Schweitzer Fachinformationen
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Als er den Paradise Ballroom betrat, senkten sie gerade die Spiegelkugel herab. In dem weiten Raum roch es nach Zigaretten und schalem Bier. Unter der Empore vertrieben sich die Tanzdamen die Zeit, zupften die Träger ihrer Kleider zurecht und richteten ihr Haar. Ihre Gesichter wirkten angespannt und blass wie die von Nachttieren, die nie das Tageslicht erblickten.
»Du bist der Ersatz für Victor, oder?« Ein Mann mit karierter Mütze kam von der Bühne, wo er gerade einen vergoldeten Notenständer gerichtet hatte. Antonio verbeugte sich.
»Ja, ich bin Antonio Trombetta.«
»Itaker, was? Das wird den Mädchen gefallen«, sagte der Mann wenig begeistert. »Immerhin bist du pünktlich. Maurice kann es gar nicht leiden, wenn seine Sänger zu spät kommen. Du kannst deine Sachen hinter der Bühne lassen. Jeanie zeigt dir die Garderobe.«
»Wenn es sein muss«, erwiderte Jeanie, ein Mädchen mit frechen Augen und kräuseliger Dauerwelle. Die anderen Tanzdamen kicherten gutmütig. Sie führte Antonio durch den Vorhang in einen weißgetünchten Korridor. Er konnte das Kreischen und Quäken des Saxophonisten hören, der sich gerade einspielte.
»Ich muss schon sagen, du bist eine nette Überraschung.« Jeanie betrat einen fensterlosen Raum voller Mäntel, Hüte und Regenschirme. »Wenn Victor krank ist, kommt meist ein schmieriger kleiner Mann aus Orpington, der die Finger nicht bei sich behalten kann.«
Antonio lächelte. »Sag mal, Jeanie, ist Victor oft krank?« Er zog den Mantel aus. Darunter trug er einen alten Abendanzug, den er mit einem Schwamm abgerieben und gebügelt hatte, um die glänzenden Stellen zu verbergen.
»Mach dir keine Hoffnungen. Er und Maurice sind so -« Sie streckte beide Zeigefinger nebeneinander aus, verhakte sie und wackelte zweideutig damit. »Außerdem ist Maurice jenseits von Gut und Böse. Zu viel Glückspulver, wie es die Yankees nennen. Das Paradise ist der einzige Laden, der ihn noch haben will.«
Antonio drehte sich zum Spiegel - schmutzig, mit rosa Puder verschmiert - und richtete seinen Kragen. Sein schwarzes Haar glänzte vor Brillantine. Er berührte es vorsichtig mit den Fingerspitzen, als gehörte es jemand anders.
»Komm später zu mir«, sagte Jeanie und öffnete die Tür. »Du bekommst einen Tanz aufs Haus. Foxtrott ist meine Spezialität.«
Maurice Goodyear war Mitte vierzig und hatte ein hübsches, aber verlebtes Gesicht. Er schniefte gelegentlich und hob die Fingerknöchel an die Nase.
»Irgendwelche Lieder, die du nicht kennst?« Er war nicht unfreundlich, hatte aber schon ein Dutzend Sänger kommen und gehen sehen und keine Lust mehr, ihre Namen zu lernen. »Ich zähl dich ein, danach bist du auf dich gestellt.«
Antonio nickte. Er kannte seine Rolle. In solchen Bands war der Bandleader, nicht der Sänger der Star. Die Tänzer und Tänzerinnen versammelten sich um die Bühne und betrachteten ihn neugierig. Das Licht wurde gedämpft. Antonio spürte einen Anflug von Lampenfieber, als er ans Mikrophon trat, doch es verschwand, sobald er zu singen begann.
»You and the night and the music -«
Die Gesichter seiner Zuhörer veränderten sich, eine Augenbraue wanderte in die Höhe, ein zögerliches Lächeln erschien. Jeanie, die vorn stand, grinste. Antonio öffnete die Kehle und ließ seine Stimme hervorströmen. Dazu bin ich gemacht, dachte er, dafür wurde ich geboren.
Maurice Goodyear hob die Hand. »Das reicht, meine Herren. Jetzt noch einmal These Foolish Things, dann können sie die Horden hereinlassen.«
Der Saal füllte sich, sowie die Türen aufgingen. Bald war alles in Rauch gehüllt. Stimmengewirr, ständiges Füßescharren. Antonio schaute zu, wie sich die professionellen Tänzer zwischen den anderen bewegten, ihre Gesichter buntgesprenkelt vom Licht der Spiegelkugel. Jeanie tanzte mit einem schlaksigen jungen Mann, dessen Hals an eine Giraffe erinnerte. Neben ihr bewegte sich ein hochgewachsenes Mädchen in Silberlamé im Tangorhythmus, die Augen starr, einen nackten Arm ausgestreckt. Ihr Gesicht hatte etwas Außergewöhnliches, das Antonio nicht beschreiben konnte.
»The moon got in my eyes -« Er übertrieb seinen Akzent, um exotischer zu klingen. Ein billiger Trick, aber so blieb er dem Publikum im Gedächtnis.
»Du machst das gut, mein Freund«, murmelte Maurice Goodyear und schniefte erneut. »Geh mal deine Stimme ölen. In zehn Minuten bist du wieder da.«
Neben der Bühne stand eine Kiste mit Bier. Antonio brauchte frische Luft nach dem dichten Nebel im Saal und ging durch den Vorhang zum Hintereingang. Er gelangte auf einem kleinen Hof, der von einer einzelnen Lampe beleuchtet wurde. Die Nacht roch nach Regen auf staubigem Pflaster.
Antonio setzte die Flasche an den Mund. Er wollte gerade trinken, als er ein Wimmern hörte. Ein Mädchen kauerte an der Mauer, eine Hand fest auf den Bauch gedrückt, die andere an den Lippen. Es war die Tangotänzerin im silbernen Kleid.
»Was ist los? Ist Ihnen schlecht?«
Die Tangotänzerin antwortete nicht, sondern presste weiter die Finger vor den Mund. Antonio berührte ihre Schulter. Ihre Haut fühlte sich kalt und feucht an unter dem metallischen Stoff ihres Kleides. Er hockte sich neben sie und reichte ihr die Bierflasche. Sie hob sie an den Mund und trank. Ihr Gesicht war ganz blass.
»Vielen Dank.« Sie gab ihm die Flasche mit einem schiefen Lächeln zurück. Antonio trank ebenfalls einen Schluck. Das lauwarme Bier kribbelte in seiner trockenen Kehle.
»Olivia?« Jeanie warf einen Blick in den Hof. »Der Chef fragt nach dir. Sie spielen den nächsten Tango, und er will wissen, warum du nicht auf der Tanzfläche bist.«
Das Mädchen in Silber richtete sich auf, doch ihr Körper zuckte in einem plötzlichen Schmerz zusammen, und sie keuchte laut. Antonio ergriff ihre Hand, die kalt war wie die einer Meerjungfrau. Aus dem Tanzsaal erklang ein Tango, Dark Eyes, das alte russische Lied von Liebe und Zerstörung.
»Sie sollte nicht arbeiten. Es geht ihr nicht gut.«
Jeanie kniff die Augen zusammen, als sie ihn in der Dunkelheit bemerkte. »Ach, das wird schon. Selbst schuld. Der älteste Fehler überhaupt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Immerhin kennen die Mädchen hier immer jemanden, der ihnen aus der Klemme hilft.«
Antonio brauchte einen Augenblick, bis er verstanden hatte, was sie meinte. Er ließ Olivias Hand fallen, als hätte er sich an ihr verbrannt.
»Mein Gott«, entfuhr es ihm. Olivia hob trotzig das Kinn. Er konnte ihre hohen Wangenknochen und den breiten, scharlachroten Mund sehen.
»Ja, es stimmt. Ich hatte eine Abtreibung. Und jetzt? Rufen Sie die Polizei?«
Antonio starrte sie an. »Natürlich nicht.«
»Sehen Sie mich nicht so an. Für wen zum Teufel halten Sie sich?« Ihre blitzenden Augen forderten ihn heraus, als wollte sie sehen, ob er Mitleid mit ihr hätte. Wieder dachte Antonio, wie außergewöhnlich ihr Gesicht war. Es kommt daher, dass sie so unscheinbar ist, dachte er. Und dann, nein, sie ist nicht unscheinbar, sie ist schön. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schuss.
Olivia zupfte ihren silbernen Rock zurecht und stolzierte in Richtung Tanzsaal, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Die wären wir los«, verkündete Jeanie fröhlich. »Als Nächstes kommt ein Foxtrott, dann bekommst du den Tanz, den ich dir versprochen habe.« Sie trat näher und neigte ihr Gesicht einladend nach oben. Er konnte ihr Veilchenparfüm riechen. »Aber ich schätze, ich habe meine Chance verpasst. Ich nehme an, du hast schon einen Schatz?«
»Mehr noch, ich bin verheiratet«, sagte Antonio. »Meine Frau erwartet unser erstes Kind.«
»Guter Gott. Da bin ich aber ganz schön ins Fettnäpfchen getreten, was?«
Antonio antwortete nicht, sondern ging durch den Korridor und nahm wieder seinen Platz auf der Bühne ein. Von Olivia war nichts zu sehen. Den Rest der Nacht suchte er in der Menge nach ihr und versuchte, ihr blasses Gesicht auszumachen, doch anscheinend war sie verschwunden.
Es nieselte, als der Paradise Ballroom schloss, der Gehweg war vom Regen schmierig. Antonio zog den Filzhut in die Stirn und machte sich auf den Weg nach Soho. Er ging gerne zu Fuß nach Hause, selbst bei schlechtem Wetter. So konnte er ein wenig durchatmen zwischen den beiden Welten, in denen er lebte, zwischen dem schäbigen Glanz der Tanzhallen und der engen, lauten, vertrauten Frith Street, in der die Trombettas wohnten. Antonios Vater Enrico betrieb einen Kiosk am Leicester Square, in dem er Süßigkeiten und Zigaretten verkaufte. Tagsüber half Antonio dort aus, dann erschien ihm sein anderes Leben als Sänger so irreal wie eine Fata Morgana.
In Soho hatte Ricci's Café noch geöffnet. Antonio hörte das Auf und Ab der Stimmen, untermalt von den Klängen einer Mandoline. Er dachte an das pergamentene Gesicht von Maurice Goodyear, an Jeanies Veilchenduft und wie er einen hohen Ton bei Night and Day vermasselt hatte. Er versuchte, nicht an die Tangotänzerin zu denken und was sie ihrem Körper Schreckliches angetan hatte.
Er schloss behutsam die Tür auf. Seine Frau Danila hatte einen leichten Schlaf. Er streifte die Schuhe ab und wollte sich ein Glas Wasser aus der Küche holen, wo zu seinem Erstaunen Licht brannte. Seine Schwester Filomena saß am Tisch, eingewickelt in einen hellbraunen karierten Morgenmantel, der dicke Zopf fiel ihr über den Rücken. Sie betrachtete stirnrunzelnd ein Blatt Papier, das sie in der Hand hielt. Sowie sie...
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