Schweitzer Fachinformationen
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Obwohl es absurd war, hatte Sofie ein schlechtes Gewissen, weil sie um kurz nach zehn in ihrer Küche hockte und den dritten Kaffee an diesem Morgen trank. Sie fühlte sich leer - und hatte noch immer nichts von Fabian gehört. Die Vorstellung, wie er mit anderen ihr Herzensprojekt in die Tat umsetzte, raubte ihr die Energie, um sich Gedanken über ihre Situation zu machen oder gar neue Pläne zu fassen.
Sie schob den Becher von einer Hand in die andere, fuhr mit einem Finger die Maserung des Tisches nach und sah aus dem Fenster. Sonnenstrahlen trafen die Pflanzen davor und ließen eine ganze Palette an Grüntönen aufleuchten, schafften es aber nicht, sich an ihnen vorbeizuschmuggeln. Daneben stand ein Glas mit Orangenmarmelade, das sie für ihre beste Freundin Nadja reserviert hatte. Das Rezept mit einem Schuss Orangenlikör hatte sie von Opa Nando und kochte jedes Jahr einen ganzen Schwung davon. Nadja liebte die Marmelade besonders und hatte neulich erwähnt, dass ihr Vorrat sich dem Ende zuneigte.
»Du wirst doch nicht so herzlos sein und mich in den Supermarkt schicken, um dort industriell hergestellten Nachschub zu kaufen, der durch irgendwelche Schläuche gelaufen und von Roboterarmen einsortiert worden ist?«, hatte sie gefragt und sich theatralisch einen Handrücken gegen die Stirn gepresst. Sie war nicht die beste Schauspielerin, brachte Sofie aber stets zum Lachen - und zudem hatte sie recht. Wenn man sich erst mal an den selbst gemachten fruchtigen Aufstrich gewöhnt hatte, schmeckte alles andere künstlich.
Sie schnipste gegen das Glas, seufzte und fragte sich zum wiederholten Mal, was sie tun sollte. An einem normalen freien Tag hätte sie sich nach dem Frühstück um ihren Balkon gekümmert und anschließend im Laden ihrer Eltern vorbeigesehen.
Schon als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, an der Theke zu stehen und das sich je nach Saison verändernde Sortiment von Feinkost Lenau zu begutachten. Oder sie hatte hinten im Aufenthaltsraum gespielt, manchmal zusammen mit Simon, während sich ihre Eltern um die Kunden kümmerten.
Einmal, noch ehe sie in die Schule gekommen war, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, die Welt zu erkunden. Also hatte sie ihren Proviant - zwei Orangen, eine Pampelmuse, eine Handvoll Nüsse und ihren kleinen Bruder - auf eine Decke gepackt und sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte aus der Hintertür gezerrt. Obst und Nüsse waren davongerollt, noch ehe sie die Straße erreicht hatte, wo sie von einer amüsierten Stammkundin gestoppt worden war.
Je älter sie wurde, desto mehr Einblick in das Geschäft bekam sie, lernte, welche Kriterien beim Einkauf eine Rolle spielten, und fühlte sich mit all dem rundherum wohl. Sie liebte das gemütliche Holzinterieur mit den von Hand beschriebenen Schiefertafeln, die Düfte und Aromen, die ihr so vertraut waren, und vor allem die Spezialitäten aus anderen Ländern. Die spanische Sektion war besonders ausgefeilt.
»Ich kann ja schlecht einen spanischen Vater haben und weder Serrano noch Chorizo oder Roncal anbieten«, sagte ihre Mutter stets. »Er würde mir das Kassenbuch um die Ohren hauen.«
Was Opa Nando natürlich niemals tun würde. Aber manchmal ließ er sich im Feinkostladen blicken, beäugte das Sortiment und verriet durch das Heben oder Senken einer Augenbraue oder allerhöchstens einen knurrigen Kommentar, ob er zufrieden war oder nicht.
Er und Oma Anneliese hatten einen Obstladen geführt, nachdem ihre Eltern - Sofies Urgroßeltern - ihr Leben lang auf Märkten in der Region verkauft hatten. Opa Nando hatte seinen Enkelkindern schon früh eingebläut, dass die spanischen Zitrusfrüchte die besten waren, besonders die aus seiner Heimat, der Region um Valencia, und sie niemals - unter keinen Umständen -, Orangen oder Zitronen aus anderen Ländern kaufen durften.
Ein schwaches Lächeln stahl sich auf Sofies Gesicht. Sie erinnerte sich, wie er ihr einmal zwei Orangen unter die Nase gehalten hatte. »Riechst du das? Die da - Wasser, Wachs, Ende. Aber die hier, das ist eine Barberina und damit eine der besten Orangen der ganzen Welt. Die Sorte wird um deinen Geburtstag im Mai herum geerntet, allerdings werden auch viele Orangen im Winter gepflückt.« Damit hatte er sie zum Strahlen gebracht, weil sie geglaubt hatte, dass man im fernen Spanien extra abwartete, um die Ernte gemeinsam mit dem Geburtstag eines kleinen Mädchens zu feiern. Bis heute erinnerte sie sich an den Duft, der intensiv und süß gewesen war, und an das saftige Fruchtfleisch.
Lebensmittel und die Freude an kulinarischen Genüssen lagen ihrer Familie im Blut. Sie und Simon waren nach drei Generationen die Ersten, die beruflich einen anderen Weg eingeschlagen hatten - auch wenn Sofie es liebte, in ihrer Freizeit zu kochen und zu backen.
Sie leerte ihre Kaffeetasse und betrachtete die gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie an der Wand. Sie zeigte ihre Großeltern in jungen Jahren. Sie standen in ihrem Laden, hoch aufgerichtet und stolz, umgeben von Körben voller Obst und Gemüse. Auf der Theke hinter ihnen befanden sich eine riesige Waage und eine Kasse mit einem Hebel an der Seite. Die alten Geräte lagerten heute im Keller ihrer Eltern.
»Ihr hättet euch nicht unterkriegen lassen, oder?«
Beide antworteten mit ernstem Blick, wobei Oma Anneliese ein wenig schüchtern wirkte. Sie hatte erst im Laufe ihrer Ehe mehr Selbstbewusstsein entwickelt und betonte stets, dass sie das ohne Opa Nando niemals geschafft hätte. Daher war es für alle eine Überraschung gewesen, als sie verkündete, sie würde sich von ihm trennen, weil sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Zu Sofies Erleichterung waren die beiden Freunde geblieben, telefonierten regelmäßig miteinander und lieferten sich bei Familientreffen noch immer dieselben alten liebevollen Kabbeleien.
Sofie atmete tief durch. Sie würde sich ein Beispiel an ihrer Familie nehmen und weitermachen. Eine Lenau oder eine Montejo - der Mädchenname ihrer Mutter - warf die Flinte nicht ins Korn! Mit etwas Engagement würde sie einen neuen Job finden - sobald sie überwunden hatte, dass Fabian und Karsten sie quasi aus der Firma gedrängt hatten.
Zuerst würde sie im Feinkostladen vorbeifahren, ihre Eltern auf den neuesten Stand bringen und etwas aushelfen, um sich abzulenken und nicht tatenlos herumzusitzen.
Sie griff nach ihrer Handtasche, als ihr Blick auf etwas Weißes fiel, das daraus hervorlugte: der Umschlag, den sie heute Morgen von der Straße gerettet hatte. Durch die Ereignisse bei GenioTeam hatte sie ihn vollkommen vergessen.
Sie zog ihn heraus und öffnete ihn. Es handelte sich doch nicht um die Aufstellung der Nebenkosten, die Frau Maldewiky ihr üblicherweise schickte, sondern um einige Zeilen samt Unterschrift. Vielleicht stand eine Mieterhöhung an? Das käme ihr gerade jetzt mehr als ungelegen.
Wenige Sekunden später ließ Sofie die Hand sinken. Keine Mieterhöhung, sondern eine Kündigung wegen Eigenbedarf; Frau Maldewikys Tochter würde nach einigen Jahren aus München zurück in ihre Heimatstadt ziehen - und zwar bereits in drei Monaten. Was, wie ihre Vermieterin ihr mitteilte, die reguläre Kündigungsfrist wäre, da Sofie erst seit vier Jahren hier wohnte.
Sie stöhnte leise auf, trat ans Fenster und starrte auf die vorbeifahrenden Autos und eine Frau, die mit zwei kleinen Mädchen an den Händen vorbeispazierte. Wie sagte ihre Oma immer?
Wenn es kommt, dann richtig dicke.
Damit hatte sie eindeutig recht. Osnabrück hatte heute entschieden, es ihr schwer zu machen.
Das Handy riss sie aus ihren Gedanken, mit dem Folksong, den Simon vor Jahren für sich einprogrammiert hatte. Sofie verzog das Gesicht und überlegte, ob sie seiner guten Laune gewachsen war, entschied sich dann aber dafür. Schlimmer konnte es nicht kommen, und ihr kleiner Bruder würde sie vielleicht sogar aufheitern.
»Und, noch immer in Porto?«, fragte sie statt einer Begrüßung.
Lachen antwortete ihr. Simon klang so glücklich! Er war noch nie jemand gewesen, der Trübsal blies, aber so hatte sie ihn selten gehört. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass er ihr von dieser Frau erzählen wollte, die er unterwegs kennengelernt hatte. Tereza.
»Noch sind wir das«, sagte er geheimnisvoll. »Aber wir packen gerade. Wir haben uns nämlich entschieden, heute nach Spanien aufzubrechen.«
»Oha.« Dass ihr Bruder und seine Freunde noch vor dem Mittag weiterzogen, war ungewöhnlich. Die drei hatten sich eine Auszeit von mehreren Monaten genommen, um sich durch einen Teil Europas treiben zu lassen und dabei jede Art von Hektik zu vermeiden. »Wessen Idee war das? Deine? Oder stammt sie von Ben und Lukas?«
Simon gab einen Laut von sich, der an einen Hundewelpen erinnerte. »Die beiden bleiben noch in Portugal.«
Sofie stutzte. »Was ist los, habt ihr euch gestritten?« Sie hörte selbst, wie unpassend das klang, als wäre Simon ein kleiner Junge und keine fünfundzwanzig.
»I wo«, sagte er. »Die zwei haben einfach noch Lust auf Porto. Aber Tereza hat mich überredet weiterzuziehen. Rat mal, wohin!« Natürlich ließ er ihr keine Zeit für eine Antwort. »Wir fahren nach Valencia! Genauer gesagt nach Cielente.«
Das kam unerwartet. »Was, in Opas Dorf?«
»Ja. Tereza kann nicht verstehen, dass wir Wurzeln in Spanien haben und dort niemanden kennen. Oder dass wir die Gegend noch nie besucht haben, in der Opa Nando zu Hause war.«
Sofie schielte zu dem Foto an der Wand. »Das liegt womöglich daran, dass er keine Verbindungen...
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