Kapitel 1
Am Tag zuvor
Alexandras Wecker klingelte, wie jeden Morgen, um halb sechs. Ihre Hand schnellte, ebenfalls wie jeden Tag, bereits nach dem zweiten Klingeln zielsicher auf den Nachttisch und schaltete ihn aus. Sie hatte schon immer zu den Menschen gehört, die aufstanden, sobald der Wecker klingelte. Sie sah keinen Sinn darin, liegen zu bleiben und mit dem neuen Tag zu hadern. Schließlich musste man aus dem Bett, ob man es nun wollte oder nicht. Also konnte man es auch gleich hinter sich bringen. Seit sie vor zwei Wochen mit ihrem Verlobten zusammengezogen war, hatte sich ihr Wecker-ausschalt-Instinkt sogar noch verbessert. Robert lag leise atmend neben ihr und stand in der Regel frühestens zwei Stunden nach ihr auf. Sein Tagesablauf war völlig anders aufgebaut als ihrer, und so wollte sie ihn morgens nicht wecken, wenn sie sich aus dem Bett stahl.
Ohne das Licht einzuschalten, tappte sie ins Bad, duschte und zog das schwarze Kostüm mit der weißen Bluse an. Sie suchte immer am Abend die Kleidung für den nächsten Tag heraus. So konnte sie sichergehen, dass am Morgen alles bereitlag und sie nicht versehentlich Kleidungsstücke anzog, die nicht zueinanderpassten.
Dann ging sie in die Küche, nahm einen Kaffeebecher aus dem Schrank und goss sich eine Tasse des rabenschwarzen, starken Gebräus ein, das sie ebenfalls am Vorabend vorbereitet hatte und das dank des Timers der Kaffeemaschine genau in der richtigen Minute fertig wurde. Während sie ihren Kaffee trank, schaltete sie den Fernseher ein und brachte sich mit den Frühnachrichten auf den neuesten Stand. Sie musste morgens immer wissen, was in der Welt los war. Wenn sie ihr Büro betrat, wollte sie auf alles vorbereitet sein. Ihr Boss stellte gern Fragen oder wollte eine Meinung hören. Seit gestern war nicht viel passiert. Kein Krieg war ausgebrochen, die Börsennachrichten waren okay und der Wetterbericht machte Hoffnung auf ein paar Sommertage mehr, obwohl es bereits Ende September war. Die einzige interessante Nachricht handelte von einer abgebrannten Fabrikhalle am Hafen. Es wurden Bilder von einem lichterloh brennenden Gebäude eingeblendet und der Kampf der Feuerwehr gegen das Flammenmeer in dramatischen Worten geschildert. Soweit der Reporter das zum jetzigen Zeitpunkt sagen konnte, waren in dem Gebäude keine Menschen zu Schaden gekommen.
Wenigstens das. Der Gedanke, von einem Feuer eingeschlossen zu werden, gefangen zu sein, ließ sie schaudern.
Alex schaltete den Fernseher aus, steckte ihr Haar zu einem festen Knoten auf und schlüpfte in ihre Pumps. Sie griff nach ihrer Aktentasche und zog - pünktlich um halb sieben - die Tür hinter sich ins Schloss.
Mit ihrem Mini Cooper würde sie genauso lange brauchen, dass sie inklusive Einparken in der Tiefgarage und der Aufzugfahrt in den dreizehnten Stock um Punkt sieben Uhr mit einer weiteren Tasse Kaffee hinter ihrem Schreibtisch in der Anwaltskanzlei Silverman & Partner sitzen würde. Wenn sie Partnerin werden wollte - und das wollte Alex mehr als alles andere - war es unabdingbar, sich um diese Uhrzeit hier einzufinden und sofort mit der Arbeit zu beginnen.
Alex war die aussichtsreichste Kandidatin auf die Beförderung, die demnächst anstand.
Sie hatte ihr großes Ziel so gut wie erreicht. Das war selbst ihr, die die Welt eher aus pessimistischen Augen betrachtete, klar. Sie würde ernannt werden und all die Mühe und harte Arbeit, die sie in den vergangenen Jahren in die Kanzlei investiert hatte, hätten sich gelohnt. Silverman & Partner war eine Kanzlei, die sich auf Wirtschaftsrecht, Vertragsabschlüsse und Versicherungsverhandlungen für große Firmen spezialisiert hatte und in dieser Hinsicht die exklusivste Adresse in San Francisco war. Dabei war Wirtschaftsrecht während ihres Studiums gar nicht ihr Traum gewesen.
Damals hatte sie noch eine Anwältin werden wollen, die sich mit den kleinen und großen Problemen der Menschen auseinandersetzte. Sie wollte die Menschen vertreten, denen Unrecht getan worden war, wollte für Gerechtigkeit sorgen.
Robert hatte ihr allerdings gezeigt, wie viel besser Wirtschaftsrecht zu ihr passte. Ohne viel darüber nachzudenken hatte sie diesen Weg eingeschlagen und ihr Bestes gegeben. Vielleicht hatte sie sich diese Entscheidung ein wenig zu einfach gemacht. Vielleicht hätte sie mehr für ihren Traum kämpfen sollen. Aber dafür war es inzwischen zu spät. Und nun würde sie bald belohnt werden. Mit einer Partnerschaft in einer der renommiertesten Kanzleien der USA.
Alex summte leise vor sich hin und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dreizehnten Stock des Gebäudes. Über den stillen, mit dicken Teppichen ausgelegten Gang lief sie in ihr Büro.
Als sie die Tür öffnete, blieb sie überrascht stehen. Mr Silverman saß hinter ihrem Schreibtisch. Sein zerfurchtes Gesicht war zu einer besorgten Maske verzogen und zeigte deutliche Spuren einer schlaflosen Nacht. Alex' Blick glitt in die kleine Sitzecke, in der sie normalerweise ihre Klienten in gemütlicher Atmosphäre empfing. Dort saßen drei der Seniorpartner. Ihre Körperhaltung war steif, ihre Gesichter ernst und abweisend. Alex schluckte. Auch wenn sie nicht wusste, was los war, so musste doch irgendetwas Schlimmes passiert sein. Und es musste mit ihr zu tun haben. Sonst wäre nicht die Chefetage in ihrem Büro versammelt. Langsam schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und begrüßte die Männer.
Wie ein Schulkind, das zum Direktor zitiert wurde, stand sie vor ihrem Schreibtisch. Silverman lehnte sich in ihrem Sessel zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Sie haben die Verhandlungen für Davenport Industries geführt, Miss Summers«, stellte er mit leiser, aber scharfer Stimme fest.
»Ja, Sir«, begann sie. »Das heißt, eigentlich nein, Sir.«
Alex fuhr sich über die Stirn. »Ihr Neffe hat die Verhandlungen geführt. Ich habe ihn dabei lediglich unterstützt.«
»Mein Neffe?«, fragte der alte Mann und legte nachdenklich die gefalteten Hände unter sein Kinn. Er ließ sie noch immer nicht aus den Augen.
»Ja, Sir.« Silvermans Neffe, Lucas Silverman, war das, was man gemeinhin als Versager auf der ganzen Linie bezeichnete. Keiner wusste, wie er es überhaupt geschafft hatte, einen Studienabschluss zu erreichen, geschweige denn, in die Anwaltskammer von Kalifornien aufgenommen zu werden. Er war faul und dumm, dafür aber umso großspuriger. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte, die in der Kanzlei kursierten, hatte Silverman ordentlich nachhelfen und an den richtigen Stellen Druck machen müssen, damit sein Neffe sein Studium überhaupt bestand und Anwalt werden konnte. Aber all das spielte keine Rolle. Er war der Neffe des Bosses. Silverman hatte keine Kinder, also würde Lucas die Kanzlei wohl irgendwann übernehmen.
Und Alex wollte Partnerin werden. Deshalb hatte sie sich bereit erklärt, Lucas unter die Arme zu greifen und ihn einzulernen. Demzufolge erledigte sie einen Großteil seiner Arbeit zusätzlich zu ihrer eigenen und bügelte immer wieder seine Fehler aus. So, wie die Partner sie gerade ansahen, schien sie jedoch einen seiner großen Fehler übersehen zu haben. Wofür sie jetzt würde geradestehen müssen.
»Sie sind verantwortlich für die Arbeit meines Neffen, nicht wahr, Miss Summers?«, stellte Silverman die rhetorische Frage.
»Ja, Sir«, antwortete Alex abermals.
»Wo befinden sich die Akten?«
»In Lucas' Büro.«
»Gut, dann wollen wir sie uns einmal ansehen.« Silverman erhob sich etwas schwerfällig, und die Seniorpartner taten es ihm nach. »Nach Ihnen, Miss Summers.« Der alte Herr hielt ihr die Tür auf und folgte ihr in das Büro seines Neffen. Lucas war um diese Uhrzeit noch nicht im Haus.
Er erschien in der Regel erst, wenn es die Party, die er in der Nacht zuvor besucht hatte, zuließ. Alex kannte sich in seinem Büro aber genauso gut aus wie in ihrem. Mit einem Handgriff zog sie den richtigen Ordner aus dem Regal und legte ihn auf den Schreibtisch. Die Angst davor, was sie erwarten würde, wenn sie den Aktendeckel aufschlug, ließ ihr Herz schneller schlagen. Der Kloß, den sie zuvor in ihrem Hals gespürt hatte, wuchs in ihrem Magen zu einem riesigen Klumpen an. Was konnte sie übersehen haben?
Silverman zog den Ordner zu sich heran und öffnete ihn. Obenauf war der Vertrag abgeheftet, der eigentlich bei der Versicherung sein sollte. Der ausgehandelte Termin war längst verstrichen. Was im Umkehrschluss bedeutete . Davenport Industries genoss keinen Versicherungsschutz. Wenn also etwas passierte, zum Beispiel eine Überschwemmung oder ein Feuer .
Hastig zog Alex den Ordner zu sich und blätterte durch die Seiten, um die Bestätigung für das zu finden, was sie in diesem Moment begriff.
Da stand es. Schwarz auf weiß.
Die Fabrikationsanlagen von Davenport Industries befanden sich im Hafen. Das brennende Gebäude, das sie vor einer Stunde in den Nachrichten gesehen hatte .
Der Name der Firma war nicht genannt worden, aber die ernsten Gesichter, die sie ansahen, sagten ihr alles, was sie wissen musste. Davenport Industries war abgebrannt und die Versicherungsgesellschaft würde nicht zahlen, weil die Police nicht fristgerecht eingereicht worden war.
Nun gut, das wäre eigentlich Lucas' Aufgabe gewesen. Zu anspruchsvoll war es sicherlich nicht, seine Sekretärin zu bitten, das zu veranlassen. Aber sie war für Lucas verantwortlich und hätte das überprüfen müssen.
Mit einem erstickten Laut ließ sie sich in den Bürosessel fallen und blickte zu den Seniorpartnern auf, die...