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Gabriel
An einem Montagvormittag im September wurde Gabriel Bach klar, dass er etwas verloren hatte. Es war kein Ding oder eine Sache, weder vermisste er seine Brille noch seinen Autoschlüssel oder sein Portemonnaie. Nein, das alles war es nicht. Gabriel Bach saß an seinem Schreibtisch, blickte hinaus auf die Elbe, wo sich zwei dicke Containerschiffe langsam ihren Weg stromabwärts bahnten, und bemerkte zu seinem großen Entsetzen, dass ihm etwas ganz Wesentliches fehlte: ein Grund.
Seit den frühen Morgenstunden hockte er hier vor seinem Notebook mit leerem Word-Dokument auf dem Bildschirm und hatte sich - wie bereits in den vergangenen sechs Wochen - felsenfest vorgenommen, endlich mit seinem neuen Roman zu beginnen. Aber: nichts. Da war nichts. Weder in seinem Kopf noch in seinem Herzen, nirgends ein Gedanke, ein Satz oder auch nur ein einziges Wort. Gabriel Bach war leer.
Vor einer Stunde hätte er einen wichtigen Termin bei seinem Verleger Jonathan N. Grief gehabt, um mit ihm sowie mit Lektorat, Marketing und Vertrieb über sein nächstes Projekt zu sprechen. Neun Bücher hatte Gabriel bisher bei Griefson & Books veröffentlicht, zwei unter seinem richtigen Namen, sieben unter dem Pseudonym »Henri Fjord«. Ein Name, der gleichzeitig hanseatisch anmuten und die Sehnsucht nach den endlosen Weiten Skandinaviens wecken sollte.
Der Plan ging auf, von seinem letzten Roman waren allein im deutschsprachigen Raum über 800000 Exemplare verkauft worden, noch dazu war er in vierundzwanzig Ländern erschienen. Die Presse nannte ihn mittlerweile den »deutschen Nicholas Sparks«, und wenn Gabriel Bach nicht so furchtbar traurig gewesen wäre, wäre er aus dem Lachen gar nicht mehr herausgekommen.
Sein Handy, das neben dem Computer auf dem Schreibtisch lag, klingelte, und auf dem Display stand Jonathans Name. Wenn Gabriel sich nicht verzählt hatte, war dies der elfte Anruf seines Verlegers im Verlauf der letzten Stunde, und das Gebimmel klang in seinen Ohren von Mal zu Mal schriller. Nach dem fünften Klingeln sprang die Mailbox an, auf der bereits zehn Nachrichten von Jonathan darauf warteten, von Gabriel abgehört zu werden.
Er stand auf, ließ das Telefon liegen und nahm stattdessen seine zerfledderte Ausgabe von Fernando Pessoas Das Buch der Unruhe aus der obersten Schreibtischschublade. Schon seit Jahren trug er es immer bei sich. Weil die fiktiven Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, die der portugiesische Autor sich erdacht hatte, entgegen dem Titel das Einzige waren, was Gabriel angesichts der emotionalen Abwärtsspirale, in der er sich mit fortschreitendem Alter immer häufiger und heftiger verfing, wenigstens ein bisschen zur Ruhe brachte. Und heute - heute hatte er diesen Trost nötiger als jemals zuvor, denn gefühlt hatte er die Talsohle nicht nur erreicht, sondern endgültig durchschlagen.
Mit dem Buch unterm Arm stieg er die knarzende Holztreppe hinunter und stolperte am untersten Absatz fast über Tavor, der ein unwilliges Knurren von sich gab, sich aber nicht vom Fleck rührte. Gabriels in die Jahre gekommener schwarzer Flat Coated Retriever suchte sich mit treffsicherem Instinkt stets solche Plätze für seine ausgedehnten Nickerchen aus, an denen die größte Wahrscheinlichkeit bestand, sein Herrchen zu Fall zu bringen. Gabriel zischte ihm ein mahnendes »Benzo« zu, woraufhin er zumindest kurz mit den Ohren zuckte.
Als Sprössling eines B-Wurfs war Benzo sein offizieller Name, genauer gesagt sogar Benzodiazepin, was der Züchter, dem Gabriel den Hund vor zwölf Jahren abgekauft hatte, weder verstanden noch lustig gefunden hatte; vermutlich weil er in Sachen Betäubungsmittelgesetz nicht ganz firm war und im Gegensatz zu Gabriel noch nie in ein derart lautes Tosen des Lebensmeers geraten war, dass es sich nur noch mit starken Beruhigungsmitteln in Schach halten ließ.
Gabriel jedenfalls war der Name schon damals überaus passend erschienen, denn bereits als Welpe hatte Benzo im Vergleich zu seinen Geschwistern eine derartige Trägheit an den Tag gelegt, dass man schon von Sedierung sprechen konnte. Mit den Jahren war es naturgemäß nicht besser geworden, irgendwas in Benzos System schien keine Ahnung davon zu haben, dass er ein Hund war, der von Natur aus gern stundenlang draußen herumtollen wollte. Und deshalb eben Benzo - oder in der Koseform Tavor.
Dass Benzo noch dazu schwarz war, hatte für Gabriel zunächst keine größere Bedeutung gehabt. Aber mittlerweile wusste er nur zu genau, was Winston Churchill mit seinem »schwarzen Hund«, dem dunklen Kumpan gemeint hatte.
»Los, alter Junge!« Er beugte sich hinunter und kraulte seinem Hund den flauschigen Nacken, woraufhin Tavor sich sehr, sehr langsam erhob und seinem Herrchen zur Haustür nachtrottete. Gabriel nahm die graue Windjacke vom Garderobenhaken und zog sie über, dann schlüpfte er in seine ausgelatschten Sneakers, ohne sich die Mühe zu machen, die Schnürsenkel zu öffnen. Anschließend betrachtete er sich im Spiegel über dem kleinen Vintage-Tischchen, das ihm als Ablage für Schlüssel, Portemonnaie und Post diente.
Ein müdes Gesicht blickte ihm entgegen. Ein müdes, fahles Gesicht mit graublondem Dreitagebart und blassblauen geröteten Augen. Die vielen Sommersprossen, die sich über Stirn, Nase und Wangen zogen, waren nur noch traurige Erinnerungen an Zeiten, in denen es mal die eine oder andere Frau in seinem Leben gegeben hatte, die ihm zärtlich mit einer Hand darübergestreichelt und sie als »niedlich« bezeichnet hatte. Gabriels ebenfalls graublonde Haare hätten bereits seit längerem sowohl einen Schnitt als auch eine Wäsche vertragen können. Kurzerhand griff er in seiner Jackentasche nach der schwarzen Wollmütze mit dem St.-Pauli-Totenkopf und setzte sie sich auf.
Berufsjugendlich. So hatte ihn einmal eine frühere Freundin oder Affäre, oder wie auch immer man es bezeichnen wollte, genannt. Irgendwann kurz nach seinem achtunddreißigsten Geburtstag und seinem ersten Bestseller. Da hatte sie im Hinblick auf seine ausgebeulten Jeans, seine Turnschuhe und die Longsleeves mit den farblich abgesetzten Ärmeln darauf hingewiesen, dass es für einen Mann, »der bald in die besten Jahre kam«, und »in seiner Position« vielleicht angemessen wäre, sich etwas seriöser zu kleiden.
Damals hatte Gabriel laut gelacht und erwidert, er als Kreativer könne herumlaufen, wie er wolle, er sei schließlich weder im Aufsichtsrat einer Bank noch in irgendeiner anderen Branche tätig, die das Tragen von Anzug, Schlips und rahmengenähten Budapestern vorschrieb.
Gerade in diesem Augenblick wünschte er sich allerdings nichts sehnlicher als genau so einen Posten. Einen Job, den er einfach würde verrichten können, Monat für Monat, Woche für Woche und Tag für Tag. Irgendetwas, das ihn genug auslastete, um nicht über sich selbst nachdenken zu müssen, für das es aber nicht notwendig war, sein Herz daran zu hängen. Ein Herz, in dem ein großes, düsteres und alles verschlingendes Loch klaffte.
Noch einmal hörte er das Handy klingeln, das er oben in seinem Büro zurückgelassen hatte. Er warf einen letzten Blick in den Spiegel, zog sich die Mütze etwas tiefer ins Gesicht und verließ zusammen mit Tavor sein Haus, ohne die Tür abzuschließen. Es war ihm egal, ob jemand etwas stahl. Er hatte sowieso nichts mehr zu verlieren, weltliche Besitztümer waren ihm gleichgültig geworden.
Draußen wurde er umgehend von einer Böe erfasst, die ihm den Sand des Elbstrands in die Augen trieb. Schützend hielt er sich eine Hand vors Gesicht und stapfte hinunter zu einer der Bänke am Ufer. Er nahm Platz und legte sein Buch neben sich auf das verwitterte Holz, während Tavor sich kraftlos in den Sand plumpsen ließ, um sein Nickerchen fortzusetzen. Gedankenverloren betrachtete Gabriel das rot-weiße Unterfeuer, das vor ihm wie ein Mahnmal aus den Fluten der Elbe ragte.
Wenn er nachts aus dem Fenster schaute, konnte er diesen Leuchtturm sehen, und in den vielen schlaflosen Nächten, in denen er wie ein Gefangener durch sein kleines Kapitänshaus am Blankeneser Strandweg geirrt war, hatte er ihn wieder und wieder stumm angefleht, ihm den richtigen Weg zu weisen, weil er selbst schon längst seinen Kurs verloren hatte. Der meterhohe Turm hatte beharrlich geschwiegen, natürlich hatte er das, und dabei lediglich mit einem grellen Lichtstrahl ziellos in die Ferne geblinkt.
Gabriel beugte sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab und verbarg das Gesicht in beiden Händen. So verharrte er eine Minute oder auch eine Stunde lang, im Wind sitzend auf dieser Bank, und kämpfte gegen den nahezu übermächtigen Drang an, aufzustehen und den Kopf gegen einen der graphitschwarzen Steine zu schlagen, die entlang des Wassers zu einem Schutzwall aufgeschichtet worden waren.
Das laute Tuten eines Schiffshorns ließ ihn wieder aufblicken, ein Hochhaus von Kreuzfahrtdampfer pflügte Richtung Mündung durch die Wellen, an Deck Heerscharen von winkenden Passagieren, die zu den Klängen monumentaler Auslaufmusik ihre Reise von Hamburg nach sonst wohin antraten. Da müsste man mitfahren, schoss es Gabriel durch den Kopf. Nicht weil ihn die Fahrt mit einem Luxusliner auch nur ansatzweise reizte. Nein, da hielt er es ganz mit seinem US-Kollegen David Foster Wallace, der vor Jahren seine Kreuzfahrterfahrung in einem herrlichen Buch mit dem Titel Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich zu Papier gebracht hatte und dessen Beschreibungen den Rückschluss zuließen, das sei nur etwas für Masochisten.
Was Gabriel allerdings an der Vorstellung, selbst auf einem solchen Ozeanriesen einzuchecken,...
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