Schweitzer Fachinformationen
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Das Grab war frisch.
Die Kränze und die Blumen waren vor zwei Wochen weggeräumt worden, nur zwei einzelne Tulpen lagen auf der sorgfältig geharkten Erde. Es war früher Morgen, die Sonne stand noch tief, kaltes Licht strahlte durch die Zweige einer kahlen Buche. Der gedrungene Schatten eines Menschen fiel auf den Grabstein aus grauem Basalt. Ein Name war in den Stein gemeißelt, darunter ein paar Zahlen.
ROBERT SCHRÖDER
1939-2013
Seit zehn Minuten stand der kleine Mann allein vor dem Grab. Er hatte die Beine leicht gespreizt, die Hände waren vor dem Schoß gefaltet, als würde er beten. Sein Kopf war ein wenig auf die Brust gesunken, um den dicken Hals wand sich ein Schal bis hinauf zum Kinn. Über dem schwarzen Anzug trug er einen altmodischen Mantel mit Fischgrätmuster, sein Kopf wurde von einer Fellmütze bedeckt, die ein paar Nummern zu groß schien.
»Mama geht es gut. Ich soll dich von ihr grüßen, Papa.«
Der Kleine sprach laut und deutlich, als würde der Tote irgendwo gegenüber im gefrorenen Gras unter den Bäumen stehen.
»Du fehlst ihr.«
Er schob die Mütze aus der Stirn.
»Mir fehlst du auch. Sehr.«
Die Beerdigung war vor vier Wochen gewesen, seitdem kam er jeden Morgen her. Jedes Mal legte er zwei frische Blumen auf das Grab, die vom Vortag nahm er mit, wenn er nach ein paar Minuten wieder ging.
Die Äste der Buche bewegten sich sacht im Wind.
»Du hättest ruhig noch ein paar Jahre bleiben können.«
Eine Weile stand der Kleine schweigend da, den Kopf ein wenig schief gelegt, es schien, als lausche er in die morgendliche Stille.
»Ich weiß, dass ich ein guter Polizist bin«, sagte er laut. Er dachte einen Moment nach. »Nein«, verbesserte er sich dann, »ich war ein guter Polizist. Es war meine Entscheidung, aufzuhören. Und sie war richtig.«
Er ging in die Hocke, hob einen verdorrten Zweig auf und warf ihn beiseite.
»Das glaube ich zumindest. Ich konnte nicht wissen, dass du nur noch ein paar Wochen leben würdest.«
Sorgfältig strich er die Erde vor dem Grabstein glatt. Als er sich wieder aufrichtete, gab sein Knie ein lautes Knacken von sich.
»Im Frühjahr pflanz ich ein paar Blumen. Margeriten, was hältst du davon?«
Wieder lauschte er einen Moment.
»Mir ist klar, dass du dir nichts aus Blumen machst. Ich bin dein Sohn, ich kenne dich ziemlich gut. Hast du das vergessen?«
Er trat seitlich an den Grabstein heran, strich vorsichtig über den Basalt. Seine kurzen Finger waren von der Kälte gerötet.
»Ich muss jetzt los, Mama wartet bestimmt schon. Und ich will den Laden pünktlich aufmachen, vorher muss ich noch einkaufen.«
Die Schritte des kleinen Mannes knirschten über weißen Kies, dann drehte er sich noch einmal um.
»Bis morgen.«
Ein Eichhörnchen hüpfte am Stamm einer Tanne empor. Der kleine Mann sah zu, wie das Tier im Geäst verschwand. Seine stahlblauen Augen glitzerten in der Sonne.
»Schlaf schön, Papa.«
Langsam, in seinem typischen, schaukelnden Gang, ging der dicke Schröder davon.
Vom alten Wachturm bis zum Bahnhof betrug die Entfernung ungefähr einen Kilometer. Dazwischen lag der obere Boulevard, eine heruntergekommene Fußgängerzone, die ihre besten Zeiten wohl im Mittelalter gesehen hatte, als Pferdeknechte und Fuhrwerke ihren Weg Richtung Innenstadt nahmen.
Die Läden standen zum großen Teil leer. Warum, konnte niemand genau sagen, schließlich befand sich die Straße mitten im Herzen der Stadt. Trotzdem gingen die Geschäfte schlecht, kaum jemand kam hier vorbei, geschweige denn, dass er etwas kaufte. Ab und zu fand sich ein Wagemutiger und eröffnete zwischen schiefen Bauzäunen und überquellenden Papierkörben eine neue Pizzeria, einen Herrenfriseur oder einen Zeitungsladen. Die meisten schlossen nach kurzer Zeit wieder.
Die Glocke am alten Wachturm schlug ein Uhr, der Boulevard wirkte verlassen wie ein spanisches Bergdorf während der mittäglichen Siesta. Aus der Unterführung zum Bahnhof trat ein dunkelhaariger Mann in Jeans und kurzer Lederjacke, blinzelte kurz in der Sonne und steuerte dann direkt auf einen vietnamesischen Textilhändler neben einer geschlossenen Eisdiele zu. Er umrundete ein paar schiefe Kleiderständer unter einer verblichenen Markise, wich einem rostigen Fahrradständer aus und erreichte dann eine etwas nach hinten versetzte Ladentür. Quer über das frisch geputzte Schaufenster verlief ein gezackter Riss, neben dem Eingang hing ein poliertes Messingschild.
CHEZ SCHRÖDER
Vom Gourmet für Genießer
Mo-Do von 12-15 Uhr
Claudius Zorn öffnete die Tür, ein durchdringendes Bimmeln erklang. Missmutig verzog er das Gesicht, griff eine Tageszeitung von einem Haken neben der Garderobe, setzte sich an den einzigen Tisch direkt am Fenster und begann zu lesen.
Der kleine, schlauchartige Laden war leer, die hohen Wände frisch gestrichen. Es roch nach Bohnerwachs und seltenen Gewürzen. An der Decke drehte sich ein altmodischer Ventilator, am anderen Ende des Raumes stand ein hölzerner Tresen, dahinter, durch einen Vorhang abgetrennt, schien die Küche zu sein. Leise Musik drang heraus, Töpfe klapperten.
»Bin gleich da, Chef!«
Der Vorhang teilte sich, Schröder erschien und stellte ein Glas Wasser auf die blankpolierte Tischplatte.
»Es gibt Currygeschnetzeltes mit Kartoffelbrei. Selbstgemacht, natürlich.«
Schröder trug eine karierte Kochhose, sie war ihm zu groß, er hatte sie an den Beinen hochkrempeln müssen. Vor dem dicken Bauch spannte eine weiße, frisch gebügelte Schürze. Er setzte sich Zorn gegenüber.
»Wann schraubst du endlich diese bekloppte Glocke ab?«, knurrte Zorn, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. »Dieses Gebimmel raubt einem den letzten Nerv!«
»Diese Glocke stammt noch von meinem Großvater. Wenn sie läutet, merke ich, dass Gäste kommen.«
Zorn blätterte um.
»Soweit ich weiß, bin ich dein einziger Gast.«
Schröder erwiderte nichts, ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er sah Zorn an, der ausschließlich mit seiner Lektüre beschäftigt schien.
»Steht was Interessantes drin?«
Zorn klappte die Zeitung zusammen.
»Die Pferderennbahn wird abgerissen. Und bei Aldi gibt's Thermosocken für eins fünfzig.«
»Pro Stück?«
»Pro Paar.«
»Unglaublich.« Schröder deutete nach draußen, auf die Kleiderständer seines vietnamesischen Nachbarn. »Bei ihm sind sie doppelt so teuer.«
»Die Thermosocken?«
»Sí, señor. Aber dafür hat er Taucherbrillen im Angebot.«
»Der verkauft Taucherbrillen? Jetzt, im Januar?«
»Ich hab gestern eine erstanden«, nickte Schröder ernst. »Nachbarschaftshilfe.«
Sie sahen aus dem Fenster. Eine hochschwangere Frau lief vorbei. Mit der einen Hand schob sie einen Kinderwagen, an der anderen hielt sie ein jammerndes Kind, das sie achtlos hinter sich herzerrte.
»Hast du Hunger?«, fragte Schröder.
»Natürlich«, log Zorn. »Warum sollte ich sonst hier sein?«
Nun, der Grund war einfach: Schröder war kein Polizist mehr. Wenn Zorn ihn sehen wollte, musste er herkommen. Er vermisste diesen kleinen, dicken Mann mit dem immer kahler werdenden Schädel. Das hätte er natürlich niemals zugegeben, aber zu behaupten, dass er etwas essen wolle, war ein guter Vorwand. Vom Präsidium waren es nicht mehr als ein paar Minuten Fußweg, Zorn verbrachte mittlerweile seine Mittagspause hier, stocherte in Schröders Essen, beschwerte sich über den ungenießbaren Fraß in der Kantine und tat, als habe er schlechte Laune. Wenn er ging, hatte er sein Essen kaum angerührt.
Aber er hatte jede Sekunde genossen.
Auch das sprach er nie aus. Das musste er auch nicht, sie wussten es beide.
»Es dauert noch ein paar Minuten«, sagte Schröder, nahm einen Lappen und wischte über die blitzblank gewienerte Tischplatte. »Wie läuft's auf Arbeit?«
»Wie immer«, brummte Zorn. »Gestern gab's einen Unfall, ein Mann ist vor eine S-Bahn gestürzt.«
»Selbstmord?«
»Das prüfen wir grad. Tu nicht so, als würde dich das interessieren.«
»Es interessiert mich aber.«
»Dann komm wieder zurück.«
Das klang spöttisch, aber es war anders gemeint. Ernst, sehr ernst sogar.
Schröder überhörte es.
»Was macht Malina?«, fragte er.
»Sie ist in Dubrovnik, auf Dienstreise. In drei Tagen kommt sie wieder.«
»Grüß sie von mir, Chef.«
»Ich bin nicht mehr dein Chef.«
»Wie soll ich dich denn sonst nennen?« Schröder tat, als müsse er überlegen. »Claudius vielleicht?«
Zorn rümpfte die Nase. Nur zwei Menschen nannten ihn bei seinem Vornamen: Der eine war seine Mutter. Natürlich, sie hatte ihm diesen Namen eingebrockt. Der andere war Malina, allerdings nur, wenn sie wütend auf ihn war. Oder wenn sie ihn ärgern wollte.
Und überhaupt, dachte Zorn. War ich das jemals? Schröders Chef? Auf dem Papier vielleicht, aber in Wirklichkeit hatte Schröder immer bestimmt, was geschah. Unauffällig, aber mit einem sanften, fast liebevollen Druck hatte Schröder ihn durch die Ermittlungen (und, wenn Zorn länger darüber nachdachte, auch durch sein Leben) geschoben.
Das war jetzt vorbei. Endgültig.
Schröder stand auf und strich die Schürze über dem Bauch glatt.
»Möchtest du noch ein Wasser?«, fragte er und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Claudius?«
Zorn nahm seine Brille ab und sah...
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