Gänsehautmomente einer Karriere
Zu Beginn dieses Buches brauchen wir einen Opener. Momente, die den Leser einfangen, sagt mein Schreiber Jörg Lühn. Das animiert zum Lesen, denn dann wissen alle, was sie erwartet: detailreiche Episoden mit ganz viel Hintergrund. Wir müssen den Leser von der ersten Minute an packen und durch die Wucht unserer Erzählungen in den Sessel drücken. Na dann .
Ein Opener könnte sein, eine Analyse der aktuellen Situation rund um die Fußball-Bundesliga, zum Beispiel eine Spieltaganalyse, oder die deutsche Fußball-Nationalmannschaft vorzunehmen. Etwas Neues können wir dabei aber nicht entdecken. Jogi Löw hätte spätestens nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 zurücktreten sollen, das habe ich oft genug gesagt. Die Manager in der Bundesliga müssen sich seit Jahren fragen lassen, warum ihre Kader 30 und mehr Spieler aufweisen, obwohl sie doch in keinem internationalen Wettbewerb stehen. Insgesamt sind zu viele Unwägbarkeiten im Spiel. Wir können heute nicht vorhersagen, ob der FC Bayern München zum neunten Mal in Folge deutscher Meister wird. Wir wissen nicht einmal, wie es sich bei der bereits einmal verschobenen Fußball-Europameisterschaft verhält. Sind die Spiele überhaupt möglich? Deshalb ist es natürlich schwer, einzelne Bausteine in den Konstruktionen konkret zu beurteilen.
Wir entscheiden uns stattdessen für ein Highlight-Paket aus meiner Karriere und schnüren Momente mit Gänsehaut zu einem Erlebnis zusammen wie in einem Sport-Rückblick. Spontan sind mir dazu die folgenden Spiele in den Sinn gekommen:
20. März 1992: Hamburger SV- Borussia Dortmund 1: 1
Die Bundesliga biegt auf die Zielgerade ein. Der 29. Spieltag ist für Freitag, 20. März 1992 angesetzt. Ich bin noch 20 Jahre alt und in der Spielzeit 1991/1992 inzwischen über drei Jahre beim Hamburger SV. Egon Coordes ist seit acht Tagen Trainer und damit Nachfolger von Gerd-Volker Schock.
Der HSV ist Tabellen-15. und hat nur noch zwei Punkte Vorsprung vor dem ersten Abstiegsplatz. Hamburg versinkt an diesem Tag im Dauerregen. Im Fußballjargon nennen wir das Fritz-Walter-Wetter, weil es beim WM-Erfolg 1954 in Bern (Schweiz) ebenso unaufhörlich schüttete. Das Flutlichtspiel gegen den Tabellenführer Borussia Dortmund lockt nur 31.500 Zuschauer in das Volksparkstadion. Erstmals bin ich für den 16er-Kader der Profis nominiert. Alles einmal in Ruhe anschauen, Abläufe kennenlernen, das ist meine Devise.
Ganz früh im Spiel verletzt sich unser Kapitän Dietmar Beiersdorfer, ein Manndecker. Trainer Egon Coordes schickt mich zum Aufwärmen los. Noch vor einem möglichen Wechsel erzielen die Dortmunder das erste Tor. Stéphane Chapuisat behauptet sich gegen Libero Frank Rohde und trifft gegen Torhüter Nils Bahr zum 1: 0 für den BVB. Trainer Egon Coordes bringt mich für Dietmar Beiersdorfer. Einer meiner ersten Ballkontakte bringt die Kugel zu Herbert Waas, der schließlich von links flach in die Mitte flankt, wo Jan Furtok aus zwölf Metern zum 1: 1 ausgleicht. Das ist auch der Endstand.
Im Anschluss stehe ich erstmals vor der Westkurve und darf mit den Fans feiern. Vor einigen Jahren blickte ich selbst noch von oben aus dem Block E auf die rote Tartanbahn herunter. Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Später, wieder zu Hause, komme ich kaum in den Schlaf. Mit dem ersten Bundesligaspiel erfüllte sich ein Jugendtraum.
3. September 1994: Hamburger SV- Karlsruher SC 3: 1
Über zwei Jahre später in der Saison 1994/1995 gehöre ich längst fest zum Profikader des Hamburger SV. Neben Richard Golz und Carsten Kober zähle ich als 23-Jähriger inzwischen zu den dienstältesten Spielern beim HSV. Endlich bekomme ich regelmäßig das Vertrauen von Trainer Benno Möhlmann. Achtunddreißigmal habe ich bis zum 3. September 1994 schon in der Ersten Bundesliga gespielt. Im Auswärtsspiel beim 1. FC Saarbrücken am 20. November 1992 erziele ich mein erstes Profitor für den HSV. Nur im Hamburger Volksparkstadion leuchtet mein Name noch nicht als Torschütze auf der Anzeigetafel.
Heute, am 3. September 1994 läuft der Karlsruher SC in Hamburg auf. Die von Winfried Schäfer trainierte Mannschaft ist mit 5: 1 Punkten in der noch jungen Saison ungeschlagen und sogar Tabel-lenzweiter. Mit dem KSC hatte ich im DFB-Pokalspiel noch zu Amateurzeiten einen ersten Berührungspunkt. Wir unterlagen damals 0: 1. Jetzt führen die Gäste nach einem Tor von Thorsten Fink wieder 1: 0.
Eine knappe Viertelstunde nach der Pause ist es mein Treffer, der uns den Ausgleich bringt. Über Yordan Lechkov und Jörg Bach landet der Ball an der Strafraumkante bei mir und ich dresche das Spielgerät Claus Reitmaier in die Maschen. HSV-Stadionsprecher Carlo von Tiedemann schreit meinen Namen ins Mikrofon. Das bekomme ich in dem Moment, als mich meine Mannschaftskameraden vor Freude fast erdrücken, gar nicht mit. Es ist einfach nur geil: Endlich das erste Heimtor - und dann noch direkt vor der Westkurve, wo unsere treuesten Fans stehen.
Jörg Albertz und Yordan Lechkov legen die Tore zwei und drei nach, sodass wir als 3: 1-Sieger vom Feld gehen.
Am Abend schaue ich mir mein Werk noch einmal im Aktuellen Sportstudio des ZDF an. Nach einem zuvor erfolgten Anruf von Bundestrainer Berti Vogts bekomme ich zehn Tage später eine Einladung zu einem Sichtungslehrgang bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Es kribbelt.
18. Mai 1996: Eintracht Frankfurt - Hamburger SV 1: 4
Nur eine Spielzeit später schwingt bei uns Trainer Felix Magath das Zepter. Wir können tatsächlich noch einen Platz im UEFA-Pokal erreichen.
Am 18. Mai geht der Schlussspieltag der Saison 1995/1996 über die Bühne. Die Ausgangslage ist schnell erzählt: Wir sind Tabellensiebter und brauchen bei Eintracht Frankfurt einen Auswärtssieg mit drei Toren Unterschied, um noch an Hansa Rostock (Rang 5) und dem Karlsruher SC (Platz 6) vorbeizuziehen. Allerdings dürfen die beiden vor uns platzierten Klubs keinesfalls ihre Spiele gewinnen. Die Frankfurter sind Tabellen-17. und bereits nicht mehr zu retten. Eigentlich unglaublich, weil die von Dragoslav Stepanovic trainierten Hessen Topleute wie Torhüter Andreas Köpke, Jay-Jay Ochocha, Jan Furtok und Thomas Doll in ihrem Kader haben. - Schon nach der 1992 verpassten Meisterschaft mit den Frankfurtern sagte Stepi: »Lebbe geht weida.«
Wir erledigen unsere Hausaufgaben erst in der Schlussviertelstunde, nachdem Frankfurts Kakhaber Tskhadadze vom Platz gestellt wird. Karsten Bäron (8., 77.) trifft zweimal. Hasan Salihamidzic lässt seine ersten beiden Saisontore (78., 87.) ebenfalls per Doppelpack folgen, sodass für den HSV ein 4: 1-Sieg auf der Anzeigetafel leuchtet.
Mit Ausnahme einer Kölner Führung in Rostock, die zwischendrin angezeigt wird, ist der Kontakt zur Außenwelt bis weit nach dem Schlusspfiff abgerissen. Sind wir international dabei oder nicht? In diesen endlosen Minuten sind die Nerven zum Zerreißen gespannt, das Hoffen und Bangen ist schlimmer als das Spiel zuvor. Bis 17.30 Uhr werden immer noch keine Endstände angezeigt. Erst per Funktelefon bekommen Trainer Felix Magath und Bernd Wehmeyer Klarheit: Rostock verliert 0: 1 gegen den 1. FC Köln, der KSC unterliegt im badischen Derby beim VfB Stuttgart 1: 3.
Bei uns und den 6000 mitgereisten HSV-Fans brechen in der Gästekurve des Waldstadions alle Dämme der Freude; Manager Bernd Wehmeyer wird zum Getränkewart umfunktioniert. Erstmals seit Sommer 1991 dürfen sich die HSV-Fans und wir wieder über eine Teilnahme an einem internationalen Fußballwettbewerb freuen. In den Katakomben versuchen wir Uwe Seeler - vergeblich - mit ins Entmüdungsbecken zu zerren. Dazu singen wir: »Harry, rück die Kohle raus!« Gemeint ist Präsidiumsmitglied Harry Bähre, der uns nun eine Extraprämie überweisen muss. Die Feier führt uns nach der Rückkehr aus Frankfurt bis in den frühen Morgen durch die Hamburger Kneipenwelt. Oh, wie ist das schön! Tränen der Trauer fließen neben Frankfurt noch beim 1. FC Kaiserslautern. Zwei weitere Bundesliga-Gründungsmitglieder steigen ab. Nur der. 1. FC Köln und der HSV haben bislang immer die Klasse gehalten.
15. August 1998: Blackburn Rovers - Derby County 0: 0 Jetzt bin ich tatsächlich auf den Britischen Inseln, genauer in England, gelandet. Der Wechsel vom Hamburger SV zu Derby County läutet eine ganz besondere Phase meiner Karriere ein. Einmal mehr beweise ich, dass viel mehr in mir steckt, als die allermeisten mir viele Jahre lang zutrauten. Ich spiele in der englischen Premier-League, der reichsten Liga der Welt. Manchester United überweist im Vorfeld 31 Millionen Mark Ablöse an PSV Eindhoven für Jaap Stam, einen...