Schweitzer Fachinformationen
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Meine Urgroßmutter ist eine der letzten Bewohnerinnen unserer Siedlung mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Sie ist Stylistin. Hairdresser. Zu ihrer Zeit nannte man das noch Friseurin. Meine Uroma sagt aber, mit dem Wort Friseur auf dem Ladenschild hätte man sich die junge Kundschaft schon damals vergrault. Zu einem Friseur gehen nur alte Weiber - Wickel aufdrehen, sagt sie. Mit denen hat man damals schon kein Geld verdienen können. Die wollten immer nur dasselbe, und das immer nur einmal im Monat. Trendige Frisuren, knallige Farben und teure Haarkuren verkauft man nur als Stylist. Promis haben Stylisten, und damals, damals - meine Uroma betont dieses kleine Wörtchen immer so ausgiebig, als könnte sie ein Stückchen dieser Zeit zurückbringen, wenn sie es nur oft und laut genug sagt und mit einer möglichst ausschweifenden Geste untermalt -, damals wollten alle Frauen aussehen wie Suri Cruise oder Shiloh Jolie-Pitt. Ich weiß nicht, wer die beiden sind, weiß auch nicht, wie ihre Haare ausgesehen haben, und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Ich verspreche meiner Uroma jedes Mal aufs Neue, Suri Cruise zu googeln, die ihrer Aussage nach die Modewelt revolutioniert hat. Spätestens wenn meine Omma in ihrem Rollstuhl zur Tür hinausgefahren ist, habe ich es aber schon wieder vergessen.
Meine Mutter wäre sicherlich auch Hairdresser geworden, hätte der Staat diesen letzten handwerklichen Beruf nicht irgendwann mit einer Verbeamtung verknüpft, um dem wahnsinnigen Andrang Herr zu werden, den das Aussterben der Dienstleistungsberufe mit sich brachte. Da jeder Mensch hin und wieder einen neuen Haarschnitt braucht und das Durchführen von Hygienemaßnahmen nicht nur seiner Gesundheit, sondern auch seinem seelischen Wohlbefinden dient, wurde jedem Bewohner der Bundesrepublik Deutschland von da an alle sechs Monate ein Styling bewilligt. Das ist heute noch so. Hairdresser wird man allerdings nicht mehr so leicht. Meine Urgroßmutter hat vor über siebzig Jahren eine Ausbildung gemacht. Sie hat in einem Salon gelernt und ist nebenbei zur Berufsschule gegangen. Heute braucht man ein einwandfreies psychologisches Gutachten, ein makelloses Führungszeugnis und einen Hochschulabschluss, um an der Fashion-Academy in Berlin zu studieren, die jedes Jahr etwa fünfzig Studenten aufnimmt. Die Tochter meiner Urgroßmutter, Mamas Mama also, war schon damals nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur eine dieser Voraussetzungen zu erfüllen. Und auch wenn sie es gewesen wäre: Spätestens die strengen Auswahlkriterien, die IQ-Tests und die Persönlichkeitsfestsetzungen hätten sie früher oder später aus dem Rennen geschmissen. Und wenn nicht die, dann die Studiengebühren. Die konnte man schon damals nicht mit Lebensmittelgutscheinen bezahlen.
Haareschneiden hat meine Mutter aber trotzdem noch gelernt. Von meiner Uroma. Zwar hat uns das nicht aus der Siedlung gebracht, aber wenigstens kann sie heute mit ruhigem Gewissen den Hygienegutschein aus ihrem E-Mail-Postfach entsorgen, wenn er alle sechs Monate pünktlich mit einem freudigen Bing in einem Briefumschlag, mit goldenem Adler bestempelt, auf unserem Bildschirm auftaucht. Sie kann ihn virtuell das Klo runterspülen und dabei ganz laut auf die Regierung schimpfen, die ihr diese einzige Chance auf ein spannendes Leben durch ihre bescheuerten Sparmaßnahmen gründlich versaut hat. Die Haare meiner Kinder schneide ich selbst. Wenigstens was den Kopf angeht, sehen meine drei nicht aus wie alle anderen Bälger dieser beschissenen Siedlung.
Meistens sage ich nichts dazu. Was soll ich schon sagen? Mir geht es gut. Ich habe alles, was ich brauche. Ich friere nicht. Ich habe genug zu essen. Ich kann lesen und schreiben. Keiner friert mehr, keiner hungert. Für jeden Menschen ist gesorgt. Wir sitzen auf dem Sofa, so wie Milliarden andere auch, schalten durch die unzähligen Kanäle unseres Mediasystems und erkunden die Welt. Wenn wir Hunger haben, essen wir. Wenn wir müde sind, schlafen wir. Wenn es draußen grau und eklig wird, schaltet sich die Heizung ein. Wenn es zu heiß wird, läuft die Klimaanlage. Wenn wir etwas wissen wollen, fragen wir Google. Wenn ich mit jemandem sprechen möchte, schreibe ich ihm eine Nachricht. Oder ich rufe ihn an. Manchmal treffen wir uns und sehen uns die Welt hinter dem Bildschirm gemeinsam an.
Wir sind alle gleich. Keinem geht es besser, keinem geht es schlechter. Worüber will ich mich also beschweren? Ich verstehe die Alten nicht. Ihr ständiges Gerede von damals. Wer bitte möchte schon freiwillig Teil einer Ellenbogengesellschaft sein? Sich dem ständigen Leistungsdruck unterwerfen, den ganzen Tag arbeiten, Stunden absitzen, bis irgendwann das Hirn krepiert und man anfängt, sich mit Psychopharmaka vollzustopfen - und am Ende bekommt man nur ein Magengeschwür davon. Die Welt hat sich beruhigt. Der Staat hat die Welt beruhigt. Er hat ihr eine Auszeit gewährt. Seit der Reformation vor sechzig Jahren hat es keine nennenswerten Unruhen mehr gegeben - nirgendwo. Es war an der Zeit, hart durchzugreifen. Die ganze Menschheit wurde neu strukturiert, schnell und kostengünstig. Unser technischer Fortschritt hat einen solchen Wandel erst möglich gemacht. Zuerst wurde das Grundbedürfnisversorgungssystem, kurz GbVS, noch lauthals verschrien, als kommunistische Missgeburt beschimpft und von allen sozialen Parteien dieser Welt abgelehnt. Ein Testlauf in Brasilien aber hat die Welt dann schlussendlich doch davon überzeugt, dass GbVS die einzige Möglichkeit ist, den Missständen unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Kriminalitätsrate ist schlagartig gesunken, die Staatskassen wurden von Jahr zu Jahr voller, und die Sterblichkeitsraten sanken rapide ab. Keine zwei Jahre später wurde GbVS weltweit eingeführt, und endlich kehrte Ruhe ein. Geld spielt jetzt keine Rolle mehr. Jedenfalls nicht für uns. Und das ist gut so. Mehr braucht man nicht zu wissen heutzutage.
Wissen ist Macht? Hat irgendwann irgendwer mal gesagt, ja. Vielleicht war es Suri Cruise? Oder Shiloh Jolie-Pitt? Was gibt es schon großartig zu wissen? Wen interessiert, was ich weiß? Ich schlafe, wenn ich müde bin, ich esse, wenn ich Hunger habe. Wenn ich krank bin, bekomme ich Medizin. Wenn meine Schuhe zu klein sind, krieg ich welche, die eine Nummer größer sind. Wenn ich alt genug bin, um auszuziehen, bekomme ich eine Wohnung. Wenn ich einen Partner habe, ein größeres Bett. Wenn mir langweilig ist, setze ich mich aufs Sofa und erkunde die Welt. Diese Alten und ihr ewiges Gejammer. Damals, damals hatten wir noch Träume. Damals konnten wir werden, was immer wir sein wollten. Wir waren einzigartig, jeder für sich - so ein Schwachsinn! Wozu mir mein Hirn darüber zerbrechen, was ich werden will? Warum ein Leben lang kämpfen, um Macht, Geld und Anerkennung? Warum? Wenn ich doch auch hier auf meinem Sofa liegen und mir die Welt mit trockenen Füßen ansehen kann.
Abschlussarbeit Gesamtschule s1-3, 20.06.2089, Laser Blue Potlowski - Wie GbVS die Welt beruhigte
Bestanden steht in roter Schrift - die, wie ich glaube, so aussehen soll, als hätte sie jemand mit der Hand geschrieben - unter dem Text, den ich vor gut einem halben Jahr an die Schulbehörde geschickt habe. Sehr differenziert betrachtet. Die harte Arbeit hat sich ausgezahlt. Ich runzle die Stirn. Ich hab den blöden Text in einer halben Stunde geschrieben. Als letzten Teil meiner Abschlussprüfung für die Schule. 1,0 - sehr gut, steht da noch. Daneben prangt ein dicker Daumen, der wohl ausdrücken soll, dass der Behörde mein Text gefallen hat. Weil meine Arbeit laut dem angehängten Schreiben wohl die beste meines Jahrgangs war, bekomme ich nicht nur eine Auszeichnung (im Anhang), sondern auch noch einen zusätzlichen Hygienegutschein (auch im Anhang). »Wer auch immer für den Anhang des Gutscheins verantwortlich war, hat meine Arbeit mit Sicherheit nicht gelesen«, denke ich frustriert. Ich hätte mich über ein oder zwei seltene Items auf meinem Battle-Commander Account gefreut oder über ein paar Punkte für meinen Highscore, aber so weit denken die von der Schulbehörde wohl nicht.
Im Bett neben mir stöhnt mein kleiner Bruder Blast genervt auf. Er hat vormittags Unterricht, sitzt in seinem Bett, ein Kissen im Rücken, ein Tablet auf dem Schoß und einen Stöpsel im Ohr. Mit einem Plastikstäbchen kritzelt er auf dem Screen herum und ärgert sich über...
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