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Kapitel 1
Amsterdam, 10. Dezember 1941
Gestern traf Piz in der Stadt ein, kaum zu glauben, und als Erstes wird sie hier vorbeikommen! Das ist doch schön! Sie will sich morgens noch ausruhen, dann aber zum Kaffee erscheinen. Ob sie sich sehr verändert hat?
Ich erinnere mich an Heddas Hochzeit in München, 1925, das ist lange her. Hedda und Toni haben Faschingssamstag geheiratet, und wir waren alle schrecklich ausgelassen. Piz war der kleine Pirat, ich die Ponyreiterin. Ja wirklich, ich hatte mir aus weißem, geflecktem Plüsch ein Kostüm geschneidert, ich steckte in zigarettendünnen Pferdebeinchen, unten hatte ich Hufe angeklebt. Das Pferdehinterteil trug ich mit mir herum, und gleichzeitig sah es so aus, als säße ich in einem Sattel. Vor mir der Ponykopf, mit langer weißer Mähne und echter Ledertrense.
Wochenlang hatte ich heimlich an dem Pappmachékostüm gearbeitet. Vielleicht habe ich doch ein wenig Talent von Papa geerbt, ich weiß es nicht. Ich wollte jedenfalls, dass alles täuschend echt aussieht, allein den Rumpf habe ich dreimal neu gemacht. Als ich das Kostüm dann anzog, passte es genau.
Hedda hat im Februar geheiratet, aber es war schönes Wetter, die Sonne strahlte, der Föhn hatte vorfrühlingshafte Wärme geschickt. Das war ein gutes Omen, alle waren bester Stimmung. Sie sah wunderschön aus in ihrem Hochzeitskleid, so glücklich und voller Vorfreude. Sie trug Brüsseler Spitze, in Crème, auf ihrem dunklen Haar schien es wie Raureif.
Piz in ihrem Piratenkostüm wirkte verwegen, mit Augenklappe und kleinem spitzem Degen. Wir hatten die Kostümierung verabredet, nicht einmal Hedda hatten wir eingeweiht. In München muss man Fasching feiern, selbst bei einer Hochzeit. Wir waren zwanzig. Da ist man ausgelassen. Eine große Überraschung sollte es werden. Als ich das Kostüm endlich angezogen hatte und mit Piz an meiner Seite leise Richtung Veranda schlich, fühlte ich mich auf einmal so pferdehaft, dass ich durch den Garten galoppieren musste. Ich wieherte und schnaubte, warf den Kopf und bettelte um Zucker. Mutter missfiel das, ich konnte sie zwar nicht sehen, aber ich wusste es. Die Piz-Piratin stellte sich mir in den Weg, als wolle sie mich einfangen, ich aber trabte an ihr vorbei. Sie lachte laut, rief immer wieder Hohoho, mit verstellter Stimme, ganz tief. Als sie sah, dass alle auf mich schauten, überlegte sie es sich anders, stellte sich mit ihrem roten Federhut in die Mitte der Rasenfläche und feuerte mich an, als sei sie jetzt mein Dompteur - als müsste ich auf ihr Kommando hören. Wir gaben wohl ein albernes Bild ab, gar nicht hochzeitshaft, aber Hedda lachte nur gutmütig und klatschte in die Hände. Mit einer kleinen Reitgerte, die ich mir von meinem frischgebackenen Schwager geborgt hatte, schlug ich mir selbst auf mein Pappmachéhinterteil, wieherte und bockte gleichzeitig, bis ich vom Laufen und Galoppieren ganz außer Atem war.
Mutter stand abseits und blickte Hedda auf diese besondere Art an, ohne eine Miene zu verziehen. Seit Papa nicht mehr da war, erwartete sie von Hedda, dass sie alles regelte. Ich tat, als bemerkte ich das nicht, und raste weiter durch die Runde.
In Wirklichkeit sah ich nur einen. Max stand am Rasenrand, daneben der Bräutigam und irgendwelche jungen Männer, die ich in der Aufregung nicht erkannte. Max feuerte Piz an und beachtete mich nicht. Pizchen, die Dunkle, die Wilde, die gefährliche Piratenbraut. Bravo, rief er und klatschte in die Hände. Und ich spürte plötzlich einen Stich im Magen. Endlich blieb ich stehen. Piz und ich fielen uns in die Arme vor lauter Lachen. Ihr Haar hatte sich gelöst, hing ihr wirr ins Gesicht. Unter ihrer Augenklappe war die Schminke verschmiert, und wie ich aussah, wollte ich lieber gar nicht wissen.
Die Herren umringten Piz, boten ihr eine Erfrischung an, machten auch manche Bemerkung über ihren kleinen Degen. Insgeheim war ich etwas eifersüchtig. Ein albernes Pferdchen hatte ich abgegeben. Dabei war mir die Idee so originell vorgekommen. Mutter war hineingegangen, ich wusste, dass sie mich hinterher schelten würde. Mir war das egal. Und Piz war mir auch egal, denn auf einmal kam Max auf mich zu, für den ich das ganze Schauspiel eigentlich inszeniert hatte, streichelte über meine Mähne und redete leise und beruhigend auf mich ein, ruhig Brauner, hoo, braves Pferdchen, so etwa. Und dann bot er mir einen Apfel an, hob gespielt streng den Finger, als ich ihn nehmen wollte, und ermahnte mich, der Apfel sei für das Pferdchen, ich müsse ihn mit den Zähnen aus seiner Hand nehmen. Dabei blickte er mir so tief in die Augen, dass ich dachte, er sieht mir direkt in meine schwarze Seele, ich wurde richtig hibbrig. Ich weiß nicht, ob es einen Pferdehimmel gibt, aber wenn ja, flog ich jetzt darauf zu.
Das ist alles wirklich lange her, und sentimental ist es auch. Es ist länger her, als es nach Jahren sein kann. Damals waren andere Zeiten. Also Piz kommt heute, und vielleicht rufe ich sie Marie-Louise, wie es sich gehört. Dann werde ich ja sehen, ob sie immer noch pizchenhaft ist oder doch mehr mariechenartig.
Eine Zeit lang war Piz meine engste Freundin. Wenn wir nicht in Holland leben müssten und alles wäre, wie es sein sollte, wäre sie noch immer meine liebste Freundin. Aber so . Seit wir hier wohnen, habe ich keinen Fuß mehr ins Ausland gesetzt. Man weiß ja nicht, ob man als Exilant wieder einreisen kann, wenn man die Grenze hinter sich lässt. In die Schweiz sollte man vorsichtshalber nicht einmal Briefe schreiben, da macht man sich womöglich verdächtig. Anrufen geht auch nicht. Ich telefoniere mit Mutter und unserer Haushälterin Adele, aber sonst mit niemandem in Deutschland. Man kennt ja auch kaum noch jemanden. Deshalb ist mir Piz leider etwas fremd geworden.
Vor der Hochzeit waren wir unzertrennlich. Das letzte Mal haben wir uns vor dem Krieg gesehen. Piz besuchte uns mit ihrem Bruder in Berlin. Wir gingen alle zusammen ins Kakadu, dazu Molle und Korn - in meinem Fall allerdings Champagner und kein Korn, ich mag immer noch kein Bier, obwohl ich als bayerisches Madel wahrlich oft genug damit traktiert wurde. Papa roch nach Bier, wenn er uns Kindern einen Gutenachtkuss gab, und das hat es mir wohl verleidet.
Es muss 1937 gewesen sein. Dieser Sommer war herrlich, heiß und trocken, wir sind viel im Strandbad Wannsee gewesen. Max liebt das Wasser in jeder Form. Natürlich mag er das Meer lieber, aber auch mit einem See nimmt er notfalls vorlieb. Und das Strandbad war ja nun auch wunderschön. Ein endlos langer Sandstrand, überall Boote, junge, braun gebrannte und gut gelaunte Leute, es war ein großer Spaß. Man kannte so viele Menschen, es war enorm unbeschwert, wenn man bedenkt, dass damals schon die Nazis regierten. Aber man wollte immer noch an das Gute glauben, war noch von Olympia beeindruckt, dachte, es werde jetzt alles besser und die ganzen bösen Worte seien nur eine Entgleisung. So kann man sich täuschen. Der Mensch braucht lange, bis er eine Erkenntnis gewinnt, und noch länger, bis er deswegen sein Leben ändert. Vielleicht wollten wir auch nicht so genau hinschauen, das kann schon sein.
Jedenfalls kam Piz mit Carl, der übrigens ein hinreißender Cellist ist. Wir haben oft zusammen gespielt. Er ist wie ich am Konservatorium gewesen, ich glaube, er war drei, vier Semester weiter. Er hat nur Cello studiert, nicht auch noch Gesang wie ich. Aber er ist wahnsinnig talentiert. Ich weiß gar nicht, was aus ihm geworden ist.
Wir waren also im Kakadu, das unerhört mondän war, selbst die Bars in Paris konnten da nicht mithalten. Wir haben getanzt, man kam im Abendkleid. Die Haare trug ich geglättet, mit Wasserwelle. Heute frage ich mich manchmal, woher ich die Zeit genommen habe, so lange meine Haare zu frisieren. Aus Paris hatte Max mir ein schwarzes Kleid aus hauchzartem Organza mitgebracht, es hatte ab dem Knie einen weiten Plisseeeinsatz. Ich erinnere mich deshalb so genau, weil mir ein Herr auf der Tanzfläche auf den Rock trat und die dünne Seide abriss. Wir hatten getrunken, und deshalb lachten wir nur. Der Mann entschuldigte sich tausendmal, aber als wir endlich daran dachten, dass er den Schaden ersetzen müsste, war er plötzlich verschwunden. Max rief eine Kellnerin, sie solle eine Schere holen. Er zog mich heran, küsste mich frech auf den Mund und schnitt die Seide ab, aber natürlich nicht einfach so. Er schnitt, dann schob er mich von sich weg und schaute, ein Auge zugekniffen. Dann winkte er mich mit dem Finger wieder heran, noch mal wurde nachgeschnitten, hier, da, ich wurde herumgedreht, und alle um mich lachten. Als er fertig war, stand ich im Tageskleid vor ihm. Aber noch wichtiger, ich stand da als sein Geschöpf, von ihm gekleidet, von ihm geschmückt. Dass das Kleid eigentlich ruiniert war, dass es teuer gewesen war, kümmerte Max nicht. Geld hat ihm noch nie etwas bedeutet.
Amsterdam, 11. Dezember 1941
Piz kam zum Kaffee zu uns. Den Wohnzimmertisch hatte ich nett hergerichtet, sogar mit einer halb erfrorenen Rose aus dem Park, die mit ihrem Rot das Zimmer ganz manierlich herausgeputzt hat. Und Kuchen gab es auch. Ein Fest! Max hatte wegen Weihnachten die Wände hell streichen lassen, da sah alles gleich größer aus. Zwei Fenster gehen auf den Rokin hinaus, zwei Fenster nach hinten in einen engen Innenhof. Unsere Wohnung ist winzig, aber immerhin haben wir ein Dach über dem Kopf. Es sind zwei Zimmer. Eigentlich. In Wahrheit haben wir nur ein Zimmer, weil im Schlafzimmer Butchy residiert, die uns nur ausnahmsweise und gegen gewaltige Bestechung Obdach gewährt. Schlaues Vieh. Uns überlässt sie großzügig das Wohn-Bibliotheks-Arbeits-Esszimmer mit Dusche und Aufstieg zur Kochgelegenheit. Max' Atelier ist im Hinterhaus,...
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