in einem schönen Salon sitzen und am Abend Empfänge geben kannst?», hatte Asta sie mehr als einmal gefragt, doch keine ihrer Antworten hatte sie befriedigen können.
Auch jetzt sah Marie sie nur mit ihren großen blauen Augen an, rümpfte das zierliche Näschen und pustete sich eine Strähne ihres wunderschön gelockten Haares aus der Stirn. «Es ist das, was mir am meisten Spaß macht», antwortete sie und betrachtete Astas Gesicht so intensiv, dass es Asta ganz heiß wurde und sie das Gefühl hatte, Marie würde jede Pore in ihrem Gesicht kennen.
Dann wandte sich Marie dem großen Skizzenblatt zu und zeichnete Astas Gesicht, ohne sie noch einmal anzusehen. Das Licht fiel von links auf das Papier, während der Wind die hellblauen Vorhänge zu luftigen Wolken bauschte. Hinter der Staffelei stand Maries Bett mit der himmelblauen Decke, und in einer Ecke saß noch immer der Steiff-Teddybär mit den Knopfaugen und dem Namen Brummel. Der Vater hatte ihn einmal aus Deutschland für sie mitgebracht, und Asta hätte wetten können, dass er der Erste war, dem Marie erzählt hatte, sie wollte Malerin werden. Unter dem Fenster, im rechten Winkel zur Staffelei, befand sich der Schreibtisch, übersät mit Graphit- und Buntstiften. In Maries Rücken stand ein polierter Holzschrank, in dem ihre Kleider hingen, daneben ein Regal mit Büchern und all den Kunstbänden, die Marie schon so oft gelesen hatte. Ganz abgegriffen sahen die Einbände aus, und in dem Band über die Maler der Renaissance waren viele Blätter eingeknickt und markierten so besondere Bilder, die in den Uffizien in Florenz hingen und die sich Marie für ihr Leben gern einmal anschauen wollte. Der Boden war mit einem roten Läufer belegt, und auch dessen Muster hatte Marie schon abgezeichnet.
Asta schüttelte unmerklich den Kopf, dann blickte sie aus dem Fenster im ersten Stock der Villa. Unten im Garten beschnitt ein Gärtner die Rosenbüsche, und das Hausmädchen trug einen großen Korb mit Wäsche zur Bleichwiese. Asta beobachtete durch das geschlossene Fenster, wie sie der Gärtner anlächelte. Ein Fuhrwerk rumpelte vor den Dienstboteneingang, und eine Männerstimme rief so laut, dass selbst Asta ihn hören konnte: «Hey, ich bringe Holz. Wo soll ich hin damit?»
Direkt vor dem Fenster streckten sich die Äste eines Lindenbaumes. Eine Elster saß dort und plusterte ihr Gefieder auf. Und aus dem Salon drang das leise Klavierspiel von Minna Triepke in den ersten Stock.
Im Hause Triepke war man den schönen Künsten innig zugeneigt. Es gab eine ganze Bibliothek, in der Marie sich oft die Kunstbände anschaute, während Asta sich lieber mit den Romanen vergnügte. Maries Mutter war Mitglied eines Lesekreises, und selbstverständlich hatten die Herrschaften ein Abonnement für die Oper. Und Asta hatte mit Marie schon häufig Theatervorstellungen besuchen dürfen. Außerdem liebten beide Mädchen die Märchen von Hans Christian Andersen. Sobald Marie in dem schön illustrierten Märchenbuch las, wurden die Bilder in ihrem Kopf lebendig - das hatte sie Asta schon oft beschrieben, während in Asta selbst die Bilder einfach nur Bilder blieben. Marie lebte und litt mit den Märchenfiguren, sie weinte und lachte mit ihnen, während in Asta keine so großen Gefühle geweckt wurden. Einzig Das Mädchen mit den Schwefelhölzern trieb auch Asta die Tränen in die Augen. Marie fertigte Zeichnungen zu den Märchen an, und eine vom Schwefelholzmädchen gefiel Asta so gut, dass sie sich diese für ihr Zimmer erbat.
Das Hausmädchen schlug den Essensgong, und gleich darauf saß die Familie Triepke samt Asta am Abendbrottisch. Heute war Montag, und die Triepkes erwarteten weder Besuch noch gingen sie aus. Es gab eine leichte Rindersuppe mit Grießklößchen darin, die Asta sehr mochte. Danach servierte das Hausmädchen einen gekochten Tafelspitz, dazu Kartoffeln und Bohnengemüse. Bei Asta zu Hause hatte es nur einmal in der Woche Fleisch gegeben, hier, bei Triepkes, gab es das jeden Abend. Die Triepkes tranken Wein dazu, der rot wie Blut in den geschliffenen Gläsern funkelte. Für Marie und Asta hatte die Köchin eine Minzlimonade zubereitet.
Die Gespräche bei Tisch waren ewig dieselben. Minna Triepke fragte ihren Mann nach seinem Tag, und wenn er dann aus der Weberei berichtete, hörte sie kaum zu. Sie ließ ihren Blick durch das Esszimmer wandern, immer auf der Suche nach Dingen, die es zu verbessern galt. Und kaum war ihr Mann fertig mit seinem Bericht, sprach Minna: «Die Holmstedts haben jetzt einen neuen Kamin im Speisezimmer. Ganz aus Marmor. Aus Italien haben sie sich den kommen lassen. Sehr elegant. Ich überlege, ob sich so ein Marmorkamin auch bei uns gut machen würde. Wir haben zwar die schöne Holzverkleidung, aber in Mode ist das nicht mehr.» Und dann brachte das Hausmädchen den Nachtisch. Asta mochte den Pudding am meisten, aber heute gab es eingemachte Birnen, an denen noch ein paar Nelken hingen.
«Die Nelken sehen aus wie kleine Bäume, nicht wahr?», fragte Marie, und Asta nickte, obgleich für sie Nelken nun einmal wie Nelken aussahen.
Nachdem das Essen beendet war, räumte das Hausmädchen das Geschirr ab und versprach, den Kaffee sogleich zu servieren. Asta verschränkte die Hände im Schoß und versuchte, nicht gelangweilt zu wirken, während Herr und Frau Triepke sich weiter über den Marmorkamin unterhielten und Marie hingebungsvoll das Lichtspiel der Kerzen an der Wand betrachtete.
Dabei dachte Asta an den Abend vor zwei Jahren zurück. Es war ihr erster Abend als Maries Gesellschafterin gewesen, und sie saß mit ihr und den Eltern genau wie jetzt an diesem Esstisch. Kurz zuvor hatte die Frau Webereidirektor ihr erklärt, dass man sie im Hause ab sofort «Asta» nennen würde, denn es ging wohl schlecht an, dass die Gesellschafterin denselben Namen trug wie die Hausherrin, nämlich Minna. Asta wollte sich weigern. Sie fand, Asta sei ein Name für Katzen, aber was konnte sie schon ausrichten? Die Mutter lag halb verbrannt zu Hause, brauchte Medikamente, welche die Triepkes zahlten. Also ließ sie sich Asta nennen, hasste den Namen aber vom ersten Augenblick an. Erst viele Jahre später erfuhr sie, dass Asta «schöne Göttin» bedeutete. Das hatte Minna Triepke bestimmt nicht gewusst, denn dann hätte sie wahrscheinlich Wilma oder Agnes geheißen.
Marie hatte sie strahlend bei der Hand genommen. «Endlich habe ich eine Schwester!», hatte sie ausgerufen und war sofort von ihrer Mutter zurechtgewiesen worden: «Marie, Asta ist nicht deine Schwester. Sie ist deine Gesellschafterin. Das ist ein gewaltiger Unterschied, den du niemals vergessen darfst.» Marie war errötet und hatte den Rest des Abends geschwiegen, und Asta hatte sich innerlich plötzlich ganz klein gefühlt.
Astas Mutter aber hatte Freudentränen in den Augen gehabt, als Minna Triepke sie zu Hause besucht und ihr das Angebot für ihre Tochter unterbreitet hatte. «Asta, meine liebe Frau Hansen, wird eine gute Ausbildung bekommen. Dieselbe wie Marie. Sie wird immer in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Ich glaube, mehr kann man ihr nicht wünschen.» Dabei hatte sie Asta von oben bis unten betrachtet wie etwas, das die Katze über Nacht mit nach Hause geschleppt hatte, und dann geseufzt. «Und auch für Sie, meine liebe, gute Frau Hansen, wird immer gesorgt sein.»
Dann hatte sie die...
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