Kapitel 1 »Ich werde Sie jetzt ein wenig herrichten, in Ordnung, Frau Kallier?«
Ich beugte mich mit einem Lächeln über die Patientin, die seit einer Woche auf unserer Station lag, eine Hand auf ihren kalten Arm gelegt. Die Wintersonne schien durchs Fenster und tauchte das blasse Gesicht der alten Frau in ein warmes Licht. Aus irgendeinem Grund machte der Anblick mich melancholisch. Sanft strichen meine Finger über ihre Haut. Sie war ganz kalt.
Frau Kallier antwortete nicht. Natürlich nicht. Sie musste irgendwann zwischen der Mittagsrunde und meiner kurzen Pause verstorben sein. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihr Gesicht wirkte friedlich.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch, das wir am Morgen zuvor geführt hatten. Wie immer, wenn ich ihr das Frühstück brachte, hatte sie mich mit einem strahlenden Lächeln begrüßt. Und dann hatte sie mich ganz unvermittelt mit ihrer brüchigen Stimme gefragt: »Was glauben Sie eigentlich, was nach dem Tod passiert, Schwester Maya?«
Während ich das Tablett mit Brötchen und Marmelade auf ihren Tisch gestellt hatte, war ich im Kopf meine bisherigen Antworten durchgegangen. Auf der Erwachsenenpalliativstation kam diese Frage oft. Für die meisten Patienten war das hier ihre letzte Station vor dem Tod, oder sie gingen nach ihrem Aufenthalt ins Hospiz, wenn der Tod zwar unvermeidbar war, aber noch nicht unmittelbar bevorstand. Es gab Standardsätze, an die auch ich mich oft hielt, weil ich die Erfahrung gemacht hatte, dass die Patienten gut damit leben konnten.
Bei einem Blick in Frau Kalliers strahlendes Gesicht hatte ich mich aber gegen eine solche Antwort entschieden. Ich hatte ihr Lächeln erwidert und gefragt: »Was denken Sie denn, was passiert?«
In ihre Augen war ein beinahe schalkhafter Ausdruck getreten. »Ich denke nicht, dass es nach dem Tod einfach vorbei ist. Das halte ich für unmöglich. Ich glaube, dass wir wiedergeboren werden, als ein ganz anderes Lebewesen.« Sie hatte das Brötchen mit dem Messer über den Teller geschoben, weil ihr bereits vor Tagen der Appetit vergangen war. Ein typisches Anzeichen dafür, dass der Tod nicht mehr fern war. »Wollen Sie wissen, als was ich wiedergeboren werde?«
Obwohl mir bei dem Gespräch das Herz wehtat, setzte ich mich auf ihre Bettkante und versuchte, Zuversicht auszustrahlen. »Als was denn?«
»Als ein kleines Blümchen in einem wunderschönen, großen Garten. Und neben mir wird mein Mann stehen, der wartet bestimmt schon ganz sehnsüchtig auf mich. Aber nicht als Blümchen, das würde nicht zu ihm passen. Er ist bestimmt eine alte Eiche. Oder ein Kaktus.« Sie hatte gekichert und einen Schluck Kaffee getrunken, bevor ihre funkelnden Augen sich mir wieder zugewandt hatten. »Aber eins weiß ich ganz sicher: Ich werde ihn auf jeden Fall erkennen.«
Ob sie jetzt schon dort war? Ich atmete tief durch den Mund, bevor ich ihr vorsichtig die grauen Haare aus dem Gesicht strich und dann sanft das steife Krankenhaushemd auszog. Ich ließ mir Zeit dabei, sie zu waschen und herzurichten. Dabei dachte ich wieder an ihr sonst so warmes Lächeln, das heute Morgen zu Dienstbeginn aus ihrem Gesicht verschwunden gewesen war. Über Nacht hatte Frau Kallier wahnsinnig abgebaut. Sie hatte mich kaum noch angesehen und gleich wieder rausgeschickt. Da hatte mein heftig schlagendes Herz gewusst, dass sie mit dem Kopf wahrscheinlich schon irgendwo auf der anderen Seite war.
Ich suchte das zartrosa Nachthemd aus dem Kleiderschrank, von dem sie mir vor ein paar Tagen erst erzählt hatte, dass es sich hierbei um ihr Lieblingsstück handelte. Es hatte feine Rüschen am Kragen, und als ich es ihr vorsichtig anzog, entfuhr mir ein Seufzen.
Ursprünglich hatte ich nicht vorgehabt, direkt nach der Ausbildung auf einer Palliativstation für Erwachsene anzufangen. Eigentlich hatte ich schon bei meinem Praxiseinsatz wahnsinnige Angst vor der Station gehabt. Aber im Endeffekt war es nicht so schlimm wie befürchtet, und ich lernte die Zeit zu schätzen, die ich hier für meine Patienten hatte. Hier gab es keine Hektik, der Tagesablauf konnte leicht an die Bedürfnisse der Patienten angepasst werden. Und gleichzeitig war es frustrierend, dass man selten einen Patienten gesund nach Hause schicken konnte. Selbst die Leute, die nur zum Aufpäppeln zwischen den Chemos kamen, verstarben häufig. Ich hatte mir gewünscht, nie an einem Punkt anzukommen, an dem ich von all dem Leid abstumpfte. Aber jetzt, nach zwei Jahren auf dieser Station, war es doch passiert. Zwar nur ein wenig und auch nicht bei allen Patienten, aber trotzdem.
Ich stützte meine Arme auf die Bettkante und mein Kinn darauf. Nachdenklich betrachtete ich das friedliche Gesicht der alten Dame. »Schick sehen Sie aus«, flüsterte ich und musste nun doch wieder lächeln. »Wenn Sie auf der Wiese stehen und Ihren Mann gefunden haben - vielleicht können Sie mir dann irgendwie ein Zeichen schicken? Ich wüsste gern, dass es Ihnen da drüben gut geht. Und ehrlich gesagt würde ich auch zu gern wissen, wie das Leben nach dem Tod denn jetzt wirklich aussieht.« Ich strich noch einmal sanft über ihre Haare, bevor ich aufstand und tief durchatmete.
Dann öffnete ich das Fenster und räumte meine Waschutensilien weg. Zuletzt schlug ich die Decke etwas auf und legte vorsichtig Frau Kalliers Arme darauf. Es wirkte beinahe, als würde sie schlafen, genau, wie ich es beabsichtigt hatte. Ein paar Sekunden stand ich noch an ihrem Bett, die Hand auf meinem Brustbein, und betrachtete die Frau. Irgendwann wurde es zu bedrückend, und ich verließ das Zimmer.
Frau Kallier war zu uns gekommen, weil ihr Leben zu Ende ging. Sie hatte es gewusst und es akzeptiert. Sie hatte keine Angst vor dem Sterben gehabt, keine Probleme, loszulassen. Wieso also hatte ich welche?
Ihre Familie, ihre drei Kinder plus Partner und Enkel, kamen nur etwa fünfzehn Minuten später auf die Station. Ihre Kinder hatten alle rot geweinte Augen, aber wie Frau Kallier selbst lächelten sie mich an. Ich richtete ihnen mein Beileid aus, und sie nahmen mich bei der Hand und hielten sie sehr lang. Dankten mir für die Pflege ihrer Mutter und betonten, wie gern sie von mir gesprochen hatte. Ich zeigte ihnen das Zimmer, in dem die Verstorbene lag, und schloss die Tür hinter ihnen.
Danach musste ich erst mal für ein paar Minuten auf dem Klo verschwinden und tief durchatmen. Okay, vielleicht war ich doch nicht so abgestumpft. Die meiste Zeit schon, aber es kamen immer wieder Patienten, die mich berührten und von denen mir der Abschied schwerfiel. Ich betrachtete nachdenklich mein Spiegelbild, bevor ich den hohen Messy Bun, den ich mir bei der Arbeit am Patienten immer machte, öffnete. Vorsichtig durchkämmte ich die schwarzen, brustlangen Haare mit den Fingern, dann wischte ich die verschmierte Wimperntusche weg. Mein Spiegelbild sah mich ein wenig geknickt aus seinen dunklen Augen an, und ich zwang mich, die Mundwinkel nach oben zu ziehen. Ich zwang mich, das Gesicht mit den vollen Lippen und der Nase, die ich früher zu breit und flach gefunden hatte, anzulächeln. Es dauerte einen Moment, aber dann funktionierte es. Das Lächeln im Spiegel sah mit den verstreichenden Sekunden immer weniger gezwungen aus, und vor allem fühlte es sich immer besser an. Echter. Ich atmete noch mal tief durch, dann war ich bereit, das Bad zu verlassen. Da Frau Kallier die letzte Patientin auf meinem Rundgang gewesen war und sonst keine Notfalllampen über den Zimmern brannten, ging ich zurück ins Schwesternzimmer. Wie immer roch es nach billigem Kaffee und teurem Parfüm. Meine Kollegin Inka saß auf ihrem Lieblingsstuhl in der Ecke - dem mit dem noch nicht durchgesessenen Sitzpolster - und schlürfte das dampfende Gebräu aus einer »Meine Schwester ist die Beste«-Tasse. Ich hatte vor Inka noch nie einen Menschen kennengelernt, der so viel Koffein in sich schütten konnte, ohne Herzrasen davon zu bekommen. Sie stand in jedem Dienst mindestens viermal da und kochte eine neue Kanne. Vermutlich trank sie nichts anderes - ich hatte sie jedenfalls noch nie mit einem Glas Wasser gesehen.
Sie hob den Kopf. »Kaffee?«
»Nein, danke.« Wir arbeiteten schon seit zwei Jahren zusammen, aber sie konnte sich einfach nicht merken, dass ich Kaffee hasste. Oder sie wollte es nicht, das lag definitiv auch im Bereich des Möglichen. Einen kleinen Moment lang fragte ich mich, ob ich die Erwachsenenpalliativstation wohl lieber mochte, wenn das Team ein anderes wäre. Inka und ich waren nicht wirklich auf einer Wellenlänge, und die meisten meiner Kollegen waren um die fünfzig und schon deutlich abgestumpfter als ich.
Inka nippte erneut an ihrer Tasse. »Na, haste alles erledigt?«
Alles erledigt war ihr Standardsatz dafür, einen verstorbenen Patienten für seine Angehörigen fertig zu machen. Ich hasste es, wenn sie das sagte, versuchte aber wie immer, es mir nicht anmerken zu lassen. »Das klingt, als wären wir bei der Mafia.«
Inka brummte nur. Es war offensichtlich, dass es sie eigentlich gar nicht interessierte. Sie lehnte sich in ihren Stuhl. »Susann will gleich mit uns reden. Klang ernst.«
»Okay?« Das brachte mich nicht aus der Ruhe. Unsere Stationsleiterin war eine dieser Personen, die sich selbst viel zu wichtig nahmen. Unsere alte Leitung war erst vor ein paar Wochen in Rente gegangen, und Susann hatte sich direkt nach ihrer Übernahme auf ein Podest gestellt. Alles, was sie tat, war unheimlich wichtig und konnte auf keinen Fall warten, egal, was man gerade tat. Dass sie noch nicht in der Tür stand und auf ihre Armbanduhr tippte, war verwunderlich.
Ich hatte eigentlich nicht die geringste Lust auf eine Standpauke oder eine ihrer wichtigen Reden, bei denen meistens eh nur heiße Luft kam. Der Tod von Frau...