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Gundula Ludwig und Birgit Sauer
Feministische Staatstheorie basiert auf der Prämisse, dass die Politikwissenschaft in einem »vor-wissenschaftlichen Denken« (Kreisky 1995: 27) verbleibt, solange sie die Bedeutung von Geschlecht für die Analyse von Staat, Gesellschaft und Politik ignoriert. Feministische Politikwissenschaft ist demgegenüber, wie Eva Kreisky in den 1990er Jahren konstatierte, von dem erkenntnistheoretischen Interesse getragen, geschlechtsneutrale »Halbwahrheiten« (ebd.) aufzubrechen, die nicht nur die Disziplin präg(t)en, sondern ebenso staatliches Handeln. Die Vergeschlechtlichung staatlicher Strukturen, Institutionen und Normen aufzudecken sowie ihre vermeintliche Neutralität zu kritisieren, ist daher das Ziel feministischer Staatstheorie. Feministische Staatstheorie zeigt auf, wie der Staat in komplexen und widersprüchlichen Prozessen aus Geschlechterverhältnissen entsteht und wie er Geschlechterverhältnisse als Ungleichheits-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse reproduziert und legimitiert.
Die Auseinandersetzung mit dem Staat setzte innerhalb feministischer Theoriebildung erst relativ spät ein. Die steigende Bedeutung von Staaten für die Gleichstellung von Frauen, aber auch die neoliberale Ideologie der Verabschiedung des Staates zugunsten der Dominanz von Marktkräften ließen intensive theoretische Auseinandersetzungen mit dem Staat seit den 1990er Jahren vor allem im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum entstehen (u.a. Allen 1990; Pringle/Watson 1990; Watson 1990; Brown 1992, Kreisky/Sauer 1995, 1997). Staatstheoretische Texte wollen die Patriarchalität oder Maskulinität des Staates jenseits seiner buchstäblichen >Bemanntheit< theoretisch fassen. Wendy Browns (1992) Text Finding the man in the state war hier für die frühen feministischen staatstheoretischen Debatten paradigmatisch, ging es ihr doch darum, Männlichkeit als staatliche Struktur zu theoretisieren, ohne das schlichte Argument, dass Männer staatliche Positionen besetzen.
Durchaus in der Tradition feministischer Wissenschaftstheorie verfolgt feministische Staatstheorie zwei Anliegen: durch die Suspendierung eines vermeintlich universellen Standpunkts Theoretisierungen von Staat, Politik und Gesellschaft komplexer zu machen (Bargetz/Ludwig 2023) und den »folgenreiche[n] männliche[n] Schulterschluß zwischen politischer >Praxis< und politischer >Wissenschaft<« (Kreisky 1995: 36) aufzubrechen, der in vielfältiger Weise zur Naturalisierung von Ungleichheitsverhältnissen und zur Verengung des Politikverständnisses führt(e). Feministische Staatstheorie hat sich daher von Beginn an immer auch als eingreifende Wissenschaft verstanden: »Theoretisierung geschlechtsspezifischer Herrschaft im Hinblick auf Staatlichkeit soll ein Instrumentarium bereitstellen, das geschlechtsspezifische Herrschaft benennen, kritisieren, aber auch verändern kann. Damit sind Staatstheorien niemals nur festschreibend, sondern zugleich politisch und emanzipatorisch orientiert« (Löffler 2011: 193).
Um zu erklären, wie Geschlecht und Staat miteinander verwoben sind - aber auch, wie sich dieses Zusammenspiel immer wieder verändert -, intervenierten Feminist*innen in zweierlei Hinsicht in die Staatstheorie: Erstens wurden >klassische< staatstheoretische Begriffe, Konzepte und Theorien erweitert, und zweitens wurden neue Begriffe, Konzepte und Theoreme als Teil der Staatstheorie etabliert.
So wies beispielsweise Carole Pateman (1988) den Gesellschaftsvertrag als zutiefst vergeschlechtlichte Übereinkunft aus, wird er doch von weißen, bürgerlichen, heterosexuellen Männern geschlossen. Zudem zeigte Pateman, wie die Konstruktion des vertragsfähigen Individuums »ein maskulinistisches Phantasma« darstellt (Ludwig 2023: 54): Denn nur wenn Abhängigkeiten, Emotionen und Sorgebeziehungen in den feminisierten Bereich der Privatheit ausgelagert werden, können die öffentlich-politischen Bürger (sic!) als autonome, rationale Individuen imaginiert werden. Mit dieser feministischen Erweiterung der Vertragstheorien legte Pateman dar, wie bereits die Grundlage moderner westlicher Staatlichkeit - der Vertrag - ohne ungleiche Geschlechterverhältnisse nicht aufrechtzuerhalten wäre.
In ähnlicher Weise wies Mechthild Rumpf (1992) die Annahme des staatlichen Gewaltmonopols als vergeschlechtlichte Konstruktion aus. Denn neben dem staatlichen Gewaltmonopol existiert ein maskulines >privates< Gewaltmonopol innerhalb der Familie, das durch den Staat erst ermöglicht wird (Sauer 2002: 91). Patriarchal-heteronormative Geschlechter- und Familienkonstruktionen sind Kehrseite wie Fundament des politisch-theoretischen »Mythos des staatlichen Gewaltmonopols« (Rumpf 1992: 12) und der politischen Praxis der Legitimation der »Verfügungsgewalt des (Ehe-)Mannes über die (Ehe-)Frau bis hin zum Recht auf körperliche Gewalt« (Sauer 2008: 98).
Auch das Konzept der Staatsbürgerschaft als vermeintlich universelles konnte einer feministischen Kritik nicht standhalten. Der androzentrische Charakter von Staatsbürgerschaft manifestiert sich über den historischen Ausschluss von Frauen hinaus darin, dass die Parameter, die Staatsbürgerschaft definieren, Sedimentierungen weißer, männlicher, bürgerlicher, heterosexueller, ability-zentrierter Lebensweisen sind (Wilde 1997). Ebenso wurde das Recht aus feministischer Perspektive als androzentrische Konstruktion entlarvt. Nicht Gleichheit und Objektivität liegen ihm zugrunde, sondern Normen, die »männlich, aber auch weiß und einheimisch, heterosexuell und kulturell unauffällig sind« (Holzleithner 2009: 48). Konsequenterweise erweist sich der vermeintliche >Universalismus< des Rechts nicht nur als »männliche Parteinahme«, sondern auch als Strategie, diese auszublenden (Baer/Berghahn 1996: 227).
Neben diesen Revisionen staatstheoretischer Konzepte bestand der Einsatz feministischer Konzeptualisierungen darin, neue Begriffe in die Staatstheorie hineinzutragen: Basierend auf der Suspendierung des androzentrischen Phantasmas des vermeintlich körper-, emotions- und beziehungslosen Bürgers als Grundlage für Staat und Politik und auf der Kritik an der Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wurde sichtbar gemacht, dass Reproduktion, Sorge, Körper, Affekte, Sexualität, Lebensformen und soziale Beziehungen zentrale Stützen für Staatlichkeit als auch Effekt staatlicher Regulierungen, Disziplinierungen und Norm(alis)ierungen sind.
Durch diese Integration neuer Begriffe und Konzepte in die Staatstheorie konnte gezeigt werden, dass westliche Wohlfahrtsstaaten auf privat erbrachter Reproduktionsarbeit von (zumeist) Frauen aufbauen (Sauer 2001: 125 ff.). Sorgearbeit und jene Ungleichheitsverhältnisse, die dazu führen, dass sie entweder privat und unbezahlt oder prekär und mit geringem Lohn und Prestige versehen geleistet werden, können erst Teil staatstheoretischer Kritik werden, wenn der politische Charakter von Sorge- und Familienverhältnissen anerkannt wird (Maier 2022).
Ebenso führte das feministische Beharren, dass auch Sexualität und Körper mit dem Staat verwoben sind, zu einer Erweiterung der Staatstheorie. Damit konnte eine umfassende
»Politisierung der Tatsache [angestoßen werden], dass dieses vermeintlich Private hochgradig staatlich reguliert ist - nicht nur durch explizite eugenische, pronatalistische (geburtenfördernde) oder antinatalistische (geburtenreduzierende) Bevölkerungspolitik, sondern durch Gesundheitspolitik wie Abtreibungsgesetze, Familien- und Sozialpolitik oder den wissenspolitischen Rahmen der Bevölkerungsstatistik. Eine Politisierung des Privaten meint in diesem Zusammenhang also immer schon eine Politisierung der Verstaatlichung des Privaten« (Schultz 2009: 183 f.).
Sexistische, heteronormative, klassistische, rassistische und ability-zentrierte Bevölkerungs- und Reproduktionspolitiken sind somit konstitutiv mit moderner ...
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