Schweitzer Fachinformationen
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Gregor Zettl saß auf dem Sofa und wartete.
Seit neun Tagen tat er das jetzt. Nein, auf dem Sofa hatte er natürlich nicht gesessen, nicht die ganze Zeit. Er hatte geschlafen, gelesen, ferngesehen, all die Dinge getan, die jeder normale Mensch tut. Aber gewartet hatte er, jede einzelne Sekunde in diesen neun Tagen, mal bewusst, mal weniger bewusst.
Donata. Vor neun Tagen war sie morgens aus dem Haus gegangen. Wie immer hatte sie ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben, wie immer hatte er nicht gewusst, was genau sie den ganzen Tag tun würde. Erst recht hatte er nicht wissen können, dass sie nicht zurückkehren würde. Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten. Auch nicht am übernächsten.
Die Sonne fiel schräg ins Zimmer, blendete ihn. Gregor Zettl seufzte, faltete die Zeitung zusammen, stand schwerfällig auf und zog die Gardinen zu. Schwere fliederfarbene Samtvorhänge, er mochte die Farbe nicht, ebenso wenig den goldgelben Teppich, die dunkle, erdrückende Schrankwand mit den geschwungenen Messinggriffen, den geschliffenen Glastüren, den Geruch nach feuchten Fliesen und frischem Beton. Eigentlich gefiel ihm das ganze Haus nicht, ein zweistöckiger Neubau, eingezwängt zwischen identischen, ebenso gesichtslosen Einfamilienhäusern, innerhalb weniger Monate auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne am Stadtrand aus dem lehmigen Boden gestampft. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, das winzige Grundstück zu kaufen und dieses Haus bauen zu lassen, natürlich nicht. Donata hatte es so gewollt.
Diskutiert hatte er nicht, das hatte er nie getan. Sie hatte die Verträge unterschrieben, sie war es, die sämtliche Entscheidungen in Gregor Zettls Leben traf. Sie sorgte für das Geld, für ihren Unterhalt. Wie sie das tat, hatte ihn nie interessiert.
Gregor, der Unsichere. Donata, die Macherin.
Gregor Zettl seufzte, kratzte sich am Kinn. Er musste sich rasieren, dringend. Donata achtete peinlich darauf, dass er sich pflegte.
Seit sechsundzwanzig Jahren waren sie verheiratet. Nein, Sorgen machte er sich nicht, noch nicht. In den letzten Jahren war sie immer wieder verreist, nach Frankreich, Spanien, Italien. Eine, manchmal zwei Wochen, geschäftlich, wie sie gesagt hatte, um Investoren zu treffen, er hatte nie nachgefragt. Allerdings hatte sie ihm vorher immer Bescheid gesagt, es war das erste Mal, dass sie einfach so wegblieb, sie wusste, dass er auf sie wartete, seit neun Tagen mittlerweile, das waren zweihundertsechzehn Stunden, sie .
Es klingelte an der Tür.
Gregor Zettl verzog das Gesicht. Er hasste den schrillen, dissonanten Ton. Donata klingelte nie, sie benutzte den Schlüssel.
Zettl ging in den Flur. Sein Spiegelbild huschte über die Schrankwand, eine gedrungene, übergewichtige Gestalt, nicht zu vergleichen mit dem dünnen, fast mädchenhaften Jungen, der er vor dreißig Jahren gewesen war.
Ein weiteres Klingeln.
Er zögerte. Ging ins Gästebad, schob vorsichtig die Gardine zur Seite und sah hinaus in den Garten. Keinen der beiden Männer hatte er jemals gesehen, weder den Dunkelhaarigen in der Lederjacke noch den kleinen, glatzköpfigen Kerl in der ausgebeulten Cordhose. Gregor Zettl selbst bekam nie Besuch. Er hatte keine Ahnung, was die beiden wollten, sie sahen nicht so aus, als gehörten sie zu Donatas Freundeskreis. Eher wie Zeugen Jehovas oder GEZ-Fahnder, aber die gab es ja mittlerweile nicht mehr.
Egal. Jedenfalls niemand, mit dem er reden wollte.
Gregor Zettl trat zurück in den Schatten.
Hörte, wie der Kleine draußen fragte, was sie jetzt machen sollten.
»Keine Ahnung«, ertönte die mürrische Stimme des Dunkelhaarigen. »Du bist doch jetzt der Chef.«
»Würdest du hier leben wollen?«
Zorns Unterarme lagen auf dem Dach des Volvos, er hatte das Kinn abgestützt und sah sich um. Zwei Dutzend Häuser drängten sich in Reih und Glied in der Waldstraßensiedlung, die meisten noch im Bau. Im Hintergrund türmte sich eine riesige Schuttpyramide aus den Überresten der Kaserne.
»Die Frage stellt sich mir nicht. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.«
Schröder sah sich ebenfalls um. Staub und aufgewirbelter Bauschutt tanzten in der Sonne. Schräg gegenüber parkte ein Möbelwagen vor einem der unverputzten Kästen, ein improvisierter Weg aus schiefen Holzpaletten führte über den winzigen, mit getrocknetem Schlamm bedeckten Vorgarten. Das Haus war noch eingerüstet, ein weißgekleideter Maler strich die Fassade in einem dunklen giftgrünen Farbton. Neben einem Schuttcontainer stand ein großer, in schreiend bunten Farben bemalter Gartenzwerg.
Schröder öffnete die Beifahrertür.
»Wir werden beobachtet«, sagte er beiläufig.
»Was?«
»Hinter dir. Jemand ist im Haus.«
Unwillkürlich drehte Zorn sich um. Das gelbe Doppelhaus, an dessen Tür sie soeben geklingelt hatten, wirkte verlassen. Ein niedriger Mauersockel grenzte das Grundstück zur Straße ab, ein halbes Dutzend eiserner, in das Mauerwerk einbetonierter Pfähle deutete darauf hin, dass hier noch ein Zaun errichtet werden sollte. Der Rasen dahinter war frisch gesät, rechts parkte ein staubiger grauer VW Polo in der Einfahrt. Die linke Hälfte wirkte verlassen, die Fenster waren dunkel, Zorn sah keine Gardinen. Die Grenze zwischen den Grundstücken wurde durch einen mannshohen hölzernen Fertigzaun aus dem Baumarkt markiert. WIR REALISIEREN IHR TRAUMHAUS! verkündete ein riesiges Schild an der Straße, ANSPRUCHSVOLL, ENERGIEEFFIZIENT UND PREISWERT!
Zorn schob die Brille zurecht und stieg in den Volvo.
»Bist du sicher?«
Schröder antwortete nicht.
Natürlich ist er das, dachte Zorn, startete den Motor und fuhr an. Neben ihm verstaute Schröder die Aktentasche zwischen seinen kurzen Beinen. Die Räder drehten auf dem Schotter durch, die Straße war noch nicht geteert. Eine rötliche Staubwolke stieg auf.
»Nix wie weg hier.«
Zorn blinkte und bog auf die Schnellstraße am Stadtwald.
»Die Leute werden sich's schon schön machen«, sagte Schröder und schnallte sich umständlich an.
»Sicher doch«, murmelte Zorn und dachte an den riesigen Gartenzwerg. »Sie haben schon damit angefangen.«
»Die Adresse stimmt jedenfalls.« Schröder stand am Waschbecken und füllte den Tank der Kaffeemaschine. Es war warm im Büro, sie hatten ein Fenster gekippt. »Donata Zettl, verheiratet, selbständige Maklerin.«
Zorn erwiderte nichts, er saß am Schreibtisch, den Blick auf den Monitor seines Rechners gerichtet.
»Laut Krankenakte«, fuhr Schröder fort und drehte den Wasserhahn zu, »wurde ihr das Hüftgelenk vor anderthalb Jahren eingesetzt.«
Zorn sah auf. Runzelte die Stirn, überlegte einen Moment und fragte dann: »Wie schreibt man Apokalypse?«
»Wie meinen?«
»Mit einem P oder mit zweien?«
»Mit zweien.« Schröder ging zum Fenster und startete die Kaffeemaschine. »Eins nach dem A, eins nach dem Ypsilon.«
»Ich meinte, ob nach dem A ein Doppel-P kommt«, sagte Zorn und wandte sich wieder seinem Computer zu. »So schreiben's die Idioten von der Zeitung.«
»Ja«, nickte Schröder. »Ich hab's auch gelesen.«
Fauchend erwachte die Kaffeemaschine zum Leben.
»Fischregen«, murmelte Zorn. »So ein Schwachsinn.«
»Theoretisch wär's möglich.« Schröder nahm Platz, rollte auf seinem Bürostuhl zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. »Ein Tornado tobt über einem Gewässer, wirbelt die Tiere bis hinauf in die Stratosphäre und lädt sie Hunderte Kilometer weiter wieder ab. Das würde erklären, dass die Fische teilweise gefroren sind.«
»Wo hast du das denn her?«
»Unerklärliche Phänomene.« Schröder deutete auf Zorns Computer. »Eine Webseite. Ziemlich reißerisch, aber nicht uninteressant. Stellenweise jedenfalls. Eine weitere Theorie besagt, dass die Fische .«
»Ich hasse Fisch.«
»Das ist mir bewusst, Chef.«
»Ich bin nicht mehr dein .«
»Auch das ist mir bewusst.«
Sie sahen sich an.
»Sprich den Namen nicht aus, Schröder. Wage es nicht.«
»Das hatte ich nicht vor.« Schröder lächelte unmerklich. »Ich weiß, wie peinlich dir dein Vorname ist.«
Zorn setzte zu einer genervten Erwiderung an, doch Schröder kam ihm zuvor.
»Wir sollten das pragmatisch sehen. Du warst über zehn Jahre lang mein Chef, und ich habe mich daran gewöhnt, dich so zu nennen. Jetzt ist es umgekehrt, aber stell dir vor, du würdest mich Chef nennen. Das würde zwar unserem dienstlichen Verhältnis entsprechen, aber wir sollten das Wort Chef«, Schröder malte mit den Fingern ein paar Anführungszeichen in die Luft, »nicht als Position, sondern als Eigennamen verstehen. Sozusagen als deinen zweiten Vornamen. Oder Rufnamen, wenn dir das besser gefällt.«
Zorn runzelte die Stirn.
»Du nennst mich also Chef.«
»Genau, Chef.«
»Obwohl eigentlich du der Chef bist.«
»Auf dem Papier. Der theoretische Chef, sozusagen.«
»Aber praktisch gesehen, bist du doch auch der Chef!«
»Stimmt«, nickte Schröder. »Theoretisch jedenfalls.«
»Und welcher Chef bin ich dann?«
Schröder überlegte einen Moment.
»Der akustische?«
Zorn verstand kein Wort. Und das sah man ihm auch deutlich an.
»Es ist nur ein Wort«, erklärte Schröder. »Ohne Bedeutung.«
»Dann könnte ich dich ebenfalls Chef nennen«, erwiderte Zorn.
»Das Tohuwabohu sollten wir uns ersparen, Chef.«
Zorn nickte...
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