Schweitzer Fachinformationen
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Draußen hinter den Fenstern ziehen die Lichter vorbei, im Auto riecht es nach Regen, nach Paulas Zigaretten und ihrem Deodorant. Es ist Ende Oktober, und obwohl wir zeitig losgefahren sind, wird es langsam dunkel. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, etwas, das sich erzählen lässt, das vielleicht etwas in mir verändern kann.
Paula hat die Angewohnheit, im richtigen Moment da zu sein, die richtigen Dinge vorzuschlagen, pragmatisch, sanft, so einfach, dass man selbst nicht darauf kommen würde. Du musst raus aus der Stadt, Henriette. Als hätte sie mich eingepackt, um mich an einen Ort zu bringen, an dem ich wieder etwas sehen kann. Als würde ich jetzt schon, an diesem Abend, auf dieser Fahrt, in Paulas Auto, langsam wieder anfangen, etwas zu sehen, zu riechen, zu spüren. Den Nebel, den Rauch, die Kälte, die Nacht. Den Herbst. Ich kann immer noch nicht glauben, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist, dass ich immer noch keine Ahnung habe, was ich will und ob ich etwas will, dass ich immer weiter nur das Gegenteil von allem tue, was gut für mich wäre, das Gegenteil von allem, was ich bräuchte.
Seitdem dieses Jahr begonnen hat, kommt es mir vor, als ob alles, was mir bisher passiert ist, Zufall wäre, Zufall oder ein schlechter Witz. Die Sache mit Tobias war nur das letzte bisschen, das es gebraucht hat, um mir zu zeigen, dass es nicht reicht, vor sich hinzuleben. Dass es nicht reicht, darauf zu warten, dass die Dinge fertig werden, anders, besser. Ich musste endlich Entscheidungen treffen, auch wenn es die falschen waren, Entscheidungen treffen, so wie es wohl die meisten Menschen tun, auch wenn mir das schwer vorstellbar erscheint.
Es kommt mir vor, als würden sich im Leben der allermeisten Menschen die Dinge einfach irgendwie fügen. Nicht zwangsläufig zum Guten, aber sie fügen sich eben, das heißt, sie haben eine gewisse innere Logik, einen Zusammenhang. Nur mein Leben erscheint mir komplett zufällig, wie eine kaum zu bewältigende Leere, eine Fläche, in die ich dringend einen Pfosten einschlagen muss, bevor es zu spät ist.
Es ist doch am Ende einfach, hat Paula gesagt, bevor sie mich gefragt hat, ob ich mit ihr in die Hütte fahren möchte, das sind Traumata, du musst sie heilen, dann kannst du auch wieder glücklich werden. Ich habe versucht, mich zu erinnern, ob Paula immer schon so gesprochen hat, ob sie immer schon solche Formulierungen verwendet hat. Ich glaube nicht, aber es war in Paula angelegt, dass sie jemand werden konnte, der so etwas sagt. Ich frage mich, den Kopf an die Scheibe gelehnt, ob irgendetwas in mir angelegt ist, ob ich mit den Jahren irgendwie geworden bin; es fühlt sich nicht so an.
Die Dinge waren gerade besser geworden, zu Beginn dieses Jahres, vor der Schwangerschaft, bevor alles losging. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass die Dissertation fertig werden würde, dass ich sie bald abgeben könnte. Dann kam der Frühling, und der Sommer ist schrecklich geworden. Ich war täglich in der Bibliothek und habe keine Seite geschrieben. Ich habe die Post nicht geöffnet, ich bin nicht zur Arbeitsgruppe gegangen.
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Einige Tage vor unserer Abreise habe ich mich mit meinem Doktorvater getroffen, er hat gesagt, so geht es nicht weiter, er habe Verständnis, aber er werde bald emeritiert werden und es sei doch auch für mich schön, wenn ich bald fertig werden würde. Auch für mich schön, das waren genau seine Worte, und ich weiß, welche Vorstellungen für ihn daran hingen: Leben, Familie, Beruf. Er nutzte häufig solche freundlichen Euphemismen, um damit Wichtiges anzudeuten. Damals, als ich mich für die Promotion entschieden habe, hatte mein Doktorvater gesagt, ich hätte gute Chancen, damit sogar gelesen zu werden, der Werwolf und seine Kulturgeschichte, das Thema sei völlig untererforscht, jedenfalls in der Systematik, in der ich meine Arbeit angelegt hätte.
Ich habe mich nicht getraut, ihm zu sagen, wie es wirklich um die Arbeit steht: dass es keine Systematik gibt, dass es sie nie gab, dass es keine Länge gibt, keine Seitenanzahl, die ich ihm kommunizieren könnte. Dass ich manchmal das Gefühl habe, es sind hundert Seiten, manchmal keine einzige. Dass es sich alles nicht zusammenfügt. Dass ich Monate brauche, um ein Buch zu lesen. Dass ich denke und denke und zu keinem Ergebnis komme, zu keinem Punkt, von dem aus sich irgendetwas anfangen lässt. Dass sich alles widerspricht, alles gleich viel bedeutet und überhaupt nichts.
Paula raucht, die linke Hand am Steuer, und schaut auf die in der Dunkelheit glänzende Straße vor sich wie jemand, den Abenteuer erwarten. Sie hat ein blaues Tuch um ihre Locken gebunden, ab und zu lächelt sie, wenn sie an ihrer Zigarette zieht. Durch den Fensterspalt kommt eisig kalte Luft. In der siebten Klasse saß Paula neben mir und fragte mich, ob ich einen Radiergummi für sie hätte. Ich sah ihre kleinen, bläulich schimmernden Zähne und war ein anderer Mensch, noch ohne es zu wissen.
Ich wollte nie promovieren, aber dann habe ich mit allem so lange gebraucht, dass es mir als das einzig Sinnvolle erschien, weiterzumachen. Zuerst haben die Seminare angefangen, sich zu wiederholen, irgendwann verstand ich die Mode der Erstsemester nicht mehr. Die Kommilitonen, die in meinem Alter waren, bekamen Stellen als Wissenschaftliche Mitarbeiter, sie promovierten und verteilten sich auf verschiedene Universitäten in anderen Städten und Ländern.
Die Einzige, die übrig geblieben war, Natalie, ein blasses, großes Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen, hatte letzten September ihre Dissertation eingereicht. Jetzt ging ich alleine in die Bibliothek. Ich konnte meinen Fehler nicht zugeben, ich konnte die Jahre nicht rückgängig machen, also konnte ich nicht aufhören.
Paula hat gesagt, das geht so nicht weiter, Henriette, du musst da raus. So schlimm ist das alles nicht, du brauchst einen Schub, lass uns ein bisschen in den Wald gehen, frische Luft, vielleicht meditierst du mit mir. Das mit dem Schreiben kommt, wenn es soll. Die Hütte gehört ihrem Arbeitskollegen Florian, er ist in Paula verliebt, wir können bleiben, solange wir wollen. Paulas Zigarette ist ausgegangen, ich gebe ihr Feuer.
Freistaat Bayern, das Schild leuchtet im Dunkeln auf. Paula sagt: Ich glaub, wir müssen tanken. Sie kramt nach einem Kaugummi, reißt mit den Zähnen das Papier ab und steckt sich den Streifen in den Mund. Das Papier lässt sie in den Fußraum fallen. Ich empfinde eine heftige Dankbarkeit, dafür, dass Paula noch da ist, dafür, dass sie anders ist, dass sie noch nicht in einer Altbauwohnung hockt und ein Baby stillt wie alle anderen.
Den Sommer über, nach dem, was passiert ist, hat sie meine Briefe geöffnet, sie ist vorbeigekommen und hat für mich gekocht. An meinem Geburtstag stand sie mit einem Kuchen vor der Tür und mit alkoholfreiem Sekt. Manchmal hat sie bei mir übernachtet, sie hat hinter mir gelegen und mich umarmt wie früher. In der letzten Zeit war sie oft bei Tom. Ich frage mich, ob Paula ihn liebt, ich glaube, sie kann es selbst nicht sagen. Sie hat ihn vor drei Jahren bei einer Fortbildung kennengelernt, sie hat ihn ein paarmal in Zürich besucht, jetzt ist er nach Berlin gezogen. Ständig trennen sie sich. Gestern hat sie ihn getroffen, um ihm zu sagen, dass es endgültig vorbei ist. Paula wirkt nicht traurig, sie wirkt, als hätte sie das Richtige getan.
Die Tankstelle hat etwas von einer Raumstation. Wir fahren an riesigen LKW vorbei, weiße Planen leuchten in der Nacht. Eine nasse Wiese verliert sich im Dunkel hinter dem Parkplatz. Eine Frau führt ihren Hund aus, damit er sein Geschäft erledigt. An einer Tankstelle gibt es nichts zu tun als einkaufen, aufs Klo gehen, sich stärken. Es ist wie Kindheit oder als hätte man schon Kinder, eins von beidem.
Ich stehe neben Paula, während sie tankt, ich sehe meinem Atem zu und ihren Bewegungen. Wie sie den Tankdeckel öffnet, den Schlauch herauszieht, wie sie in die Nacht schaut und darauf wartet, dass der Tank voll wird, ein tosendes Geräusch. Ich denke, dass es albern ist, zu denken, dass Paula alle diese Dinge tut, als wären sie selbstverständlich, denn sie sind selbstverständlich. Paula fährt seit zwölf Jahren Auto, genauso wie sie ihre Zigaretten raucht und ihre Yogastunden nimmt. Paula ist im Leben, ich bin es nicht. Ich bin in meinem Kopf. Ich stehe zwischen den Ständen mit den Zeitschriften und den Süßigkeiten und sehe Paula zu, wie sie Dinge tut. Paula kauft Wasser, Paula kauft Twix und Schokakola; sie holt sich einen Filterkaffee. Einer muss wach bleiben, sagt sie. Unter ihrem Parka trägt sie ein buntes Kleid. Wir sitzen am Tisch vor dem Fenster. Sie...
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