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Emilia atmete auf, als sie vor Opa Walters kleinem, gemütlichem Haus stand, an dem das Efeu dringend gestutzt werden musste. Seit Renates Tod hatte er - hatten sie alle - solche Dinge vernachlässigt, aber das war in Ordnung. Erst einmal würden sie dafür sorgen, dass Opa Walter den Verlust verarbeitete, alles andere konnte warten.
Sie lockerte Arme und Beine, da ihr die lange Fahrt in den Knochen steckte, klingelte und lächelte, als sie Diane aus dem Inneren hörte. Sie freute sich auf das Wochenende, auch wenn die Stimmung nicht immer fröhlich sein würde. Aber die vergangenen Tage waren die schlimmsten gewesen, die sie jemals bei Scheller erlebt hatte, und sie musste auf andere Gedanken kommen. Zwar waren ihre Befürchtungen nicht eingetreten - man hatte ihr keine Kündigung ausgesprochen -, aber selbst das wäre besser gewesen. Nein, Mirko und sein Vater hatten sie vorgestern ins Meeting gebeten und ihr die neuen Abteilungspläne vorgestellt.
In denen sie nicht mehr vorkam.
Stattdessen hatte Mirko versucht, ihr einen Platz am Empfang zu verkaufen. »Es hat in der Vergangenheit einige Schwierigkeiten und Fehlinformationen gegeben, und mit einer erfahrenen Kraft wie dir, die die Firma in- und auswendig kennt, würden wir so etwas in Zukunft vermeiden.«
Mit anderen Worten: Man plante, sie zur Sekretärin zu degradieren, und sie ahnte den Grund bereits, ehe sie den Namen an der Stelle im Organigramm las, an der ihrer stehen sollte: Jana Schumann.
Eduard Scheller war das Ganze sichtlich unangenehm gewesen, und er hatte mehrmals betont, dass sich ihr Gehalt in der neuen Position selbstverständlich nicht verringern würde. Emilia hatte dazu geschwiegen, da sie vor allem perplex gewesen war. Und auch wenn sie es ihrem Chef gegenüber noch nicht ausgesprochen hatte, war ihr klar, dass sie nicht mehr in der Firma bleiben konnte. Nicht, wenn sie täglich Jana begegnete, die nun ihre Aufgaben übernahm, während sie selbst Telefondienst schob und Dienstreisen für die anderen buchte.
Die Tür öffnete sich und riss sie aus ihren Gedanken. Emilia starrte in Opa Walters Gesicht - und erschrak. Er sah so dünn aus, so zerbrechlich! Bei ihrem Besuch direkt nach Renates Tod und den Videoanrufen war ihr das nicht so stark aufgefallen, doch seither schien er weiter abgebaut zu haben. Auf seiner stets braunen Haut lag eine ungesunde Blässe, die zahlreichen Falten hatten sich vertieft, und sein Blick war nicht mehr so entschlossen wie sonst, sondern hilflos. Haltsuchend. Als hätte er nicht nur seine Lebensgefährtin, sondern sich selbst verloren.
»Opa«, sagte Emilia und war selbst erstaunt, wie erschrocken sie klang.
Er versuchte ein Lächeln, doch seine Lippen zitterten. Ebenso wie seine Hand, als er sich über den Kopf fuhr, wo das weiße Haar wie das Efeu zu lang geworden war. »Emilia. Ich freue mich so, dich zu sehen.« Seine Stimme brach, und als ihr sonst so starker Opa versuchte, die Fassung zu bewahren, traten ihr die Tränen in die Augen.
»Ich freue mich auch«, sagte sie, blinzelte und versuchte ein Lächeln. Im nächsten Moment nahm er sie in die Arme, tätschelte ihren Rücken und hielt sich doch an ihr fest.
Sie legte den Kopf an seine Schulter, wie sie es so oft getan hatte, wenn es ihr nicht gut ging. Nur achtete sie dieses Mal darauf, ihn zu halten. »Ich bin da«, flüsterte sie, als ein Beben durch seinen Körper lief. In ihrem ganzen Leben hatte sie ihn nur zweimal weinen sehen.
Eine Weile standen sie reglos, bis Opa Walter sich von ihr löste und verstohlen über seine Wangen wischte. »Na, dann komm rein und trink einen Kaffee, damit wir den Nachbarn hier draußen keine Vorstellung liefern und deine Cousine ungeduldig wird.«
»Ich bin schon ungeduldig!«, schallte es aus der Diele und schickte ein Lächeln auf Emilias und auch Opa Walters Gesicht. Doch, das Wochenende würde ihnen guttun. Ihnen allen dreien.
»Da hat sich was bewegt!« Diane wich zurück und deutete auf den Boden.
Emilia betrachtete den Bereich, doch sie fand nichts bis auf Regale, in denen Schachteln und Dekorationen lagerten, sowie größere Kartons und Plastikkisten am Boden. Renate hatte dafür gesorgt, dass hier unten Ordnung herrschte; selbst der Werkzeugraum war vorbildlich aufgeräumt. Aber sie hatte auch im Laufe der Jahre viel angesammelt und sich nur schwer von Dingen trennen können. Opa Walter hatte stets betont, dass Renate und seine erste Frau Marie - Emilias und Dianes Oma, die leider kurz nach der Geburt von Emilias Vater verstorben war - nicht unterschiedlicher hätten sein können. Und obwohl er noch immer trauerte, hatte er entschieden, sich von einem Teil hier unten zu trennen. Vielleicht konnte er den Abschied von Renate besser verarbeiten, wenn ihn nicht alles an sie erinnerte.
Die Traurigkeit kam in Schüben, und nachdem sie sich zu dritt ins Wohnzimmer gesetzt sowie einen ersten Kaffee getrunken hatten und die Unterhaltung lebhafter geworden war, hatte ihr Opa sich wieder entspannt und sogar gelächelt. Es gab eben nichts Heilsameres als die Gesellschaft lieb gewonnener Menschen. Kurz darauf hatten sich Emilia und Diane zum Entrümpeln aufgemacht.
»Da ist nichts«, sagte Emilia. »Überhaupt ist das hier einer der ordentlichsten und hellsten Keller, die ich je gesehen habe. Keine Ratten, keine Spinnen. Na los, nehmen wir uns die großen Kartons vor.« Sie griff nach dem ersten und öffnete ihn. »Klamotten. Die können wir nachher zur Altkleidersammlung bringen.«
Diane beobachtete sie eine Weile, machte sich dann aber ebenfalls wieder an die Arbeit. »Ach du meine Güte, das sind meine alten Zeichenmappen. Ich wusste nicht, dass die noch existieren.« Sie zog sie hervor und begann zu blättern.
Nachdem sie drei Kartons voller Kleidung beiseitegestellt hatten, schrie Diane auf.
Emilia fuhr herum. »Eine Spinne?«
»Ein Koffer.« Di schwenkte ein antikes Modell, das an den Ecken völlig abgenutzt war. »Der ist noch aus Hartpappe. Wie alt mag der wohl sein?«
Emilia trat näher. »Schwierig zu sagen. Fünfzigerjahre? Sechzigerjahre?« Der Metallgriff war noch intakt, eines der beiden Schlösser jedoch abgebrochen.
Di schüttelte ihn. »Da ist was drin.« Sie legte ihn auf den Boden, öffnete das zweite Schloss und klappte ihn auf. Zunächst dachte Emilia, sie hätten sich geirrt und er wäre leer, aber dann entdeckte sie die Papiere, die halb vom Innenfutter verdeckt wurden, das sich an einer Seite gelöst hatte. »Das ist ein Umschlag.«
Behutsam griff sie danach. Er fühlte sich brüchig und alt unter ihren Fingern an und flüsterte ihr von Zeiten zu, in denen sie noch nicht geboren war. Der Name des Empfängers war verwischt und mit der Zeit verblasst, lediglich das in geschwungener Schreibschrift verfasste France war zu lesen. Opa Walters Name prangte als Absender in der linken oberen Ecke. Emilia drehte den Brief. »Verschlossen. Aber die Poststempel stammen aus Deutschland und Frankreich. Der muss damals zurückgekommen sein. Das hat sicher irgendwas mit Opas Zeit als Tischler in der Provence zu tun.«
»Seltsam«, sagte Di. »Sollen wir ihn öffnen?«
»Nein, das müsste er schon selbst machen.«
»Hm.« Di kämpfte eindeutig mit ihrer Neugier. »Sieh mal, da ist noch mehr.« Kurz darauf streckte sie Emilia zwei Papiere entgegen. In der Mitte des ersten war ein Herz zu sehen.
»Sind das getrocknete Blüten?« Emilia hielt das Blatt schräg, damit die Sonne durch das kleine Gitterfenster darauf fallen konnte.
»Bingo!« Diane wackelte mit den Augenbrauen. »Ich präsentiere: ein aus Lavendelblüten geklebtes Herz.«
»Und was steht da in der Mitte?« Sie tastete über die Bögen und Schwünge, die an vielen Stellen bereits Lücken aufwiesen. Die Blüten hatten im Lauf der Jahre an Farbe verloren, waren teilweise zerfallen, und auch jetzt rieselten feine Partikel im Licht zu Boden. »Jette? Ja, da steht eindeutig Jette.«
Diane runzelte die Stirn. »Ist das nicht ein Frauenname?« Ehe Emilia antworten konnte, zückte sie ihr Handy und tippte darauf herum. »Ha, ich wusste es! Das Internet sagt, er ist althochdeutsch und die Kurzform von Henriette.« Sie machte große Augen. »Oha. Denkst du, es gab damals eine Frau vor Oma Marie?«
Emilia zuckte die Schultern und wandte sich dem zweiten Papier zu. Es war mit wenigen Zeilen auf Französisch beschrieben. Die Übersetzung bereitete ihr keine Probleme, aber sie brauchte einen Moment, um die mit Schwüngen versehene, altertümliche Schrift zu entziffern. »Das ist eine Art Bestätigung über . Arbeit?« Sie las das Ganze noch einmal. »Das ist ja seltsam. Hier schreibt ein gewisser Jacques Borel, dass Opa zwei Monate lang als Helfer auf seiner Lavendelfarm in Monieux war. Vielleicht ist das eine Art Arbeitszeugnis?« Das war ihr neu, und sie versuchte, es mit dem zu verknüpfen, was sie über die Zeit wusste, in der ihr Opa im Ausland gewesen war.
Walter hatte Deutschland mit siebzehn verlassen und war erst nach knapp zwei Jahren zurückgekehrt. Noch immer schwärmte er von der Landschaft, die ihm damals wie eine andere Welt erschienen war, erzählte von seinen Aufträgen und Arbeiten. Nur eine Lavendelfarm hatte er nie erwähnt. Als Emilia klein gewesen war, hatte er ihr einige Sätze auf Französisch beigebracht. Je veux un biscuit - ich möchte einen Keks, oder Mon nounours s'appelle Monsieur Bummel - mein Teddy heißt Herr Bummel. Was man als Kind eben so benötigte. Die französischen Wörter und Floskeln waren sicherlich einer der Gründe, warum sie sich in diese Sprache verliebt...
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