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Die Generalprobe vor Eröffnung des Restaurants führte Alexander und Jasmina erstmals näher zusammen. Sid Mohammed hatte mehrere arabische Küchenhilfen eingestellt, die er in einem Heim für Asylsuchende anwarb.
Tatsächlich war Sid Mohammed die treibende Kraft des ganzen Unternehmens, aber ohne Amina wäre er gescheitert. Ihre Rollenverteilung konnte klarer nicht sein. Amina war die Herrin der Küche, Sid Mohammed zuständig für das große Ganze. Er sorgte für die geeigneten Rahmenbedingungen, damit seine Frau ihr Talent voll entfalten konnte. Und das tat er weniger aus Pflicht als vielmehr aus Liebe. Die beiden erinnerten Alexander an zwei Schwäne, die mit ihrer übergroßen Nähe der Angst begegneten, auf schwarzem Wasser die Orientierung zu verlieren. Sid Mohammed und Amina waren die rechte und die linke Hand desselben Körpers, derselben Seele und desselben Geistes. Selbst wenn sie sich stritten oder einmal unterschiedlicher Meinung waren, gingen sie respektvoll miteinander um.
Nur Jasmina wirkte daneben verloren, wobei diese Verlorenheit vermutlich weniger an ihren Eltern lag. Alexander hatte eher den Eindruck, dass auch sie ihren Platz im Leben noch suchte und nicht wusste, welchen Weg sie einschlagen sollte.
Amina ging vollständig in ihrer Arbeit auf und schien von einem unerschütterlichen Optimismus beseelt zu sein. In der Küche bewegte sie sich federleicht, wie eine Ballerina. Alles, was sie tat, war Teil einer Kochkunst, die mehr noch eine Lebenskunst war. Sie brauchte keine Kochbücher, sie verließ sich auf ihr Gespür und ihre Erfahrung. Hähnchen beispielsweise tauchte sie gern in eine würzige Marinade aus Knoblauch und gestoßenen Chilischoten, aus Salz und Pfeffer, Olivenöl und mildem Paprikapulver, aus Basilikum und Koriander, ließ die Flüssigkeit einziehen und grillte das Geflügel anschließend bei mittlerer Hitze. Das Fleisch zerging auf der Zunge und schmeckte nach Orient und Basar, nach Geheimnis und Versprechen. Aus den schlichtesten Zutaten komponierte Amina eine Symphonie für die Sinne, verwandelte Geflügel, Fisch oder Lammfleisch, Obst und Gemüse in Kompositionen, die an die Stillleben der frühen niederländischen Maler erinnerten.
Wenn Alexander sie in der Küche tänzeln sah, wurde er bisweilen melancholisch. Er wünschte, seine Mutter hätte ihr Leben mit derselben Entschlossenheit in die Hand genommen wie Amina, und er wünschte, sein Vater hätte seiner Mutter dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet wie Sid Mohammed seiner Frau. Er wünschte, die beiden könnten die Zeit zurückdrehen bis zu ihrem Ausflug in die Wümme-Niederung, dem er sein Leben verdankte. Zurück zu jenen Anfängen, als die Zukunft noch vor ihnen lag, ein grenzenloser blauer Himmel mit weißen Kondensstreifen.
Alexanders Vater war als Leiter des Bremer Großmarkts Herr über Blumen, Obst und Gemüse, das im Überseehafen umgeschlagen wurde. Die Arbeit lag ihm, er konnte gut organisieren und behielt auch in schwierigen Situationen den Überblick. Zu Hause allerdings waren die Dinge längst außer Kontrolle. Nur selten gelang es ihm, den Dreck des Tages hinter sich zu lassen, die Intrigen und Lügen, mit denen er sich auseinandersetzen musste. Oft genug sprach er davon, alles hinzuwerfen, aber es blieb bei der Ankündigung.
Ein klassischer Auftritt seines Vaters im Wintergarten, wie so häufig erlebt, kurz vor Sonnenuntergang:
»Liebling, bleib sitzen. Es war ein scheußlicher Tag. Sei froh, dass du nichts mit diesem Irrsinn zu tun hast. Was hast du heute Schönes gemacht?«
Mutter (im Sessel sitzend, den Blick auf die Wiesen- und Weidelandschaft gerichtet, die sich fast einen Kilometer bis zum Deich erstreckte, von wo es, wendete man sich nach rechts, keine zweihundert Meter bis zu Aminas Restaurant waren): »Ich habe schon gegessen. Es ist noch Suppe in der Küche.«
Vater: »Danke, Schatz. Ich hab auch schon gegessen.«
Mutter: »Warst du wieder mit diesem Flittchen unterwegs?«
Vater (genervt): »Eva, wie oft soll ich es dir noch sagen. Frau Meißner ist meine Sekretärin, sie ist gut und verlässlich, und gelegentlich gehen wir zusammen essen. Sie, ich, die übrigen Mitarbeiter. Ist das so schwer zu verstehen?«
Mutter (erhebt sich missmutig aus dem Sessel): »Glaubst du wirklich, du kannst mich für dumm verkaufen? Ich sehe doch, wie deine Augen glänzen, wenn du mit ihr telefonierst.«
Vater (das Gesicht zunehmend versteinert): »Ist es dir lieber, wenn ich sie anbrülle?«
Mutter (fassungslos): »Ach, Volker, tu doch nicht so scheinheilig! Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«
Vater (geneigt, eine ehrliche Antwort zu geben): »Es ist jeden Abend dasselbe. Ich kann machen, was ich will. Du gibst mir keine Chance. Alles, was ich sage, ist falsch. Und wenn ich mit dir was unternehmen möchte, bist du müde oder hast keine Lust. Manchmal frage ich mich, warum wir uns das alles antun.«
Mutter (triumphierend): »Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch. Frau Meißner hat bestimmt eine wunderschöne Einzimmerwohnung mit Blick auf die Autobahn. Aber das kann dir glücklicherweise egal sein. Du brauchst das Bett ja sowieso nur zum Schlafen.«
Alexanders Mutter hatte ihr Studium abgebrochen und machte dafür ihren Mann verantwortlich. Einmal fragte Alexander sie, was sie eigentlich daran hindere, ihren Abschluss nachzuholen. »Es ist zu spät!«, rief sie verzweifelt. »Es ist zu spät.« Ihr Sohn dagegen fand, es sei nie zu spät, aber vermutlich fehlte es ihr an Selbstvertrauen. Das sagte er natürlich nicht. Es machte ihn nur traurig. Seine Eltern wohnten in einem alten Niedersachsenhaus am Deichweg, reetgedeckt und mit der Inschrift versehen: »Der Segen Gottes wohne in und über diesem Hause und in uns allen die darin wohnen. Den 12. Juli 1748«. Zwei hölzerne Pferdeköpfe zierten den über das Dach hinaus verlängerten Giebel. Eine Art Glücksbringer und Talisman, der bei seinen Eltern aber nicht verfing. Seine Mutter hatte das Haus geschmackvoll eingerichtet und einen wunderbaren Garten angelegt, der zum Flanieren und Träumen einlud. Büsche und Bäume hatte sie gepflanzt, einen Teich angelegt und Blumenbeete mit geometrischen Mustern in Form von Sternenbildern. Seine Mutter besaß so viel Fantasie und Tatkraft, wenn sie nur wollte.
Wie ganz anders dagegen waren Amina und Sid Mohammed. Sie hatten das leerstehende ehemalige Pfarrhaus hinter der Lesumer Kirche gemietet, das von der Straße her gut einzusehen war. Im Vorbeigehen warf Alexander oft einen verstohlenen Blick in die Wohnung, in der Hoffnung, Jasmina in der Küche oder im Wohnzimmer zu sehen. Wenn er tatsächlich ihre Silhouette erblickte, spürte er, wie sein Herz schneller zu schlagen begann.
Inzwischen waren die Umbauarbeiten abgeschlossen, und das »Amina« konnte seine ersten Gäste empfangen. Zunächst gelangte man in das Foyer. Es war dämmrig, von der Decke hingen zwei Kandelaber mit Kerzen. In die linke Wand war eine steinerne Sitzbank eingelassen, auf der ein schmaler roter Teppich und zahlreiche Sitzkissen in verschiedenen Farbtönen und orientalischen Mustern lagen. Davor standen mehrere kleine runde Schemel aus Holz, darauf Tabletts aus Messing mit zahlreichen Gravuren und arabischen Schriftzügen. Gegenüber war die Theke, an der Stirnseite führte eine Treppe hinauf in das Restaurant. Sid Mohammed hatte die Idee, dass Jasmina jeden Gast in Empfang nehmen, ihn zur Sitzbank geleiten und ein Willkommensgetränk reichen sollte. Entweder ein Glas Sekt, wahlweise pur oder mit einem Aprikosenextrakt, oder aber Schai Nana, den süßen marokkanischen Pfefferminztee. Anschließend würde Sid Mohammed den Gast in das eigentliche Restaurant hinaufführen, einen großen Saal, in dem bis zu einhundertzwanzig Gäste sitzen konnten.
An den Wänden standen Vitrinen, in denen Krummdolche, Schmuck, modische Accessoires aus arabischen Ländern und Bücher nordafrikanischer Schriftsteller in deutscher Übersetzung ausgestellt waren. Die braunen Tische und Stühle erinnerten Alexander an Pariser Bars aus den zwanziger oder dreißiger Jahren, wie er sie auf historischen Fotografien gesehen hatte. Weiße Tischdecken verliehen dem Raum zusätzliche Eleganz. Das cremefarbene Geschirr zeugte ebenso wie die eleganten Riedel-Gläser von einem exklusiven Geschmack. Auf den Tischen waren safrangelbe Linsen ausgestreut und ergossen sich in fantasievollen Mustern, in der Mitte stand jeweils eine rote Rose in einer Kristallvase. Von der Decke hingen mehrere Lampen aus Marokko, rot, grün und blau, Kombinationen aus dünnem Messing und Glas, rechteckig wie Erkerfenster. Sie gaben ein diffuses Licht, das eine angenehme, intime Atmosphäre verbreitete.
Alexander spielte den Probegast, der von Jasmina empfangen werden sollte. Später verriet ihm Sid Mohammed, dass er an diesem Tag erkannt habe, was Alexander für seine Tochter empfände. Alexander betrat also das Foyer, blickte in Jasminas mandelbraune Augen, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte, und spürte, wie er unsicher wurde.
»Sind Sie allein oder zu zweit?«, fragte Jasmina.
»Ich bin . ehrlich gesagt . also, allein.«
Sie führte ihn zur Sitzbank und fragte nach seinem Getränkewunsch, auf Kosten des Hauses. Ihm war es egal, und aus Versehen sagte er: »Sekt mit Pfefferminztee.«
Jasmina runzelte die Stirn und reichte ihm einen Tee.
»Wollen Sie sich setzen?«, fragte er.
»Ich muss arbeiten«, erwiderte sie kühl.
»Ja, natürlich. Ich dachte nur, dass Sie möglicherweise Zeit und Lust hätten .«
Jasminas Gesichtszüge verdunkelten sich, und sie fiel ihm ins Wort. »Verdammt noch mal, ich kann doch...