Kapitel 3 Der Wecker klingelte zu früh, wie jeden Morgen. Als ich mich knurrend umdrehte, um ihn auszustellen, spürte ich eine warme Hand an meinem Rücken. Ich strich mir mit den Fingern die Haare aus dem Gesicht und blickte zur rechten Bettseite. Martin schlief seelenruhig, als hätte er den Wecker überhaupt nicht wahrgenommen. Die Decke lag halb auf seiner wirklich ansehnlich trainierten Brust, ein Arm unter seinem Kopf, der andere ausgestreckt neben ihm. Er nahm mal wieder zwei Drittel des Bettes ein, obwohl es wirklich groß war, aber das störte mich im Moment auch nicht.
Ich rutschte näher an ihn heran, küsste sanft seinen dunkelblonden Haaransatz, seine Wange, seine gerade Nase, das hübsche Kinn. Bis er mit geschlossenen Augen die Stirn runzelte. »Was?«, murmelte er schlaftrunken und zog die Decke zu meinem Bedauern über seine Brust bis zum Hals hoch.
Er war offensichtlich sehr spät nach Hause gekommen und musste auch erst in ein oder zwei Stunden aufstehen. Eigentlich hatte Martin einen normalen Nine-to-five-Job, aber er war letztes Jahr in die Chefetage der Aktienfirma gezogen, bei der er arbeitete. Nun war er seinem Traum, direkt unter dem Chef zu arbeiten und ihn irgendwann vielleicht sogar abzulösen, verdammt nah. Er hatte mir schon mehrfach erklärt, dass es wichtig war, Überstunden zu machen, um Präsenz zu zeigen und sich unverzichtbar zu machen. Ich verstand zwar nicht, wo er in seinem Berufsleben noch hinwollte, wenn er jetzt schon sicher dreimal so viel verdiente wie ich, aber so war Martin eben. Egal, wie viel Entbehrungen in anderen Bereichen das für ihn bedeutete. Vielleicht lag es daran, dass er ein paar Jahre älter war als ich. Vielleicht würde ich mit achtundzwanzig auch so sein.
Trotzdem stupste ich ihn noch einmal sanft an, ließ den Finger über seine stoppeligen Wangenknochen gleiten. »Ich habe mich gefragt, ob du mit mir vielleicht einen Kaffee trinken möchtest, bevor ich zur Arbeit muss?«
Martin brummte. Erst dachte ich, dass er schon wieder eingeschlafen war, dann entfuhr ihm plötzlich ein tiefes Seufzen. »Nicht heute, Tess. Ich bin todmüde.« Seine Hand suchte kurz meine Wange, um sie zu tätscheln, dann drehte er sich von mir weg und vergrub sich wieder unter der Decke.
Ich presste die Lippen zusammen. Klar. Eigentlich hatte ich auch nicht damit gerechnet. Aber einen Versuch war es wert gewesen. Also schob ich mich allein aus den Laken, tapste barfuß ins Bad rüber und machte mich fertig. Während mein Cappuccino in den To-go-Becher lief, ging ich die Einträge in meinem Planer durch. Noch acht Tage bis zur nächsten Prüfung und zwei Lektionen dafür zu lernen. Ein paar letzte Termine für diese Woche. Unten auf der Seite stand: Bald mit Weihnachtsgeschenke-Shopping anfangen! Ich seufzte tief, zum zweiten Mal an diesem Morgen. Das reichte für die kurze Zeit, die ich erst wach war, definitiv an negativen Gedanken.
Also schnappte ich mir meinen Cappuccino, ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass ich eigentlich noch trödeln könnte. Egal, hier herumsitzen brachte mir auch nichts. Schnell zwei Spritzer Parfüm drauf, noch einmal die Haare im Flurspiegel richten und los. Ich war froh, dass mein Auto nicht allzu weit geparkt war, denn es war verdammt kalt draußen. Glücklicherweise hatte es nachts noch keinen Frost gegeben, also musste ich die Scheiben wenigstens nicht freikratzen.
Ich ließ mich auf den Sitz fallen, stellte den Becher auf die vorgesehene Ablage und drehte dann schnell die Heizung an, die meinen Hintern auf der Fahrt schön warm toasten würde. Im Winter war sie mein bester Freund. Um den Rest schlechte Laune abzuschütteln, stellte ich die Radiomusik extralaut und fuhr los.
Dank der Leitungsdienste, die etwas später begannen als der Frühdienst, geriet ich oft schon in den normalen Berufsverkehr. Aber weil ich heute so zeitig dran war, kam ich ziemlich gut durch und war innerhalb von fünfzehn Minuten auf dem Parkplatz neben dem Sankt Alex. Ich stieg aus, eine Hand an dem noch schön warmen Cappuccino, die andere zog den Wintermantel enger. Als ich auf das bereits hell beleuchtete Glasgebäude zulief, das seinen topmodernen Ruf wirklich verdiente, kribbelte wieder ein wenig Aufregung in mir hoch. Wegen der Arbeit, die mich heute erwartete. Wegen der Patienten, die hoffentlich heute den Tag gut überstanden. Aber auch ein wenig wegen der Leitungsrunde, zu der Malik mich heute mitnehmen wollte. Ich hatte keine Ahnung, warum, weil da in der Regel nur Neuigkeiten besprochen wurden und es ansonsten eher eine unspektakuläre Veranstaltung war, zu der alle Stationsleitungen des Alex kamen. Aber es war immerhin das erste Mal, dass ich mit hindurfte, und das schien mich um eine Stufe nach oben zu heben. Tessa, die zukünftige Stationsleitung. Es rückte langsam in greifbare Nähe. Genau wie das, was danach kommen würde. Tessa, die Pflegedienstleitung in ihrem eigenen Büro. Tessa, Assistentin der Krankenhausleitung. Vielleicht sollte ich dann doch wieder anfangen, mich von allen Theresa nennen zu lassen. Auch wenn ich meinen Namen eigentlich nicht mochte, strahlte er doch noch ein wenig mehr Autorität aus.
Völlig in die Gedanken darüber versunken, was meine nähere Zukunft bringen würde, zog ich mich um und marschierte auf Station. Das Erste, was ich bemerkte, war, dass Malik schon da war. Das war ungewöhnlich, normalerweise kam er immer etwa eine Minute vor Dienstbeginn auf Station geschneit, entschuldigte sich für die unmöglich fahrenden Bahnen und musste dann erst einmal seine Dienstkleidung zurechtzupfen, weil er sie so schnell hatte anziehen müssen. Heute stand er schon am Stationszimmer und redete mit Maria, die ihre rotblonden Locken zu einem hohen Zopf gebunden hatte, der schon wieder sehr locker saß. Als wäre sie bereits den halben Morgen im Affenzahn über Station gerannt.
Als ich näher kam, blickte Malik über seine Schulter und lächelte mich an. Es war kein grüßendes Lächeln, das erkannte ich sofort. Es war ein entschuldigendes.
»Was ist denn nun schon wieder?«, brummte ich, was mir einen etwas entsetzten Blick von Maria einbrachte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete an Maliks Stelle: »Caro hat sich krankgemeldet. Anscheinend hat sie über Nacht Fieber bekommen.«
Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie ihrer Kollegin nicht glaubte, und aus irgendeinem Grund machte mich das wirklich sauer. Ich konnte mich noch gut an meine Ausbildung erinnern und daran, wie schuldig ich mich immer gefühlt hatte, wenn ich mich hatte krankmelden müssen. In der Charité war der Personalschlüssel noch um einiges schlechter als im Sankt Alex, deshalb fühlte jeder, der sich krankmeldete, sich immer irgendwie schuldig, weil er seine Kollegen im Stich ließ. Dabei war das absolut irrsinnig - wenn man krank war, war man krank. So einfach. Und solche bissigen Kommentare wie die von Maria halfen dann wirklich überhaupt nicht.
»Das wundert mich nicht«, sagte ich deshalb in kühlem Ton. »Sie war gestern schon da, obwohl sie völlig erschöpft war. Die Arme hat sich offensichtlich übernommen. Hoffentlich geht es ihr bald besser.« Keine Ahnung, ob Caro wirklich erschöpft gewesen war, ich hatte nicht mehr als zwei Sätze mit ihr am Vortag gewechselt. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, sie verteidigen zu müssen.
Es schien zu klappen, Maria war das schlechte Gewissen sofort ins Gesicht geschrieben. »Ja, hoffentlich«, setzte sie an, bevor sie sich wieder zu Malik umdrehte. »Aber dadurch sind wir jetzt leider ziemlich am Limit. Jaron ist noch da, er übernimmt die aufwendigere rechte Seite. Und Philipp ist zur Betreuung da, er spielt mit den Patienten, bei denen keine Eltern da sind. Aber er kann sich ja auch nicht vierteilen und ich habe auf meiner Seite ein paar wirklich betreuungsintensive Patienten, Luca zum Beispiel .«
»Das ist doch kein Problem«, sagte Malik mit einer Stimme, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Die Stimme einer Stationsleitung. Ich kam nicht umhin, ihn wieder einmal dafür zu bewundern. Aber nur, bis er mir ein weiches Lächeln zuwarf. »Tessa wird sich um Luca kümmern, dann hast du den Rücken frei für die restlichen Patienten.«
Ich konnte mein Kinn gerade noch daran hindern, nach unten zu klappen. Maria schien absolut überrascht, aber kein bisschen unglücklich. »Denkst du wirklich .« Ihr Blick wanderte kurz zu mir, bevor sie verstummte. Ich presste die Lippen zusammen, weil ich eigentlich gar nicht hören wollte, was sie im Begriff war zu sagen - es insgeheim aber natürlich trotzdem wusste. Denkst du, sie ist geeignet dafür? Die, die erst seit ein paar Wochen hier ist und kaum Onkologie-Erfahrung hat? Denkst du, sie kann mit solchen Patienten umgehen, wenn nicht einmal wir das können, die schon ewig hier sind?
Obwohl die meisten anderen Schwestern nett zu mir waren, wusste ich doch, dass sie mir nicht allzu viel zutrauten. Für sie war ich ein Frischling, der, kaum aus der Ausbildung, schon versuchte, Chefin zu spielen. Ich wusste, dass man sich Respekt erst verdienen musste, aber es ärgerte mich trotzdem.
»Was ist mit der Leitungsrunde?«, fragte ich und versuchte wirklich, nicht ungeduldig zu klingen.
»Ist nicht so wichtig wie der Stationsalltag«, gab Malik zurück. Er nickte Maria zu, die sich sofort verzog, bevor er mir eine Hand auf die Schulter legte. »Tut mir leid, ich weiß, dass du gern mitwolltest und ich es dir ja auch versprochen hatte.«
Ich spürte in meinem Inneren nach und fand zu meiner eigenen Überraschung keine Verärgerung darüber. Ich war ein wenig enttäuscht, aber das war alles. »Du musst dich nicht entschuldigen. Als Stationsleitung hast du die Aufgabe, dass hier alles läuft, und das tust du damit.« Ich...