2.
Inhaltsverzeichnis "Niemals erschien mir die Welt ähnlich reich gesegnet wie in diesem Jahr," sagte Frau Präsident Melchers und wies zu den Obstbäumen ihres Gärtchens hinüber, die unter den silbernen Tauschleiern eines frühen Septembermorgens tiefgeneigt ihre Lasten trugen.
Eva von Ostried stand, für einen Ausgang bereit, ebenfalls auf der offenen Veranda. Sie empfand keine staunende Dankbarkeit beim Anblick dieser Wunder. Aus ihren Blicken sprach etwas Unruhvolles. Nur für kurze Zeit hatte ihr der Segen dieser Stille, die - obschon nahe dem großen Getriebe Berlins - dennoch aller Unrast fern und fremd zu bleiben schien, wohlgetan. Jetzt fühlte sie sich wieder von dieser Abgeschlossenheit gepeinigt. Jede Stunde bedeutete ihr etwas Verlorenes. Jeder Tag einen unersetzlichen Verlust. Heimlich durchkostete sie die rieselnden Wonnen ihres ersten Erfolges und wußte nichts mehr von Reue oder Empörung.
Sagten es ihr nicht immer aufs Neue die bewundernden Blicke fremder Menschen, daß sie ungewöhnlich schön ist?
War es darum nicht auch verzeihlich, wenn die Leidenschaft eines Mannes und Künstlers sich an ihrem Anblick entflammte und vergaß?
Die Präsidentin beobachtete heimlich den wechselnden Ausdruck auf Eva von Ostrieds Zügen. Sie wußte richtig in diesem jungen Gesicht zu lesen. Die Sorge um Evas Zukunft verringerte sich nicht. Der Wunsch, neben ihr bleiben zu dürfen, bis die Selbstzucht oder eine harte Enttäuschung alle Schlacken fortgefegt haben würde, war auch heute in ihr. Sie fühlte, wie sich die junge Seele ihr seit der Rückkunft aus Oeynhausen mehr und mehr verschloß. Aber sie unterdrückte tapfer alle Bitterkeit.
War es nicht auch das Los der leiblichen Mutter allmählich das Kind der Schmerzen an irgend eine fremde Freude zu verlieren? Und hatte der kommende Tag wirklich die große Bedeutung, die sie ihm zumaß?
"Nun gehen Sie, Eva und besorgen die Kleinigkeiten zu unserm Mahle," sagte sie und zwang damit ihre Gedanken zu fröhlicheren Dingen. "Mein alter Freund, Justizrat Doktor Weißgerber, hat mir versprochen, das Fest Ihrer Volljährigkeit mit uns zu feiern."
"Ach," meinte Eva lachend, "was soll er mir? Er ist alt, bedenklich und weise."
Ein rascher Blick streifte sie.
War sie wirklich so harmlos, nicht die tiefe Bedeutung seines Besuches gerade an ihrem Ehrentage zu ahnen? - Der junge Mund plauderte sorglos weiter.
"Am liebsten würde ich morgen Abend in das große Wohltätigkeitskonzert gehen, zu dem mir ein liebenswürdiger, leider unbekannter Spender eine Karte zugesandt hat.."
"Und ich?" Nun klang doch eine leichte Bitterkeit aus der gütigen Stimme.
Eva wurde rot.
"Sie erfreuen sich doch auch gern an guter Musik.."
"Freilich tue ich das! Aber ich ermüde jetzt zu sehr dabei."
"Wenn Herr Justizrat bei Ihnen bleiben würde?" Der Eigenwunsch besiegte alle anderen Bedenken.
"Seine Zeit ist kostbar, das wissen Sie. Opfert er mir schon die Mittagszeit, wage ich nicht noch weiteres von ihm zu fordern."
Eva schwieg. Aber ihr war es, als laste eine Kette auf ihr, welche die Schönheit des Lebens für sie fesselte. - Unfreudig wandte sie sich nach kurzem Zaudern, um die aufgetragenen Besorgungen zu erledigen.
Die Präsidentin blickte ihr nach, solange etwas von ihr sichtbar blieb. Dann sah sie die durch die alte Pauline hereingebrachte Frühpost durch, vermißte dabei die Zusage des aufmerksamen Freundes und ging zum Telephon, um ihn zu befragen, wann er morgen frühestens kommen könnte. Der Vorsteher seines Büros antwortete an seiner Statt, daß der Justizrat seit gestern leider mit einer heftigen Erkältung zu Bette liege und hohes Fieber habe. - Das beunruhigte sie auch wegen des Andern. Gar zu gern hätte sie nun endlich ihrem längst ordnungsmäßig aufgesetzten Testament jene Nachschrift angefügt, die Eva von Ostrieds Zukunft sicher stellte. Einem ausdrücklichen Wunsch ihres verstorbenen Gatten entsprach es, daß sie vor Ausführung jeden größeren Entschlusses den Rat seines als treu und klug erprobten Jugendfreundes hörte.
Bisher war sie seinem Wunsch stets gefolgt. Für die beabsichtigten Stiftungen, denen, mangels Erbberechtigter, ihr großes Vermögen neben reichen Legaten bestimmt war, hatte sie auch eines klugen, juristischen Beistandes bedurft. Nun hieß es ein Teilchen von dem bereits Verfügten abzustreichen und diesem neuen Zweck zuzuführen. Der Gedanke an ein Hinausschieben wollte sie unruhig machen. Die Gewöhnung an klares, ruhiges Ueberlegen siegte jedoch.
Schließlich kam es auf ein paar Tage des Wartens dabei nicht an.
Sie war damit beschäftigt, den Gaben, die Eva von Ostried morgen erfreuen sollten, ein möglichst festliches Aussehen zu verleihen, als die alte Pauline, die bereits der jungen Frau Assessor Melchers treu gedient hatte, hereinkam und den Besuch eines fremden Herrn meldete. Es war kaum zehn Uhr vormittags. Die Stunde dafür also ungewöhnlich. Deshalb ließ ihn die Präsidentin nicht eher hereinbitten, bis er sein Anliegen genannt hatte.
Das war in kurzen Worten geschehen.
"Er käme wegen unserm Fräulein," berichtete Pauline und die anfängliche Mißbilligung war aus ihrem Gesicht verschwunden.
Der bald darauf Eintretende war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Seine breitschultrige Gestalt zeigte die Kraft und Frische eines Menschen, der einem gesunden Beruf nachgeht. Sein Gesicht war tief gebräunt. Unter den buschigen Brauen blickten die Augen treu und klar. Er gefiel der Präsidentin, noch ehe sie ihn angehört hatte. Das anfängliche Unbehagen, es könne sich um einen der vielen heimlichen Verehrer ihres schönen Schützlings handeln, wandelte sich in eine Art behaglicher Neugier. Von diesem ehrenhaft Wirkenden konnte ihrem Liebling unmöglich eine Gefahr drohen. Als er seinen Namen nannte, streckte sie ihm herzlich die Rechte entgegen.
"Amtsrat Wullenweber aus Hohen-Klitzig, Regierungsbezirk Köslin, Hinterpommern," wiederholte sie mit einem warmen Lächeln. "Also - Eva von Ostrieds Vormund! Wie es mich freut, Sie persönlich kennen zu lernen. Unser Briefwechsel war damals kurz und gestaltete sich unerfreulich, nicht wahr?"
"Ja," sagte er, "ich bildete mir fest ein, daß Sie, Frau Präsident, den unglücklichen Gedanken meines Mündels kräftig unterstützten."
"Warum bezeichnen Sie ihn als unglücklich, Herr Amtsrat?"
"Das läßt sich nicht in ein paar Worten sagen."
"Soll dies heißen, daß die Zeit zu einer richtiggehenden, sogar für eine Frau begreiflichen Erklärung, Ihnen auch heute fehlt?"
"Zeit hätte ich schon, Frau Präsident. Mein Zug geht erst in vier Stunden. Mein Hauptgeschäft, der Ankauf einer landwirtschaftlichen Maschine, ist bestens besorgt."
"Ach," machte sie enttäuscht, "und ich dachte, daß Sie zu mir kämen, weil doch morgen Eva von Ostried selbständig wird."
Er lächelte. Das gab seinem ernsten, stillen Gesicht etwas unendlich Gutes und Liebenswertes.
"Ich glaube, Sie unterschätzen die Sorgen und Lasten des Landmannes in dieser jetzigen, bösen Zeit, Frau Präsident. Sobald er den Rücken wendet, geschieht bestimmt eine Dummheit. Ich will mich also nicht als Einer hinstellen, der allein von der Verantwortung seiner Vormundschaft getrieben wird. Wenn schon ich nicht verhehlen kann, daß mir Eva von Ostried viel Sorge gemacht hat."
"Lieber Herr Amtsrat, das Schicksal teile ich mit Ihnen! Wer sie lieb hat, wird ewig mit einer gewissen Unruhe im Herzen ihrer Entwicklung zusehen."
"Eigentlich lieb ist sie mir nie gewesen," gestand der Amtsrat freimütig ein, "dazu hatte sie zu viel von ihrem Vater."
Ein verstehendes Lächeln erschien auf dem Frauenantlitz.
"Dann haben Sie ihrer Mutter sicher sehr nahe gestanden."
"Woher wissen Sie das, Frau Präsident?" Er sah sie erstaunt und unsicher an.
"Ich ahne es mit dem Gefühl der reifen Frau. - Der Vater war augenscheinlich niemals Ihr wahrer Freund. Die Tochter steht Ihrem Herzen nicht sonderlich nahe und dennoch wehrten Sie sich mit einem fast leidenschaftlichen Grimm gegen die Fortsetzung ihrer einst vom Vater gebilligten musikalischen Ausbildung, nachdem der berühmte Gönner tot war. Da muß also entweder das höchste Gefühl von Verantwortung und dieses haben Sie mir ja soeben abgestritten - oder das, einer geliebten Verstorbenen gegebene Versprechen zugrunde liegen."
"So ist es wirklich. Evas Mutter war die beste und edelste Frau!"
"Sie sind unvermählt geblieben, Herr Amtsrat?" Er nickte wehmütig.
"Ein paar mal habe ich später aus dieser Einsamkeit herauswollen und es doch nie über kläglich gescheiterte Versuche gebracht. Das heißt: verstehen Sie mich nicht falsch. Der andere Teil merkte nichts davon. Nur mit mir allein brachte ich die Geschichte in Ordnung. Das genügte. - Ich konnte Evas Mutter nicht vergessen."
"Verzeihen Sie, wenn ich forsche. Unzartheit ist es nicht. Wie konnte es kommen, daß Sie sich nicht - war selbst anfangs keine Gegenliebe vorhanden - von so viel Tiefe und Treue rühren ließen?"
Sein grauer Kopf neigte sich auf die Brust.
"Als ich sie kennen lernte, gehörte sie schon dem Andern. Und ich war sein Freund und nächster Nachbar. Wissen Sie.. kein Freund, wie Sie und auch ich jetzt, ihn verlangen. Dazu waren wir Beide viel zu verschieden. Ich eines schlichten Vaters vierter und jüngster Junge, zur strengsten Arbeit und Pflichterfüllung seit den ersten Hosen an, erzogen - er, der Einzige des schönen, flotten und leichtsinnigen Majoratsherrn auf Waldesruh. Springt man aber jahrelang...