eins
Carmen Herrera: Black and White, 1987. Acrylic on canvas. 182.9 × 152.4 cm. © Estate of Carmen Herrera; Courtesy Lisson Gallery. Foto: Ken Adlard Welche junge Frau wäre
freiwillig gern ein alter Mann?
Ein junger Mann, der ein guter Freund wurde, stellte sich bei unserer ersten Begegnung mit dem Satz vor: »Hallo, ich heiße Daniel. Aber eigentlich bin ich eine alte Frau.« Er war Mitte dreißig. Heute ist auch er älter als sechzig und immer noch zufrieden mit diesem Bild von sich. Kürzlich schickte er über WhatsApp ein historisches Schwarz-Weiß-Foto mit der Rückenansicht einer offenbar alten Frau, aufrecht im Kostüm mit Hut und einer schnurgeraden Strumpfnaht unter dem züchtig kniebedeckenden Rock, in Pumps und mit Henkeltasche über dem Arm. »Ich schon wieder«, hatte er darunter geschrieben. Er liebt Männer und Frauen, wenn sie nicht zu jung sind. Seit er selbst jung war, sieht er in sich auch eine alte Frau und ist völlig damit einverstanden.
Welche junge Frau wäre freiwillig gern ein alter Mann?
Daniels Wunsch muss etwas damit zu tun haben, wie alte Frauen sind. Wie sie nicht sind. Als ich ihn einmal fragte, war die Antwort knapp. »Schau deine Mutter an«, sagte er, da war sie Anfang achtzig. Meine Mutter war bis zu ihrem Tod mit dreiundneunzig in jeder Hinsicht einzigartig. Intellektuell anspruchsvoll, materiell nicht so sehr. Sie war die erste Frau, die mir erzählte, es sei Unfug, wenn behauptet würde, Begehren und Lust ließen in den Wechseljahren nach, ich solle mir das später nicht einreden lassen. Ich war fünfundzwanzig bei diesem Gespräch, das mir etwas peinlich war, deshalb fragte ich nicht weiter, was ich seit Langem bedaure und sie, glaube ich, ein wenig enttäuschte.
Meine Mutter war Mitte sechzig und Witwe damals. Nachdem ihr dritter Mann gestorben war, lebte sie sechsunddreißig Jahre lang allein, jammerte nie, ging jeden Tag im Wald spazieren, kochte, was die Jahreszeit hergab, las und diskutierte leidenschaftlich und hatte in den letzten Jahren ihres Lebens wieder einen Freund, der dreißig Jahre jünger war als sie. Mit ihm fuhr sie mit neunzig nach Syrien, weil er Palmyra, das damals noch als berühmte Ruine zwischen Hochland und Wüste stand, nicht kannte, sie aber wohl. Natürlich wurden sie und Daniel enge Freundinnen.
Alte Frauen sind nicht überall so beliebt. Und nicht alle alten Frauen sind wie meine Mutter, nicht einmal so ähnlich. Aber viel mehr, als man denken könnte, wenn man sich umschaut, obwohl sie aus der Öffentlichkeit, das ist nichts Neues, je älter, desto mehr verschwinden und als Faktotum erst wieder auftauchen, wenn sie auf die hundert zugehen. Rekordalte nannte das mal jemand, ich habe vergessen, wer, wo und wann, aber ich erinnere mich, dass ich zusammenzuckte, als es mit der Klage weiterging, wie teuer sie für die Sozialsysteme seien. In der Kunstwelt lässt sich dagegen seit etwa zehn Jahren eine Begeisterung für sehr alte Frauen beobachten. Je älter eine Künstlerin ist, so scheint es, und je länger sie übersehen wurde, desto lauter jubelt der Betrieb, wenn sie »entdeckt« wird. Manchmal ist sie dann schon tot.
In Gesprächsrunden zur aktuellen Lage, andererseits, sind sie rare Gäste, sei es auf Bühnen oder in anderen Formaten, als Expertinnen selten gefragt, anders als emeritierte Professoren oder Generäle a. D., was vermutlich auch damit zu tun hat, dass in ihrer Generation noch nicht so viele in entsprechenden Positionen waren. Es hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass niemand die alten Frauen anschauen will. Bei Männern nivelliert die Veränderung der äußeren Erscheinung über die Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung nicht die Persönlichkeit - den Intellekt, die ihnen entgegengebrachten Gefühle oder ein Begehren. Ihre Meinung ist nicht weniger gefragt, wenn die Haare ausgehen und der Bauch schwillt, im Gegenteil. Bei Frauen wohl. Als verlören sie mit ihrer glatten Haut alles, was sie sind, und dabei bleibt es, auch wenn sie es korrigieren lassen. Sie können auf diesem Feld bisher nur verlieren. Es gibt keinen Grund, dass dies so sein oder so bleiben muss. Außer der Konvention. Außer dem Jugendwahn, den uns das 20. Jahrhundert mit dem Konsumismus eingebrockt hat, und der mit der sexistischen Fixierung auf den Frauenkörper eine, so scheint es, kaum auflösbare Allianz eingegangen ist.
Rette sich, wer kann.
Manchen ist es inzwischen gelungen. In den sozialen Medien können alte Frauen ebenso wie alle anderen, wenn sie wollen und den richtigen Dreh raushaben, als fiktive Figur eine riesige Gefolgschaft finden wie etwa Lyn Slater, »the accidental icon«, die irgendwann mit ihrer Nummer als »altes Model« bei Instagram aufhörte, um ein Buch zu schreiben, in dem sie dafür wirbt, »sich im Alter neu zu erfinden«. Aber nicht alle alten Frauen wollen »performen«. Nicht alle die verrückte Nudel spielen. Was wäre stattdessen oder daneben eine neue Selbstverständlichkeit? Eine, in der auch weibliche Lebenserfahrung gesellschaftlich produktiv werden darf? In der das Alter nicht das alles bestimmende Merkmal wäre? Jugend ist kein gutes Maß, wenn es ums Leben geht.
Der zarte Ansatz einer solchen möglichen neuen Selbstverständlichkeit im Ansehen alter Frauen zeigte sich in der Werbekampagne der Luxusmarke Céline, die Jürgen Teller mit Joan Didion für die Vogue fotografierte. 2015 war das, zehn Jahre her: schon/erst. Joan Didion - längst eine Stilikone, vor allem für die Art ihres Schreibens, aber genauso aufgrund ihrer Erscheinung, was die Sache vereinfachte - war da knapp über achtzig, trug eine riesige undurchsichtig schwarze Sonnenbrille des Labels aus Schildpatt-Imitat, die aus ihrem Nachlass später für 27.000 Dollar versteigert wurde, und sah phantastisch aus. Faltig. Mager. Distanziert, rätselhaft, etwas kauzig, und klug. Nun können nicht alle Frauen wie Joan Didion sein, und vielleicht möchte das auch nicht jede. Aber seitdem, so mein Eindruck, sind alte, sagen wir: ältere Frauen ein wenig häufiger präsent, auf Laufstegen manchmal, wie kurz nach der Didion-Kampagne Lyn Slater bei Valentino, und in Werbestrecken, aber auch auf den Bühnen, im Tanz sogar, wo mancher denken könnte, eine gewisse Jugendlichkeit sei aus praktischen Gründen geradezu alternativlos. Spätestens seit ihrer internationalen Tour No Space for Age haben das die Pina-Bausch-Tänzerin Malou Airaudo und Germaine Acogny, die gern die »Mutter des afrikanischen Tanzes« genannt wird, widerlegt. Die eine knapp unter, die andere knapp über achtzig. Und haben sich nicht auch die Klatschmäuler längst an Brigitte Macron gewöhnt, fünfundzwanzig Jahre älter als ihr Mann und jenseits der siebzig inzwischen?
Eine sporadische, eine punktuelle Präsenz. Aber immerhin. Irgendwann wird nicht mehr als Makel gelten, was heute noch selbstverständlich für eine Hälfte der Menschheit eine Beleidigung ist: Männer werden weise, Frauen werden alt.
Apropos weise. Keine der alten Frauen, mit denen ich im Laufe meines Lebens und nicht erst für dieses Buch gesprochen habe, hatte den Eindruck, sie müsse Zeugnis ablegen über ihr Tun oder ein Vermächtnis hinterlassen, um auch der Nachwelt die Möglichkeit zu geben, sie zu bewundern. Keine von ihnen sprach ähnlich griesgrämig, selbstmitleidig von ihrem späten Leben wie die berühmten alten Männer, denen Generationen ehrfürchtig zuhörten, Aristoteles (der die Alten für bösartig hielt), Casanova, Goethe, Schopenhauer und dergleichen. Sie beschäftigen sich auch nicht ständig mit dem Skandal des näher rückenden Zeitpunkts, an dem ihr Leben verlöschen wird. Bis es so weit ist, machen sie einfach weiter.
Viele alte Frauen unterschreiben nicht, dass das Alter die »Rumpelkammer des Lebens« sei, wie es Oscar Wilde formulierte, der nicht alt wurde und verbittert auf den Lauf der Zeit schaute. Oder aber eine »Parodie des Lebens«, wie es in Simone de Beauvoirs erstaunlich enttäuschendem Buch Das Alter heißt, auch wenn sie diese Aussage wenige Seiten später relativiert und ausführt, einzig dadurch, weiterhin Ziele zu verfolgen, die dem Leben einen Sinn verliehen, und auch in hohem Alter »starke Leidenschaften zu haben«, behielte das Leben einen Wert. Vermutlich stimmen die Frauen, die ich in diesem Buch getroffen habe, diesen eher banalen Überlegungen zu. Wir haben übers Alter kaum gesprochen. Ich bin mir sicher, sie denken übers Alter nach. Aber sie tun es anders, nicht ständig. Einige haben »noch« und »nicht mehr« aus ihrem Vokabular gestrichen. Und sie kämpfen auch nicht um ihre Freiheit. Sie haben sie längst.
Alte Frauen fordern keinen Platz. Sie ziehen sich zurück, wo sie nicht erwünscht sind. Das mag nicht immer Stärke sein, sondern manchmal auch die Scham, mit der die Gesellschaft das Alter belegt, als sei es eine Krankheit, die zu verhindern gewesen wäre. Unglaublich, dass niemand die alten Frauen aufhält, niemand Einspruch gegen ihr Verschwinden einlegt, angesichts dessen, was sie zu bieten haben - an Erfahrung, das versteht sich von selbst, aber auch an Ausdauer, praktischem...