Nationalmannschaft Part I
Dieser Moment geht in die Geschichtsbücher ein. Es ist acht Minuten vor 19 Uhr, das Spiel in Ljubljana, in der Hall Tivoli wird abgepfiffen. Deutschland hat den Gastgeber Slowenien am 1. Februar 2004 mit 30: 25 bezwungen und ist Handball-Europameister. In der Nachbetrachtung fällt sofort auf: Klaus-Dieter Petersen bildet mit Volker Zerbe einen nahezu unüberwindbaren Block in der Abwehrmitte. Der Begriff von der "weißen Wand" wird geboren. Es ist der erste Titel für den Deutschen Handball-Bund (DHB) seit 1978 - damals wird die Equipe Weltmeister in Kopenhagen. "Diesen EM-Titel schätze ich nicht geringer ein", jubelt Trainer Heiner Brand, damals selbst Spieler im Team von Bundestrainer Vlado Stenzel. Nach der dritten Endspielteilnahme für die Nationalmannschaft in Folge, aber dem ersten Sieg, ist die Gummersbacher Ikone mit dem markanten Schnauzbart aus dem Häuschen. Nach den Niederlagen bei der Europameisterschaft 2002 (31: 33 nach Verlängerung gegen Schweden) und der Weltmeisterschaft 2003 (31: 34 gegen Kroatien) lässt der Trainer jetzt fast alles über sich ergehen.
Petersen, dienstältester Nationalspieler, setzt von links die Schere an, schneidet "dem lieben Heiner" den ersten Teil der Barthaare von dessen Walrossbart ab. Er fixiert es auf einem Stück Tape, so, als würde er es später einem Museum zur Verfügung stellen können. "Wenn der Bart weg ist, steht doch fest, dass wir Europameister sind", jubelt der 51-jährige Trainer. Nach und nach treten die deutschen Spieler Christian Schwarzer, Volker Zerbe, Daniel Stephan, Stefan Kretzschmar, Markus Baur und Mark Dragunski im Salon Mirjam mit der Schere an. Henning Fritz, Christian Ramota, Carsten Lichtlein, Steffen Weber, Pascal Hens, Jan-Olaf Immel, Christian Zeitz, Torsten Jansen, Heiko Grimm und Florian Kehrmann gehören der jüngeren Fraktion an und halten sich lieber zurück. Sie fürchten die Autorität des Trainers. Aber immerhin: Das Trainer-Denkmal des deutschen Handballs hat sein Markenzeichen zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder geopfert. Er ist stolz auf seine Mannschaft, weil sogar die verletzten Spieler Stefan Kretzschmar - im Petersen-Trikot mit der Nummer 9 - und Markus Baur den Weg zum Finale mit dem Auto angetreten sind, um ihr Team leidenschaftlich zu unterstützen.
Allerdings bringen auch die Spieler abseits des Handballfeldes Opfer. "Immel und Grimm haben, ich denke rein zufällig, einen Rasierer dabei, und dann ging alles ganz schnell", grinst Petersen. Einige Spieler, darunter Henning Fritz und Klaus-Dieter Petersen, Jan-Olaf Immel und Mark Dragunski scheren sich die Haare ab. Sie wollen ihre Freude in Form von äußerlichen Veränderungen der gesamten Öffentlichkeit präsentieren. In der Folgezeit wird der Flüssigkeitsverlust aus acht Spielen binnen elf Tagen in Rekordmanier bis zum Rückflug am Montagmorgen in einem Kellerclub wieder ausgeglichen. "Nach den Spielen hat uns der Doc die Infusionen verabreicht, jetzt haben wir das selbst in die Hand genommen", lacht Petersen. Dazu böllert lautstarke Musik aus den Lautsprecherboxen. Den Campione-Rufen folgen die Klassiker "Stand up for the champions" und "We are the champions", die die Protagonisten nahezu textsicher über die Lippen bringen. Petersen führt die feierwütigen Heroen an und bestätigt seinen in Kiel erworbenen Ruf als Zeremonienmeister.
Einen Tag später bereiten über 100 Kieler Fans Klaus-Dieter Petersen und den anderen beiden Zebras Christian Zeitz und Henning Fritz vor dem THW-Vereinsheim am Krummbogen in der norddeutschen Landeshauptstadt einen triumphalen Empfang. "Jetzt sind wir endlich aus dem Schatten der 78er heraus", freut sich Abwehrrecke Petersen, stemmt die Kristallvase hoch und zeigt die Barthaare Heiner Brands als Souvenir. Norbert Gansel streicht über das Resthaar Petersens. Der ehemalige Kieler Oberbürgermeister darf das. Seine Nachfolgerin Angelika Volquartz ist ein wenig zurückhaltender, freut sich aber sichtbar mit den Kieler Jungs. Jetzt soll bei den Olympischen Sommerspielen 2004 in Athen der ganz große Wurf gelingen. Wie nach internationalen Erfolgen oft üblich, wird die große Politik auf die Sportler aufmerksam. Kapitän Petersen und die Nationalmannschaft erhalten noch eine Einladung zu Bundeskanzler Gerhard Schröder. "Den Gerhard kenne ich", hat Petersen immer erzählt. Die Mitspieler wollen es nicht recht glauben. Aber der frühere Jungsozialist Schröder ist tatsächlich ein guter Bekannter von Petersens Großvater Albert Hoff. "Er hat sich zu meinem Opa aufs Sofa gesetzt und dort haben sie gemeinsam Kaffee getrunken", parliert Petersen aus dem Nähkästchen. Nach dem Sieg mit Deutschland ist er einer der Auserwählten, die am Tisch des Kanzlers sitzen dürfen. "Dich kenne ich doch, als du noch ein kleiner Junge warst", soll Schröder gesagt haben. Die laute Lache des Niedersachsen ist im ganzen Raum deutlich zu hören. Petersen nickt und gesteht, dass sie sich eine Weile über die Besuche bei Opa Hoff unterhalten haben.
Aus den Silber-Buben sind nun Brands Gold-Jungs geworden. Endlich wird Handball-Deutschland wieder in der gesamten Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Erinnerung an die beiden vergangenen Turniere sind noch so frisch im Gedächtnis. Bei gleich zwei Wettbewerben zuvor landet die Nationalmannschaft auf dem zweiten Platz. "Das sind natürlich bittere Momente, aber bei der Europameisterschaft 2002 in Schweden ist es nicht allein unsere Schuld", erinnert sich Petersen. Florian Kehrmann bringt Deutschland im Finale gegen Schweden 26: 25 in Führung. 2: 20 Minuten sind noch zu spielen. Petersen und Co verteidigen mit Mann und Maus. Elf Sekunden vor dem Ende erhält Petersen eine Zeitstrafe. Staffan Olsson, sonst ein Teamkollege im Kieler Trikot, gleicht für sein Land aus. Kehrmann erhält den Ball in rasender Geschwindigkeit von Torhüter Henning Fritz und wirft aus der schnellen Mitte ins leere Tor der Gastgeber. 14.303 Fans in der Globen-Arena Stockholm halten den Atem an. Plötzlich heißt es, die mazedonischen Schiedsrichter haben das Spiel noch nicht freigegeben. Der vermeintliche Siegtreffer zählt nicht. Die deutschen Spieler und ihr Trainer können es nicht fassen. "Vielleicht haben die unsere Hymne nicht da", vermutet ein verärgerter Petersen. In der Verlängerung sind die Hausherren, zu denen neben Olsson noch die Kieler Bundesligaspieler Stefan Lövgren, Magnus Wislander und Johan Pettersson zählen, zu clever. "Wir gehen jetzt zum Bankett und lassen die Beweihräucherung der guten Schweden vom Europäischen Handball-Verband über uns ergehen", ist Petersen kaum zu beruhigen.
Kiels Ex-Oberbürgermeister Norbert Gansel (rechts) begrüßt den deutschen Handball-Europameister Klaus-Dieter Petersen vom THW Kiel nach seiner Rückkehr aus Slowenien am THW-Vereinsheim in Kiel und streichelt ihm über den kahl rasierten Kopf. Petersen hat die Goldmedaille noch um den Hals hängen und reckt zudem den EM-Pokal in die Höhe.
Im Jahr darauf ist die Weltmeisterschaft in Portugal. Gegen Australien bestreitet Petersen sein 300. Länderspiel. Vom DHB gibt's eine Ehrennadel, von der Fernsehanstalt ARD eine Torte. Das Loblied singt der Bundestrainer. "Pitti ist der Mannschaftsspieler schlechthin. Er bringt immer die perfekte Einstellung und Begeisterung mit." Plötzlich steht der Abwehrchef im Mittelpunkt einer Medienrunde und macht das in seiner Art. "In den 299 Länderspielen vorher muss ich keine Interviews geben. Jetzt gleich zehn hintereinander. Seltsam", sagt der Jubilar. Auf dem Weg ins Endspiel lässt sich das deutsche Team nicht aufhalten. Im Finale ist Deutschland lange auf Augenhöhe, verliert aber 31: 34. "Ehrlich gesagt, uns kann eigentlich nichts mehr schocken", lässt Petersen die Erinnerungen an 2003 ausklingen.
Vor diesem EM-Gewinn 2004 hat er einige Tiefen erleben müssen. 15 Jahre spielt Petersen inzwischen in der Nationalmannschaft, ist sogar Kapitän. 327 Mal trägt er seither stolz das Trikot mit dem Bundesadler. Im Februar 1989, noch vor Beginn von Petersens Karriere in der Nationalmannschaft, rast der Fahrstuhl mit der DHB-Auswahl in die C-Gruppe hinunter. Das ist im Handball das Kellergeschoss. Nach dem achten Platz bei der B-Weltmeisterschaft in Frankreich geht es für den deutschen Männerhandball nicht mehr tiefer. Ein Wechsel auf der Position des Bundestrainers muss her. Petre Ivanescu, der lange als harter Hund aus dem Ostblock gefeierte Starcoach, bekommt den Stuhl vor die Tür gestellt. Dem Spiegel sagt Ivanescu: "Diese Truppe ist eine Falle für jeden Trainer, ich habe mich schlichtweg in ihr getäuscht."
Eine Abrechnung, die Spielern wie Andreas Thiel, Stefan Hecker, Uwe Schwenker, Christian Fitzek, Uli Roth, Jörg Löhr, Jochen Fraatz, Martin Schwalb, Andreas Dörhöfer, Rüdiger Neitzel, Peter Quarti, Frank Löhr, Michael Klemm und Volker Zerbe wie eine Ohrfeige vorgekommen...