Schweitzer Fachinformationen
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Es war Anfang August, und es war schwül. Die Menschen duckten sich unter der Hitze, es schien, als hätte sich eine schmuddelige Herrensocke über die Gegend gebreitet. Die Stadt glich einer flimmernden Garküche, in der es nach Abgasen, kochendem Asphalt und menschlichem Schweiß roch.
Als Claudius Zorn auf den Besucherparkplatz des Stadtklinikums einbog, waren alle Plätze besetzt. Kurzerhand hielt er auf einem der freien Behindertenparkplätze, zog die Handbremse und stieg aus.
Er zündete sich eine Zigarette an und lief auf den Haupteingang zu. Bereits nach wenigen Sekunden bildeten sich Schweißflecken unter den Achseln seines gelben T-Shirts. Die dunklen Haare waren in den letzten drei Monaten gewachsen und hingen ihm tief über die Augen, er trug Jeans und weiße Turnschuhe, die auf dem heißen Pflaster des Fußwegs leise quietschten.
Als Schröder ihn sah, schirmte er mit der einen Hand das Gesicht gegen die Sonne ab und winkte ihm mit der anderen zu. Er stand im Schatten des riesigen Vordachs, direkt neben einem der großen Aschenbecher und schien seit geraumer Zeit zu warten.
»Bin ich zu spät?«, fragte Zorn und trat die Zigarette direkt neben dem Aschenbecher aus.
»Nein, Chef. Drei Minuten zu früh.«
Zorn musterte ihn aus den Augenwinkeln. Der dicke Schröder war blass. Seine Füße steckten in altmodischen Ledersandalen, trotz der Hitze trug er hellbraune, karierte Strümpfe. Die unvermeidliche Cordhose schien drei Nummern zu groß, er musste mindestens zehn Pfund abgenommen haben. Sein Jackett hing sorgfältig zusammengelegt über einem kleinen Rollkoffer, der neben ihm auf dem Boden stand.
»Danke, dass du mich abholst, Chef.«
Zorn murmelte, dass das doch selbstverständlich sei, und spürte einen leichten, unbehaglichen Stich in der Magengegend. Schließlich hatte er Schröder in den letzten zwölf Wochen nur ein einziges Mal besucht und dies mit seiner - wie er sich einredete - pathologischen Abneigung gegen Krankenhäuser begründet. Die Wahrheit lag natürlich woanders, genauer gesagt, bei seiner Trägheit. Ob diese ebenfalls pathologisch war, ließ sich schwer sagen, das war allerdings nebensächlich. Claudius Zorn hätte es sowieso niemals zugegeben. Jedenfalls nicht freiwillig.
Die Eingangstür des Klinikums öffnete sich zischend, der Luftzug wehte Schröder eine rötliche Haarsträhne ins Gesicht. Sorgfältig strich er sie zurück und legte sie wieder quer über die Glatze.
»Du siehst gut aus, Chef. Wie ein Rockstar aus den Siebzigern.«
Zorn trug eine verspiegelte Sonnenbrille, die er sich vor einigen Wochen zugelegt hatte. Damals hatte er sich den neuen Batman-Film im Kino angesehen und im Nachhinein feststellen müssen, dass er den Film auf Grund seiner Kurzsichtigkeit mehr oder weniger als Hörspiel wahrgenommen hatte. Der folgende Sehtest (links minus 1,6 und rechts minus 2,75 Dioptrien) und der ernste, fast vorwurfsvolle Blick des Optikers hatten ihn schließlich überzeugt, dass ihm keine Wahl blieb, wenn er den Rest seines Lebens nicht blind wie ein Maulwurf durch die Gegend stolpern wollte. Jetzt besaß er zwei Brillen: eine schmale Edelstahlbrille, die er nach kurzem Blick in den Spiegel im Handschuhfach des Volvos deponiert hatte (wo sie noch immer lag), und eine Sonnenbrille in seiner Stärke. Mit ihr konnte er gestochen scharf sehen und sah selbst, wie er fand, relativ scharf aus. Ein guter Kompromiss.
Schröder hatte die Augen geschlossen und hielt das Gesicht in die Sonne.
»War das jetzt ein Kompliment?«, fragte Zorn.
»Naturalmente«, lächelte Schröder, ohne die Augen zu öffnen. Sie arbeiteten jetzt seit über zehn Jahren zusammen, doch Zorn wusste noch immer nicht, wann Schröder etwas ernst meinte und wann nicht.
Wieder öffnete sich die Tür, ein hagerer Mann in verblichenem Bademantel schlurfte mit gebeugten Schultern heraus, die nackten Füße steckten in hellgrünen Badelatschen. Ein paar Meter neben ihnen blieb er stehen, nickte Schröder zu und zündete sich umständlich eine Zigarette an. Automatisch griff Zorn ebenfalls nach seiner Packung.
»Ein äußerst netter Kerl«, sagte Schröder und wies auf den Mann im Bademantel. »Er hat drei Zimmer neben mir gelegen.«
»Was hat er denn?«, fragte Zorn, um wenigstens etwas zu sagen.
»Lungenkrebs. Im Endstadium.«
Der Mann im Bademantel hustete.
Zorn steckte die Zigaretten wieder ein.
Eine Weile standen sie schweigend da. Schröder machte keinerlei Anstalten, etwas zu sagen. Er schien vollständig zufrieden, hier, vor dem Krankenhaus, in der Sonne zu stehen. Der Mann im Bademantel sog gierig an seiner Zigarette, als er den Rauch wieder ausstieß, bekam er einen Hustenanfall.
Zorn räusperte sich verlegen.
»Und sonst so?«
»Du meinst, wie's mir geht?«
»Ja.«
»Nun, ich denke, es geht mir gut.« Schröder verschränkte die kurzen Arme auf dem Rücken. »Ich würde sagen, sie haben mich ganz gut wieder zusammengeflickt. Wenn man bedenkt, dass ich die Hälfte meiner Eingeweide verloren hatte.«
Darauf wusste Zorn keine Antwort. Er räusperte sich erneut und trat unschlüssig von einem Bein aufs andere. Schröder warf ihm einen kurzen Blick zu und meinte dann: »Wollen wir gehen?«
»Gute Idee«, erwiderte Zorn hastig und griff nach Schröders Koffer. Das Jackett fiel zu Boden, Schröder bückte sich und hob es auf. Als er sich aufrichtete, verzog er kurz das Gesicht und fuhr sich mit der Hand über den dicken Bauch.
»Bist du sicher, dass alles okay ist?«, fragte Zorn.
»Ja, Chef. Das bin ich.«
Sie gingen zum Auto. Ein großer, schlanker Mann mit einem albernen Rollköfferchen, dessen Räder laut über das Pflaster tuckerten. Und ein kleiner, dicker Kerl, der mit kurzen Schritten nebenher tippelte.
Der Volvo hatte nur ein paar Minuten in der Sonne gestanden, und doch war der Innenraum glühend heiß.
»Wie läuft's auf Arbeit?«, fragte Schröder und nahm vorsichtig auf dem Beifahrersitz Platz.
»Wie man's nimmt. An der Baustelle der Marktkirche ist ein Betonmischer gestohlen worden. Dann haben wir noch eine Einbruchserie in der Kleingartensparte am Nordbad.«
»Klingt verlockend.«
»Ja. Und nach einer Menge Papierkram.«
Zorn beugte sich nach hinten und griff ein Päckchen von der Rückbank.
»Das soll ich dir von Frieda Borck geben.«
Umständlich entfernte Schröder das Geschenkpapier, zum Vorschein kam eine Nigel-Kennedy-CD.
Schröder brummte anerkennend. »Die Violinkonzerte von Bach. Eine Aufnahme von 2010, zusammen mit den Berliner Philharmonikern. Sie hat Geschmack, unsere Staatsanwältin.«
»Sie ist froh, dass du wieder da bist, soll ich dir ausrichten.«
Zorn startete den Motor und drehte die Klimaanlage auf die höchste Stufe.
»Ich fahr dich erst mal nach Hause, Schröder.«
»Nein, ins Präsidium, wenn's beliebt. Es gibt Arbeit. Wir müssen den feigen Raub eines Betonmischers aufklären.«
»Wie du meinst.« Zorn legte den Rückwärtsgang ein. »Ich bin übrigens auch froh«, sagte er leise, als sie auf die Hauptstraße einbogen.
»Wie meinen?«
»Dass du wieder hier bist.«
»Das weiß ich.« Schröder sah aus dem Fenster und schwieg einen Moment. Dann lächelte er und wiederholte: »Das weiß ich, Chef.«
Später, am frühen Nachmittag, saß Claudius Zorn in seinem Büro. Auf der Fahrt ins Präsidium hatten sie kaum ein weiteres Wort gewechselt. Die meiste Zeit hatte Schröder leise vor sich hingepfiffen, im Foyer hatte er sich kurz verabschiedet und war dann schnurstracks in sein Büro gegangen, um, wie er sagte, stante pede die Jagd nach dem frechen Baustellendieb zu eröffnen.
Okay, jetzt ist Schröder also wieder da, überlegte Zorn, sank in seinen Sessel, blähte die Backen und atmete geräuschvoll aus. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass ich wieder hier sitze und das tue, was ich die ganze Zeit gemacht habe: Ich langweile mich.
Direkt über dem Bürofenster hatte sich ein Wasserfleck gebildet, eine Folge der starken Regenfälle, die die Stadt im Frühjahr heimgesucht hatten. Er war längst angetrocknet und hatte im Laufe der Zeit eine schmutzige, rötlichbraune Färbung angenommen.
Während Zorn ihn anstarrte, gingen ihm zwei Dinge gleichzeitig durch den Kopf: Einerseits überlegte er, ob der Fleck eher die Form einer Nesselqualle oder eines üppigen Frauenhinterns hatte, eine Frage, die er sich wohl hundertmal gestellt hatte, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen.
Und dann waren da noch die Mordfälle, welche die Stadt im April bis ins Mark erschüttert hatten, ein Gedanke, bei dem er sich in letzter Zeit immer öfter ertappte. Das war nicht schlimm, bis auf die Tatsache, dass er diese Zeit mittlerweile regelrecht zurücksehnte. Damals hatte er wenigstens etwas zu tun gehabt. Ein Ziel, eine Aufgabe. Und jetzt?
Mein Gott, dachte Zorn und wischte einen winzigen Staubkrümel vom Tisch, kann denn nicht irgendwas passieren? Irgendwas? Es muss ja nicht gleich ein Mord sein. Vielleicht eine simple Entführung. Oder eine Erpressung? Egal, jedenfalls etwas, das nicht mit Kleingartensparten oder Großbaustellen zu tun hat. Wenn das so weitergeht, stelle ich mir noch eine Topfpflanze ins Büro, dann hab ich wenigstens was zum Gießen. Das Wort Topfpflanze spie er in Gedanken aus wie einen alten Kaugummi.
Urplötzlich wurde er wütend auf Schröder. Der hatte es einfach, saß ein paar Meter weiter in seinem Büro, wühlte sich durch nichtssagende Akten und war zufrieden.
Er könnte ruhig mal vorbeikommen, das...
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