Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Denn nicht Tod oder Not sind furchterregend, sondern die Angst vor ihnen.«
Dervla Murphy, Full Tilt (1965)
Ich sehe die Straße deutlich vor mir, die sich zwischen den Bergen und dem Meer hindurchwindet. Mit dem Finger fahre ich sie entlang. Mal liegt sie klar erkennbar und einsam da, dann wieder verschwindet sie in der dunklen Linie einer Autobahn oder in der Falte einer Küstenschlucht. Erwartungsvoll schaue ich hoch.
»Siehst du«, sage ich. »Hier.«
Der Mann wirkt unbeeindruckt. Er reibt sich mit der Hand über das Kinn, und ich höre dabei das leise Raspeln der Bartstoppeln. Zum ersten Mal bemerke ich die grauen Schatten unter seinen Augen. Er sieht älter aus als seine 27 Jahre.
»Es gibt keine Straße«, wiederholt er stoisch. Er ignoriert die Karte. Für ihn ist sie irrelevant, denn er kennt dieses Land, kennt es gut.
»Aber schau doch«, erwidere ich und tippe mit dem Finger darauf. »Sie scheint ganz durchzugehen, bestimmt!«
Schließlich blickt er zu Boden. Ich bemerke, dass er auch an den Schläfen grau ist. Der Arme, denke ich. Er ist Elektroingenieur von Beruf, und ich habe ihn als Hilfe angeworben, weil man ihn überall in der Stadt kennt. Samer, der Mann, der Leute zusammenbringt; der Typ, der Dinge erledigt. Doch bisher läuft es zwischen uns nicht so gut. Zuerst ließ er mich wegen einer »kleinen Gasexplosion« zu Hause drei Stunden lang warten. Dann war da noch der Zwischenfall mit dem Gabelstapler, der uns beide fast umgebracht hätte, was irgendwie aber die grauen Schatten und Schläfen erklären würde.
Und jetzt das. Eigentlich hätte man meinen können, dass Samer angesichts seiner recht entspannten Einstellung zu Hinweisschildern im Straßenverkehr eine ruhige Küstenstrecke ansprechend finden sollte. Stattdessen versucht er sehr entschlossen, mich von dieser Route abzubringen.
»Es gibt eine Straße«, räumt er ein. Schließlich kann man das auch nicht wirklich leugnen. »Aber sie ist schlecht.« Er sticht in die blasse, wackelige Linie und zerquetscht vier Dörfer unter seinem Finger. »Da ist Sand. Und dann gibt's Löcher. Schlecht für Autos. Schlecht für Fahrräder.« Sein Blick fällt auf das klobige Drei-Gang-Fahrrad, das an der Wand lehnt und dessen königsblauer Rahmen an den Verbindungsstücken rostrot angelaufen ist. Am Lenker prangt die Aufschrift »BEIRUT BY BIKE«, daneben das Logo eines sportlichen Radfahrers mit flottem Kopftuch, der einen Wheelie macht. Nachdem ich nun schon einige Tage durch die Stadt geradelt bin, muss ich zugeben, dass mir das Bild recht abwegig erscheint. »Schlecht für das Fahrrad.«
Schicksalsergeben lege ich die Karte weg, denn in Wahrheit habe ich mich bereits entschlossen, bis zur Grenze im Norden zu radeln. Wir schreiben Dezember im Jahr 2014, und ich bin in den Libanon gekommen, um über die schlimmste Flüchtlingskrise zu berichten, die die Region je erlebt hat - Millionen von Syrer:innen fliehen vor dem verheerenden Krieg in ihrer Heimat. In der Woche davor war ich in Beirut und habe Politiker:innen, Aktivist:innen und Entwicklungshelfer:innen interviewt, um den Auswirkungen des Konflikts auf Syriens kleinstes und verletzlichstes Nachbarland nachzuspüren. Aber mein Bericht fühlt sich trocken und glanzlos an. Ich habe längst begriffen, dass ich in die Zeltlager an der Küste jenseits von Tripolis reisen muss, um die Lage zu verstehen. Ich muss mit den Menschen sprechen, die an der Kriegsfront leben und überleben.
Der Weg dorthin ist jedoch eine Herausforderung. Taxis sind teuer und Busse haben die frustrierende Angewohnheit, stundenlang zu trödeln oder gar nicht erst zu kommen. In einem plötzlichen Heureka-Moment fällt mir ein Fahrrad als Lösung ein. Bis Tripolis sind es knapp 90 Kilometer, was (gerade noch) an einem Tag machbar wäre. Und die Straße sieht ideal aus: Sie führt an der Küste entlang und zieht sich wie Ariadnes magischer Faden bis in den Norden. Von Beirut aus, so scheint es, sollte ich die gesamte Strecke zurücklegen können, ohne ein einziges Mal auf die hektische Autobahn ausweichen zu müssen. Außerdem muss ich zugeben, dass mich die Idee einfach reizt. Mit dem Fahrrad habe ich schon andere interessante Regionen erkundet - Indien, Mexiko, den Balkan -, aber noch nie den Nahen Osten. Das ist auch der Grund, warum mir der Gedanke Angst macht und ich die letzten Stunden damit verbracht habe, jemanden zu finden, der mich auf der Fahrt begleitet. Bis jetzt bin ich gnadenlos gescheitert.
»Du solltest sowieso nicht nach Tripolis gehen«, sagt Samer. »Die Dschihadisten kämpfen immer noch. Du könntest erschossen werden. Oder .« Er zögert.
»Oder?«
»Schlimmer.«
»Schlimmer?«
»Ja, schlimmer.« Er wirkt jetzt irritiert, als würde er mit einem Kind sprechen. »Entführt, gefoltert. Schlimmer.«
Ich sehe ihn an und weiß nicht, was ich antworten soll. Schweigen macht sich breit, während er eine Zigarette zu Ende raucht und sich eine neue ansteckt. Die Cedars-Packung hat eine ähnliche Farbe wie mein Fahrrad und ist wahrscheinlich genauso lebensgefährlich. »Du willst also nicht mitkommen?«, frage ich schließlich.
Er stößt ganz langsam eine Rauchwolke aus, dann steht er auf und greift nach seiner Lederjacke. Sie ist an den Ellbogen stark abgenutzt und riecht heimelig und leicht muffig wie feuchtes Holz. »Nein, Rebecca«, antwortet er, und ich erkenne an seinem Tonfall, dass unser Gespräch zu Ende geht. »Ich fürchte, du bist auf dich gestellt.«
Nachdem Samer gegangen ist, denke ich lange darüber nach, was er gesagt hat. Er ist nicht der Erste, der mich davor warnt, den Küstenweg mit dem Fahrrad zu befahren oder allein in die nördlichen Bezirke zu reisen. Und das Fahrrad hat zugegebenermaßen schon bessere Tage gesehen. Sogar die Männer im Fahrradverleih haben gelacht, als ich angab, es außerhalb von Beirut benutzen zu wollen; sie dachten, dass ich einen Scherz mache.
Doch mein Instinkt sagt mir, dass es gut gehen wird. Freund:innen in Tripolis haben durchgegeben, dass die Straßen der Stadt trotz einiger Unruhen sicher sind. Und sollte sich die Straße als unfahrbar erweisen, kann ich immer noch einen anderen Weg einschlagen. Nach reiflicher Überlegung beschließe ich also, Samer - und Mohammed, Midhat, Halifa und all die anderen Einheimischen, die das Radfahren in ihrem Land als Zeichen einer Geisteskrankheit ansehen - zu ignorieren und den Sprung zu wagen.
***
Beirut zu entkommen ist nicht einfach. Mich aus dem Gewirr von Umgehungsstraßen und Überführungen zu befreien fühlt sich an, als müsste ich mich gegen den Angriff eines vielarmigen Kopffüßers wehren. Aber danach ist der Start auf dem Küstenweg umso schöner. Von diesem Moment an radelt es sich aufregend und wunderschön. Die von vielen so angezweifelte Straße ist zwar sandig und uneben, aber auch ruhig und angenehm und fast perfekt fürs Fahrrad geeignet. Bis auf eine frühe Reifenpanne - die von einem Passanten kostenlos repariert wird, der dabei das Leben seines kleinen Sohnes riskiert, indem er ihn auf seinem BMX über die achtspurige Autobahn schickt, um ein Reparaturset zu holen - verläuft die Fahrt reibungslos und unkompliziert. Mehrere Stunden lang fahre ich die Klippen hinauf und hinunter, durch weiß getünchte Dörfer, in denen sich das Licht spiegelt, und durch eine frische Winterbrise, die nach Jasmin und Gewürzen duftet. Aus den versteckten Fischerbuchten weht Musik herüber, und ich erkenne Fairuz, das »Juwel des Libanon«, und Mohamed Mounir, den »arabischen Bob Marley«.
Als ich Tripolis erreiche, bin ich entspannt und fröhlich. Die sunnitischen und alawitischen Milizen, die Berichten zufolge in der Gegend operieren, sind nirgends zu sehen, und ich schaffe es ohne Zwischenfälle bis zur Grenze.
Dieses ereignislose Mini-Abenteuer hat mich einige wichtige Dinge gelehrt. Erstens: Nimm beim Radfahren immer ein Pannenset mit. Zweitens: Die Menschen im Libanon sind unglaublich hilfsbereit. Drittens: Libanesische Autofahrer sind gemeingefährliche Verrückte. Viertens (und das ist das Wichtigste): Vertraue niemals Leuten, die sagen, dass etwas nicht möglich ist. Natürlich sind manche Dinge nicht machbar. Ich hätte zum Beispiel nicht bis zum Mond radeln können - und auch nicht über den Libanon hinaus, der im Norden von einem Kriegsgebiet und im Süden von seinem langjährigen Widersacher Israel eingekesselt ist. Aber es gibt einen Unterschied zwischen überschaubarem Risiko und Leichtsinn, und gefühlt wird beides oft verwechselt. Aktivitäten, die von vielen als waghalsig eingestuft werden, entpuppen sich häufig als nichts dergleichen; die Gefahren sind eingebildet und überbewertet.
Nach diesem kurzen Abstecher an die Küste kommt mir schließlich ein Gedanke:...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.