Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
Einige Wochen später
»Stehen bleiben, Polizei!«, rief der Kripobeamte laut, der im Laufschritt eine Frau mit einem auffälligen lilafarbenen Umhang auf der Oberen Brücke verfolgte. An ihrer Schulter baumelte eine schwarze Lederhandtasche. Die Frau lief ungelenk auf hochhackigen Schuhen an der Figur des heiligen Nepomuk vorbei Richtung Altes Rathaus, wobei sie sich ängstlich umschaute. Der Polizist, der eine schwarze Lederjacke, eine löchrige Jeans und Motorradstiefel trug und seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, blieb breitbeinig vor dem Postkartengeschäft am Beginn der Brücke stehen, dann hob er die rechte Hand und rief: »Stehen bleiben, oder ich schieße!« Ein etwa vierzigjähriger Hutträger mit Businessanzug und Aktenkoffer wandte sich erschrocken um und ging dann schnell weiter Richtung Grüner Markt.
»Frau Born! Sie haben keine Chance! Geben Sie auf!« Die Stimme des Polizisten klang, als hätte er die Kehle ausgiebig mit Whisky geölt.
Jetzt streifte die Frau, sie war um die fünfzig, ihre Stöckelschuhe ab und kletterte blitzschnell auf das steinerne Brückengeländer. Dann öffnete sie ihre Handtasche und zog ebenfalls eine Waffe hervor, es schien sich um eine kleinkalibrige Pistole zu handeln.
»Verdammt!«, rief der Kripomann. »Machen Sie keinen Scheiß!«
Doch die Frau hob die Hand und zielte auf den Polizisten. Der zögerte keine Sekunde.
Und drückte ab.
Im selben Moment, wie der Schuss über die Brücke peitschte, schrie die Frau laut auf, torkelte und stürzte rücklings in die Regnitz. Der Knall veranlasste drei weiße Möwen, die auf dem gusseisernen Gitter vor der dreihundert Jahre alten Kreuzigungsgruppe saßen, hektisch aufzuflattern und über das von vielen Postkarten bekannte historische Rathausgebäude in den blauen Frühlingshimmel hinwegzufliegen.
»Stopp, aus!«, war eine Stimme zu hören. Dann rannte der Mann mit Hut wieder durch das Bild, ließ seinen Aktenkoffer auf den steinernen Boden fallen, fuchtelte wild mit den Händen und rief: »Was ist passiert? Frau Schauer?«
Er lief zu der Stelle, an der die Frau ins Wasser gestürzt war, und schaute hinunter.
In diesem Moment stoppte die Aufzeichnung, das Bild auf dem kleinen Monitor flimmerte kurz und wurde dann schwarz.
»Können wir die letzte Szene noch mal sehen?«, fragte ich und deutete auf den Bildschirm.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, Herr Kommissar«, sagte Wolfgang Dreyer, der vor dem Haus mit den schrägen Wänden am Anfang der Brücke erschöpft in seinem Klappstuhl saß, auf dessen schwarzer Rückenlehne in großen weißen Buchstaben das Wort »Regie« zu lesen war. Er hatte den Kopf auf seine Hände gestützt, die Augen geschlossen. »Ich drehe jetzt seit zwanzig Jahren Fernsehkrimis, aber dass so etwas passieren kann, hätte ich niemals für möglich gehalten.«
»Und Frau Schauer ist wirklich tot?«, fragte Jörg Stettner, der Kameramann, der auf dem Boden vor dem Monitor kniete und mit wenigen flinken Handbewegungen die gewünschte Bildsequenz zurückholte.
»Die Leiche, die an der Anlegestelle am Kranen aus der Regnitz gezogen wurde, ist zweifelsfrei tot«, sagte meine Kollegin Paulina. »Ob sie an der Schussverletzung starb oder durch Ertrinken, wird erst die Obduktion zeigen.«
Stettner betätigte eine Taste, und die Szene lief noch einmal ab. Hinter uns waren Kollegen der Spurensicherung damit beschäftigt, den Tatort aus allen Perspektiven zu fotografieren. Um keine Spuren zu verwischen, trugen sie weiße Overalls, die in jedem schlechten Krimi vermeintlich originell als »Ganzkörperkondome« bezeichnet wurden, was in keiner Weise treffend war, denn die Schutzanzüge waren weder aus Latex, noch lagen sie besonders eng am Körper an.
Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst hatten mir schon mitgeteilt, dass sich der Schütze ohne Widerstand hatte festnehmen lassen, und mir den Namen des Beschuldigten auf einen Notizzettel geschrieben. Das sah also nach einer raschen Ermittlung aus.
»Wer ist das?« Ich deutete mit dem Zeigefinger auf den Anzugträger mit Hut. »Ein zufälliger Augenzeuge?«
»Natürlich nicht«, sagte Regisseur Dreyer und schloss dabei die Augen. »Während der Dreharbeiten ist die Brücke für den Fußgängerverkehr gesperrt. Die scheinbar zufälligen Passanten, die man in der Szene sehen kann, sind Komparsen. Wobei Schlickowey, also der Mann, den Sie meinen, ein Nebendarsteller ist. Er kommt noch zweimal im Drehbuch vor.«
»Wie hätte die Szene laut Drehbuch denn ablaufen sollen?«
»Hier, sehen Sie selbst«, sagte Dreyer und reichte mir einen Packen luftig bedrucktes Papier, auf dessen erster Seite fett »Der Franken-Bulle« stand, in etwas kleinerer Schrift darunter »Folge 27 - Regie: Wolfgang Dreyer, nach einem Roman von Barbara Schauer«.
»Moment mal, Schauer?«, sagte ich. »Das ist doch der Name der geschädigten Person.«
»Richtig. Frau Schauer hat die Romanvorlage und das Drehbuch geschrieben. Sie ist eine bekannte Krimiautorin, und es war ihr großer Wunsch, einmal die Leiche in einem ihrer verfilmten Krimis zu sein.«
Einige Augenblicke lang schwiegen alle betreten. Auch ich schluckte jede zynische Bemerkung hinunter und fragte: »Wo ist dieser Schlickowey jetzt?«
»Er hat einen Schock erlitten. Der Notarzt hat ihn gleich mitgenommen ins Klinikum«, sagte eine junge Frau, die ihre kurzen blonden Haare so trug wie Herbert Grönemeyer in den achtziger Jahren.
»Und Sie sind?«, entgegnete ich.
»Annett Thiel. Aufnahmeleitung.«
Der Hobbypsychologe in mir stellte fest, dass Fräulein Thiel möglicherweise zu den an Komplexen leidenden Personen gehörte, die auf ihre Visitenkarten »Leitung« statt »Leiter« oder »Leiterin« schrieben, weil sie sich unbewusst einer Führungsposition nicht gewachsen sahen. Diese Bezeichnung erweckte zumindest bei mir den Eindruck einer Distanz zwischen Person und Aufgabe. Jedenfalls kannten wir jetzt die Namen der wichtigsten Zeugen hier am Tatort.
»Sie leiten also die Aufnahmen«, sagte ich.
Frau Thiel machte ein verächtliches Geräusch, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Dann lachte sie kurz und stellte fest: »Ein Zitronenfalter faltet auch keine Zitronen.«
»Wie bitte?«, fragte ich. Doch dann verstand ich, was sie mir sagen wollte.
Der Regisseur Dreyer schaltete sich ein: »Wissen Sie, Herr Kommissar, es gibt noch einen Witz über diesen Job. Was haben ein Aufnahmeleiter und ein Präservativ gemeinsam?«
Ich schaute Paulina kurz an und zuckte dann mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Es geht auch ohne. Aber sicherer ist's mit.« Er versuchte, wohl angesichts der Situation, sein Lachen zu unterdrücken. »Entschuldigen Sie. Vielleicht nicht sehr passend, aber immer wieder lustig.«
»Sagen Sie, Herr Dreyer«, kam ich zur Sache zurück, »beim Fernsehen wird doch alles dutzendfach gedreht, bevor eine Szene im Kasten ist, oder?«
Der Regisseur nickte stumm.
»Haben Sie dann diese Sequenz schon mehrmals gedreht?«
»Nein«, antwortete er. »Wir haben vorher ein paar Licht- und Tonproben gemacht.«
»Aber dabei wurde nicht geschossen?«
»Nein. Die Waffe hat Zenker in diesem Moment zum ersten Mal betätigt.«
»Zenker, Eric, Hauptdarsteller«, war auf dem Zettel der KDD-Kollegen notiert. Und: »vorläufige Festnahme«.
»Auf der Aufzeichnung ist nur zu sehen, wie das getroffene Opfer ins Wasser fällt, aber nicht die Reaktion des Schützen. Können Sie sich daran erinnern?«, fragte ich.
»Die Pistole ist ihm aus der Hand gefallen«, antwortete die Aufnahmeleitung. »Dann ist er einen Moment starr stehen geblieben, um schließlich zu Schlickowey zu rennen.«
»Er wollte hinterherspringen, um sie zu retten«, sagte Stettner. »Aber wir konnten ihn daran hindern. Der Körper von Frau Schauer war nach wenigen Augenblicken schon bis hinter die Untere Brücke abgetrieben.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, seufzte Dreyer und schüttelte langsam den Kopf.
»Haben Sie eine Erklärung dafür, dass aus einer vermeintlichen Filmwaffe ein scharfer Schuss abgefeuert wurde?«, stellte ich die naheliegende Frage.
»Nein, das ist es ja«, antwortete Dreyer sofort. »Eric Zenker spielt seit zehn Jahren den Franken-Bullen. Und von Anfang an benutzte er dieselbe Waffe, die von einem Spezialisten unbrauchbar gemacht worden war.«
»Ach«, staunte ich.
»Das heißt, es war ursprünglich eine echte Pistole? Warum keine Attrappe?«, hakte Paulina nach.
»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen. Ich glaube, er ist in solchen Dingen ein Perfektionist.«
»Das werden wir«, sagte ich.
Und Paulina fügte hinzu: »Die Kollegen vom KDD haben ihn als geständigen Schützen widerstandslos festgenommen. Er ist in der KPI und wartet auf seine Vernehmung.«
***
»Haben Sie schon mal ein Drehbuch gelesen, Paulina?« Ich saß auf dem Beifahrersitz und blätterte in dem Manuskript, während meine Kollegin unseren Dienstwagen zur Polizeiinspektion in der Schildstraße fuhr. Dass wir uns siezten und beim Vornamen nannten, war eine der Besonderheiten, die unser dienstliches Verhältnis auszeichnete: Trotz des Altersunterschieds von etwa zwanzig Jahren schätzten wir uns und gingen auf Augenhöhe miteinander um, wobei wir immer die gebotene Distanz wahrten und die Privatsphäre des anderen respektierten. Ein Feierabendbier mit Kollegen, wie man es oft in den Fernsehkrimis beobachten konnte, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Und wenn, dann hätte ich eh nur alkoholfreies Bier getrunken. Denn Alkohol pflegte ich nur in geringen Dosen in Form...
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