Schweitzer Fachinformationen
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In den frühen 1980er-Jahren ist das Caprice in München der Hotspot erotischer Unterhaltung. Hier gehen Millionärssöhne genauso ein und aus wie Filmstars, Rechtsanwälte und Jedermänner. Die Frauen, die dort anschaffen, dürfen selbst bestimmen, was sie machen und mit wem. Und die Frau, die den Laden führt, macht das mit Hingabe und Hirn: Herta Lueger. Geboren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem kleinen Dorf im österreichischen Burgenland, aufgewachsen in einem Haushalt voller Liebe, aber mit wenig Geld, gelernte Friseurin, zweifache Mutter und bald schon wieder geschiedene Ehefrau - die Umstände verheißen ein anderes Leben. Aber Herta nimmt das ihre selbst in die Hand. In München findet sie Freiheit, arbeitet als Domina, führt Studios und einen Club, später auch einen erfolgreichen Friseursalon, sie ist gleichermaßen liebevolle Mutter, sorgende Freundin und kluge Geschäftsfrau. Doch dann stirbt eine junge Frau namens Aline, die sie vermittelt hat, durch die Gewalt eines Freiers.
Was der Stoff einer True-Crime-Serie sein könnte, wird in den Worten von Hertas Tochter Patricia zu einem nüchternen Lebenszeugnis und entwickelt gerade dadurch seine bestechende Kraft: weil es eine Geschichte erzählt, die so spannend und wahr ist, wie es nur das Leben sein kann.
Eines Tages kam Nina, eine ehemalige Nachbarin, zu mir und sagte, sie habe eine Freundin, Aline, die gerne bei mir arbeiten würde.
Damals, Anfang der Neunzigerjahre, besaß ich keine Clubs mehr, Aids hatte der Branche schwer zugesetzt, die Angst vor Ansteckung war groß. Zu Hause fühlten sich die Männer sicherer, daher baten mich die Mädchen, die zuvor in meinen Clubs gearbeitet hatten, sie zu vermitteln. »Du kannst uns doch nicht den Zuhältern ausliefern«, sagten sie, weil sie wussten, dass bei ihnen andere Regeln galten. Hielt sich eine nicht daran, ging sie schon mal mit einem gebrochenen Arm nach Hause. Kondome waren bei vielen ohnehin tabu. Hauptsache, der Rubel rollt. Bei mir war es anders. Ich war damals die Einzige, die gesagt hat, Schutz muss sein. Alles andere wäre undenkbar gewesen.
Deshalb wollte Aline bei mir arbeiten.
Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich, das gibt's ja nicht! Sie war nicht nur bildschön, sondern wirkte auch edel, so ein Typ höhere Tochter, und hatte ein Einser-Abitur.
Was wollte denn die bei mir?
Ganz selbstverständlich antwortete sie, dass sie schon mit Anfang zwanzig in Münchens bekanntestem Bordell gearbeitet hätte.
»Wenn du mich brauchst, rufst du mich an oder bei meiner Mami.«
»Wo soll ich anrufen, bei der Mami?«
»Wir wohnen Tür an Tür, sie weiß Bescheid.«
Aline kam aus einer Akademikerfamilie und ich konnte mir nicht erklären, wie sie am Strich gelandet war. Franz, mein Lebensgefährte, ein Modefotograf, der für solche Sachen ein Gespür hatte, vermutete, dass sie auf Heroin sei. Ich hatte mit Drogen nie etwas zu tun gehabt und war entsprechend naiv. Aline war korrekt, studierte an der Uni und lebte in einer gepflegten Altbauwohnung, in der sie das Parkett selbst verlegt hatte.
Unter einer Drogensüchtigen stellte ich mir etwas anderes vor.
Aline fing also an, bei mir zu arbeiten, war immer ziemlich flott, aber alles andere als diplomatisch. »Ich habe mir nie etwas gefallen lassen, weder von Zuhältern noch von den Freiern«, sagte sie, und darauf war sie stolz. Aber ich spürte die Gefahr.
Einmal meinte ein Freier: »Du gefällst mir nicht.« Und sie darauf nur: »Dann gib mir mein Fahrgeld, dann geh ich wieder.« »Bei ihr müssen wir aufpassen«, sagte ich zu meinen Mädchen, »um die habe ich Angst wegen ihrer direkten Art.«
Sie plauderte, ohne es zu beabsichtigen, auch vieles aus. Es kam vor, dass Polizisten Mädchen ins Hotel bestellten, um sie in eine Falle zu locken. Für solche Fälle hatten wir ein paar Tricks parat. Das begann beim Anruf - eine bayerische Beamtenstimme klingt anders als einer, der geil ist - und endete im Hotelzimmer. Ich habe allen gesagt: »Geht zuerst ins Bad und schaut, ob der sein Rasierzeug wo stehen hat. Wenn nicht, sagt: >Entschuldigen Sie, ich glaube, wir haben uns falsch verstanden.<« Kein Polizist macht sich die Mühe, sein ganzes Zeug, vom Bademantel bis zur Zahnbürste, herauszulegen. Das war die Vereinbarung. Und was macht Aline? Sie sagt: »So, ich war jetzt im Bad, da ist nichts, und meine Chefin sagt, wenn da nichts ist, soll man gehen.« So war sie. Da wussten natürlich alle Bescheid.
Als wir uns schon ein wenig kannten, sagte sie: »Meine Mami würde dich gerne kennenlernen.« Sie wollte ihrer Mutter zeigen, dass in diesem Geschäft auch normale Menschen arbeiteten. So trafen wir uns an einem Samstagnachmittag. Ich saß mit Franz im Café Roxy auf der Leopoldstraße, da kam eine schöne Frau herein, rothaarig, zierlich, feine Gesichtszüge, und sagte entschuldigend: »Ich hatte noch einen Schüler.«
Das also war Alines Mutter, Lehrerin und Leiterin einer Schule.
Wir unterhielten uns freundlich, angeregt, sie lächelte auch, aber ihre Augen waren kalt. Dann sagte Franz: »Was sagen Sie eigentlich zum Job Ihrer Tochter?« Darauf antwortete sie: »Glücklich bin ich nicht, aber ich bin über jeden Tag froh, an dem es meiner Tochter gut geht.«
»Mami meint meine Magersucht«, ergänzte Aline.
Ich ärgerte mich über Franz, aber er ließ nicht locker: »Was sie macht, ist ganz schön gefährlich, es gibt genug Verrückte auf dieser Welt.« Alines Mutter wurde kreidebleich, da erzählte ich schnell, wie es bei einem Begleitservice abläuft: Der Kunde ruft bei uns an und hinterlässt dort Name, Adresse und Telefonnummer. Das Mädchen fährt hin, macht einen ersten Rückruf, wenn sie ankommt, und einen zweiten, wenn sie wieder geht. Sollte der zweite Rückruf ausbleiben, verständigt die Telefonistin die Polizei.
Wir fühlten uns damit auf der sicheren Seite. Aline warf noch ein, dass sie durchwegs tolle Leute kennenlerne, »zum Beispiel sehr nette Waffenhändler«. »Nette Waffenhändler, wie schön«, bemerkte die Mutter trocken. Sie könne keine Nacht schlafen, bevor Aline nicht zu Hause sei, sagte sie noch, und dass es nicht auszudenken wäre, wüsste ihr Mann, was seine Tochter treibe.
Ich lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, weil ich sah, dass sich zwischen Aline und Franz ein Streit anbahnte, die beiden konnten sich nicht leiden. Wir lachten dann noch viel an diesem Tag, auch die Mutter. So eine tolle Frau, dachte ich, so tolerant. Dass ich auf Urlaub fahren wollte, verschwieg ich. Franz hatte mich dazu gedrängt, denn ich brauchte dringend Ruhe und Abstand. Es lag keine einfache Zeit hinter mir. Ludwig, mein erster Mann und der Vater meiner Söhne, hatte sich kurz zuvor das Leben genommen und ich war frisch operiert worden. Zum Abschied, das weiß ich noch wie heute, umarmte ich Aline und sagte ihr, sie solle ins Kino gehen und sich Die fabelhaften Baker Boys anschauen. »Michelle Pfeiffer, das bist du.« Und das Letzte, was ich von ihr hörte, war eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: »Ich war im Kino und ich danke dir, dass du mich so siehst.«
»Wie kannst du die arme Frau so erschrecken?«, sagte ich zu Franz auf dem Heimweg. »Mach dir doch nichts vor«, erwiderte er, »wenn einer durchdreht, ist es ihm egal, ob du seine Adresse hast oder nicht.« Ein paar Tage später fuhren wir mit dem Auto nach Frankreich, für mich war es der erste Urlaub seit über zehn Jahren. In den Nachrichten hörten wir noch, dass der Schauspieler Walter Sedlmayr ermordet worden war; jetzt kommt sein Doppelleben heraus, dachte ich, alles, was er immer geheim halten wollte.
Erst verbrachten wir zwei Tage in Paris, dann wollten wir auf eine traumhaft schöne Insel an der Atlantikküste. Eigentlich war alles sehr harmonisch, aber ich war unruhig und wollte ständig bei meiner Agentur anrufen, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung sei. Franz war strikt dagegen, dann hätten wir ja gleich zu Hause bleiben können, meinte er. Doch als er Getränke holte, nutzte ich die Gelegenheit und rief bei meiner Telefonistin an. Sie erzählte mir, dass Aline bei einem Kunden in Starnberg sei, alles ganz normal. Beruhigt legte ich mich schlafen, doch am nächsten Morgen überfiel mich eine Niedergeschlagenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Ich hielt es plötzlich am Atlantik nicht mehr aus und wollte nach Hause.
Wir machten uns auf den Weg nach München. Franz versuchte immer wieder, meine Stimmung aufzuhellen, aber nichts half. Er bat mich, wenigstens mit ihm zu reden, sonst falle es ihm schwer, die Strecke durchzufahren. Am Abend kamen wir an. Franz wollte noch schnell Zeitungen holen, ich ging schon nach oben. Doch die Sperrkette war angelegt und ich konnte die Tür nicht aufsperren. Da öffnete meine sechzehnjährige Tochter. Statt mich zu begrüßen, sagte sie nur: »Mama, Aline ist tot. Sie wurde ermordet!«
Ich brach in Patricias Armen zusammen. Gleich darauf kam Franz, ich lag auf dem Boden und weinte. Er, ebenfalls geschockt, zog mich hoch und legte mich ins Bett. Sobald ich wieder sprechen konnte, telefonierte ich mit den Frauen, die in meiner Agentur arbeiteten. Auch sie weinten und wollten nie wieder zu einem Kunden fahren.
Am nächsten Tag ging ich zu meiner Freundin Marlies, die mir sofort Beruhigungstabletten gab, so schwach und außer mir war ich. Gemeinsam setzen wir einen Brief an Alines Mutter auf. Zu mehr war ich in diesem Moment nicht fähig. Als ich wieder zu Hause war, hörte ich, dass auch sie mich gesucht hatte. Ich fürchtete mich vor diesem Gespräch. Alines Mutter wirkte gefasst, aber ich fühlte, dass sie unter Schock stand. Sie sagte, dass sie sich wegen der Konsequenzen für mich sorge. »Es ist egal, was mit mir passiert«, erwiderte ich. Da erzählte sie mir, dass Aline HIV-positiv gewesen sei, sie habe mir das eigentlich schon an jenem Samstag im Café Roxy sagen wollen. Doch Aline hatte ihr unter dem Tisch einen Tritt verpasst, aus Angst, daraufhin nicht mehr vermittelt zu werden. Deshalb sprach sie immer von Magersucht.
Ihren Mörder konnte die Polizei sofort ausfindig machen. Er hatte Aline nicht weit von seinem Haus in ein Gebüsch geworfen. Ein Spaziergänger, der mit seinem Hund unterwegs war, fand sie in den frühen Morgenstunden.
Sie lag dort mit nacktem Oberkörper, ohne Schuhe, nur mit ihrem Rock bekleidet. Zuerst hielt man sie für ein Kind, weil sie so zierlich war. Neben ihr lag die Tasche, darin eine Notiz mit der Adresse des Mörders. Die Blutspuren führten zu seiner Haustür, und in seiner Wohnung lagen Alines Schuhe. Er war ein dreißigjähriger Mann, der schon öfter in der Agentur angerufen und ein Mädchen bestellt hatte. »Den kenne ich«, sagte eine, »der war eigentlich ganz okay.«
Warum war es diesmal so entglitten? Aline, das konnten wir schnell...
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