Schweitzer Fachinformationen
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Jonas Lüscher, geboren 1976 in der Schweiz, lebt in München. Seine Novelle "Frühling der Barbaren" (C.H.Beck 2013) entwickelte sich zum Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Sie wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und fürs Theater adaptiert. Lüscher erhielt u. a. die Literarische Auszeichnung des Kantons Bern, den Hans-Fallada-Preis und den Prix Franz Hessel.
Wir haben alle schon mit Liebe zu tun gehabt, von der wir dann einsehen mussten, dass wir sie uns nicht leisten können.
Paul Ford
Das Rumsfeldporträt hängt direkt in Krafts Blickachse. Wenn er wieder nicht weiterweiß und sein Blick über den Rand seines Notebooks hinweg in der Leere schwimmt, erscheint es als verwaschener Fleck in Rot, Blau und Grau vor der eichengetäfelten Wand. Es dauert immer nur wenige Atemzüge, bis sich die kalten Augen des Verteidigungsministers hinter der randlosen Brille ihr Recht verschaffen und eine Art Leitstrahl aussendend, sich Krafts Bewusstsein bemächtigen, ihn unwillkürlich zum Fokussieren zwingen, sodass sich die Farbflecken in einer einzigen schnellen, fließenden Bewegung zu einem konkreten Bild verdichten, die tiefen Nasolabialfalten hervortreten, der lippenlose Mundstrich, die etwas kurz geratene Nase - die so gar nicht zu der scharfen Ausdrucksweise, für die der alt- und ausgediente Falke berüchtigt war, zu passen scheint -, das akkurat gekämmte silberne Haar, der straffe Krawattenknoten, der den Hühnerhals fest umklammert hält und unter Zuhilfenahme des gestärkten Hemdkragens die selbstsichere, spöttische Visage daran hindert, dem nadelgestreiften Tuch zu entkommen, um auf den Adlerschwingen, die sich aus den Falten einer himmelblauen Fahne hinter dem rechten Ohr des berüchtigten Aphoristikers ausbreiten, in höhere Gefilde zu entschwinden.
Warte nur, denkt sich Kraft am siebten Tag, an dem er, tatenlos unter solcher Beobachtung stehend, sich wieder einmal durch diese Aufmerksamkeit verlangenden Augen aus seinen leeren Gedanken gerissen sieht, dir zum Trotz werde ich nach einem europäischen Ton suchen. Dies ist es, was ich zu tun gedenke. Einen europäischen Ton, in dem sich Leibniz' Optimismus und Kants Strenge mit Voltaires verächtlichem Schnauben und Rabelais' unbändigem Lachen verbinden und sich in Hölderlin'schen Höhen mit Zolas Gespür für das menschliche Leiden vereinigen wird und Manns Ironie . nein, Mann würde er außen vor lassen, diesen halben Kalifornier.
Erst hatte er an einen Scherz geglaubt, als er vor sechs Monaten Ivans Mail aus Stanford mit dem Betreff Theodizee geöffnet hatte, aber Ivan beliebte nicht zu scherzen, noch nie, auch damals schon nicht, als sie sich einundachtzig in Berlin kennengelernt hatten, und die regelmäßige Korrespondenz, die sie in den letzten Jahrzehnten ausgetauscht hatten, zeigte in ihrer schnörkellosen Sachlichkeit, dass weder die verstrichene Zeit noch die kalifornische Sonne daran etwas zu ändern vermocht hatten. Dear Dick, lautete die englische Anrede, an die sich Richard Kraft längst gewöhnt hatte, so, wie er sich an das Ivan gewöhnt hatte, mit dem István Pánczél irgendwann - etwa zur gleichen Zeit, als kurze E-Mails die mit der Maschine getippten Briefe auf dünnem blauen Luftpostpapier abgelöst hatten - seine Nachrichten zu unterzeichnen begann. Und dann fuhr er fort, deine Teilnahme ist sehr erwünscht. Sämtliche Kosten übernehmen wir. Give my regards to Heike and the twins. Best, Ivan.
Im Anhang fand Kraft die aufwendig gestaltete Ausschreibung einer Preisfrage, die man zum Anlass des dreihundertsiebten Jahrestages des Leibniz'schen Essays zur Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit der Menschen und den Ursprung des Übels zu stellen gedachte und in Anlehnung an die Preisfrage der Berliner Akademie von 1853 Gefordert wird die Untersuchung des Pope'schen Systems, wie es in dem Lehrsatz «Alles ist gut» enthalten ist, allerdings um einiges schlanker, aber auch optimistischer, folgendermaßen formuliert hatte:
Theodicy and Technodicy: Optimism for a Young Millenium
Why whatever is, is right and why we still can improve it?
Der Modus Operandi war klar geregelt. Die Beiträge sollten an einem einzigen Nachmittag im Cemex Auditorium der Stanford University präsentiert werden. Eine schnelle Abfolge von Vorträgen, das Zeitlimit von 18 Minuten durfte nicht überschritten werden, der Einsatz von Präsentationssoftware war ausdrücklich erwünscht, das Publikum ausgewählt und illuster, die Welt - die Organisatoren schienen sich sicher, dass die Welt interessiert sei - per Livestream zugeschaltet. Dem Verfasser der preiswürdigsten Antwort winkte eine Million Dollar.
Ja, dachte Kraft, damit durfte man sich natürlich der Aufmerksamkeit der Welt gewiss sein.
Er blieb für einen Moment, bevor er weiterlas, an einem verrutschten Bubengesicht im besten Mannesalter hängen. Tobias Erkner, Entrepreneur, Investor and Founder of The Amazing Future Fund, benannte die Bildlegende den Mann mit der platten Nase und der Reflexion einer ringförmigen Blitzlampe in der Iris, die ein jugendlich-enthusiastisches Funkeln in die eigentlich ausdruckslosen Augen zauberte. Kraft konnte sich nicht erinnern, jemals einen Text gelesen zu haben, der ihm in ähnlicher Weise seinen Verstand zu sprengen drohte, wie jener, in dem ebendieser Tobias Erkner unter seinem eigenen Porträt seine Vision darlegte und begründete, weshalb es so dringlich sei, dass sich die Besten und Klügsten, weltweit, mit dieser Frage befassten und er deswegen bereit sei, eine Million Dollar aus seinem Privatvermögen als Preisgeld auszuschreiben.
Nicht, dass Kraft keine Erfahrung mit Texten gehabt hätte, in denen die seltsamsten Ideen aus der Geistesgeschichte mit den krudesten weltanschaulichen Überzeugungen legitimiert wurden. Das kannte er von einer bestimmten Sorte intelligenter Erstsemester, die in zu jungen Jahren zu viel vom Falschen gelesen hatten, was im Zusammenspiel mit einer bestimmten hormonellen Disposition zu einer schwierigen Gemengelage führen konnte; so etwas bügelte er in der Regel in ein, zwei Semestern glatt.
Aber das hier war etwas anderes. Scheinbar mühelos und mit bestechender Selbstverständlichkeit gelang es dem Gründer des Amazing Future Fund augenscheinlich, Widersprüchliches, offensichtlich Falsches und klar erkennbar nicht Zusammengehörendes in einen gänzlich logisch wirkenden Zusammenhang zu bringen. Was Kraft am meisten verstörte, war das völlige Fehlen jeglicher emphatischer Rhetorik. Die Sprache war glasklar, schnörkellos, frei von allen Versuchen, den Leser in emotionale Geiselhaft zu nehmen. Es wäre mühelos möglich gewesen, den ganzen Text logisch zu formalisieren, in eine Kolonne von Prädikatoren und Junktoren zu verwandeln, an deren Ende mit zwingender Notwendigkeit Erkners Konklusion zu stehen hätte, auch wenn, das lag für Kraft auf der Hand, jede seiner Prämissen falsch war. Aber es war, als ob das den Verfasser nicht zu interessieren brauchte, nicht, solange den Gesetzen der formalen Sprache Genüge getan war. Kraft war erschüttert.
Leider war er nicht in der Lage gewesen, Erkners Stringenz zu reproduzieren, als er Heike zu erklären versuchte, weshalb er sie im September für vier Wochen mit den Zwillingen allein lassen müsse. Sie hatte gelacht, und beschämt hatte er auf ihre großen, nackten Füße mit den lackierten Nägeln geblickt.
Das Finden eines bestimmten Tones, sei es ein europäischer, wie er Kraft vorschwebt, oder irgendein anderer, gestaltet sich schwierig, denn es ertönt allenthalben und zu beinahe jeder Uhrzeit ein dumpfes Brausen und wütendes Heulen in den Räumen der Hoover Institution on War, Revolution and Peace. Ein Dröhnen und Fauchen, das einem altertümlichen edelstählernen Gehäuse entweicht, welches wie ein Jetpack auf dem Rücken einer dicken Mexikanerin sitzt, sodass Kraft sich gelegentlich der Vorstellung hingibt, dass nur ihre Leibesfülle sie am Abheben hindert und dass auch deswegen das Gerät so angestrengt, so hörbar an der Leistungsgrenze arbeitet, mit einem an- und abschwellenden Brüllen im Rhythmus der gierigen Schnauze, die die Frau stoisch über den Spannteppich schiebt. Es scheint immer etwas zu saugen zu geben in der Hoover Institution on War, Revolution and Peace.
Würde sich Kraft mit der gestellten Aufgabe leichter tun, so käme ihm vielleicht der Gesichtsausdruck des ehemaligen Verteidigungsministers weniger spöttisch und der Lärm des Staubsaugers weniger laut vor und es würde ihm gelingen, beides auszublenden, so aber bleibt ihm nichts anderes übrig, als regelmäßig dem süffisanten Falken und der Frau mit dem fauchenden Gerät zu entfliehen und in die Höhe des vierzehnten Stockwerkes, des mit Büchern über den Krieg, den Frieden und die Revolution gefüllten Turmes zu fahren, in der Hoffnung, es sei noch zu früh für eine der großen asiatischen Reisegruppen, die ihn in seiner Kontemplation...
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