Schweitzer Fachinformationen
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Da waren wir nun erneut in unserer »Mahalle«. Obwohl dieses Wort im Deutschen wahrscheinlich am besten mit »Stadtteil« zu übersetzen wäre, ist es doch weit mehr als ein solcher. Eine Mahalle umfasst nicht nur Wohnblöcke, Straßen und Nachbarn. Sie ist vielleicht besser zu beschreiben als das ganze pulsierende, manchmal fast übersprudelnde Leben innerhalb eines Wohngebiets mit seinen jungen und alten Menschen, kleinen Geschäften, am Wegrand sitzenden Nachbarn, Feiern auf den Höfen und den Straßen. Hier hört man Kinder lachen, Frauen keifen, Männer diskutieren, Nachbarn von Balkon zu Balkon rufen. Hier geschieht Leben. Und in eine solche Mahalle waren wir damals aufgenommen worden und bald von vielen gekannt.
Es gibt einem Menschen eine große Sicherheit, in einem fremden Land nicht nur angekommen, sondern aufgenommen zu sein - einfach dazuzugehören. Diese Zugehörigkeit führt zu, wie wir erfahren haben, Rechten wie Pflichten, ist aber für mich ein unverzichtbarer Bestandteil wirklicher Integration. In einer Zeit, in der in Deutschland und anderen Staaten der europäischen Gemeinschaft zum Teil heftig das Thema Integration diskutiert wird, ist es für mich keine Frage, dass eine solche Zugehörigkeit zur »Mahalle« einen unschätzbaren Wert hat. Und hier sind unbedingt beide Seiten gefragt. Nicht nur aus diesem Grunde sehe ich es als eine sehr schlechte Entwicklung in manchen deutschen Großstädten, dass deutsche Bürger und solche mit Migrationshintergrund, speziell einem türkischen, nicht etwa Seite an Seite, sondern in verschiedenen Wohngegenden getrennt voneinander leben. Solche Entwicklungen werden den zahlreichen Integrationsbemühungen der Bundesregierung sicherlich nicht zuträglich sein, sondern ein starkes Hindernis auf diesem Weg.
Unsere Mahalle bestand aus etlichen Wohnblöcken mit insgesamt 112 Häusern, die innerhalb einer sogenannten »Kooperative« gebaut worden waren. Eine Kooperative ist ein in der Türkei sehr häufig vorkommender Zusammenschluss verschiedener Einwohner einer Stadt. Man tut sich zu einer größeren Gemeinschaft zusammen, um mit vereinten Kräften und Überlegungen daran zu arbeiten, Besitzer einer eigenen Wohnung werden zu können. Die für einen Einheimischen oft hohen Kosten des Wohnungsbaus werden auf diese Weise verringert. Man finanziert gemeinsam einen Architekten, den Bauträger und die Materialien, sodass die Kosten auf mehrere Schultern umgelegt werden können. Da die zukünftigen Wohnungsbesitzer aber meist nur einen gewissen monatlichen Beitrag zahlen können und kaum Rücklagen haben, kann sich das Vorhaben oft sehr in die Länge ziehen. Das ist einer der Gründe, warum man in der Türkei viele noch unvollendete Bauvorhaben an den Straßen und in den Städten sieht. Die Zahlung der monatlich fälligen Beiträge kann schon mal ein Problem darstellen und Anlass zu Meinungsverschiedenheiten geben. Auch in unserer Mahalle hat es nach Aussagen unserer Nachbarn etliche Jahre gedauert, bis die einzelnen Bauten annähernd bezugsfertig waren. Sogar danach ist das Zusammenleben manchmal nicht unproblematisch, wie wir hier und da feststellen mussten.
Gibt es Unstimmigkeiten unter den Nachbarn, so trägt man den Fall zum Ortsvorsteher (»Muhtar«) oder auch bis zum Bürgermeister der Stadt. Dieser ist in Mugla schon ungewöhnlich lange im Amt, ein ehemaliger recht bekannter Arzt. Osman Gürün konnte den negativen Finanzetat in schwarze Zahlen bringen und verstand es auch sonst, Projekte zu einem guten Ergebnis zu führen. Regelmäßig wurde er in den vergangenen Jahren mit Preisen ausgezeichnet und wurde zum besten Bürgermeister der ganzen Provinz gewählt. Mit den Jahren verband uns eine wachsende Freundschaft mit ihm und seiner Frau. Einmal hatte ich eine sogar für türkische Verhältnisse recht ungewöhnliche Begegnung mit ihm .
Eines Tages wollte ich in den Keller gehen, um die Luftpumpe für unsere Fahrräder zu holen. Da erwartete mich gleich am Eingang eine »Überraschung«: ein übler Geruch. Die provisorische Dichtung eines Abflussrohres hatte sich gelöst und Teile des abfließenden Wassers hatten sich in den Keller ergossen. Und nicht nur das: Die unter dem Abfluss lagernden Elektrogeräte waren von dieser ausgetretenen Brühe zum Teil überflutet worden.
Mein eigentliches Ansinnen hatte ich natürlich sofort vergessen, stattdessen begutachtete ich den Schaden. Meine Frau, die derweil im Haus tätig war und Ordnung schaffte, bemerkte nach einer Zeit meine Abwesenheit und fand mich im Keller inmitten der ganzen Schweinerei. Gemeinsam suchten wir nach der besten Lösung. Zunächst wollte ich den Schaden selbst reparieren, doch ich entschied mich letztlich, dem Rat meiner Frau zu folgen und einen Klempner zu rufen.
Während ich unten blieb, ging meine Frau nach oben, um zu telefonieren. Ich rief ihr zu: »Du kannst ihn vom Handy aus anrufen, er heißt Osman und sollte gespeichert sein.«
Meine Frau wählte und ich hörte, wie sie auf Türkisch ins Handy sagte, dass Hans-Jürgen und Renate dran seien. »Du kennst uns ja. Ich gebe das Gespräch jetzt an meinen Mann weiter.«
Da ich noch weiter im Keller mit der Mischung aus übel riechendem, abgestandenem Wasser und darin herumschwimmenden, aufgelösten Kartonteilen beschäftigt war, konnte ich das mir von meiner Frau entgegengehaltene Handy nicht entgegennehmen. So stellte ich mich an ihre Seite und näherte mich mit meinem linken Ohr dem von ihr gehaltenen Gerät. Der Klempner Osman war mir bereits seit Jahren bekannt, wir hatten ihn früher sowohl im eigenen Haus wie auch in unseren Gästehäusern beschäftigt.
»Hallo Osman, na, wie geht's? Hier ist der deutsche Hans (so bin ich in der Türkei bei vielen bekannt). Wo steckst du, was machst du?«
Die Stimme am anderen Ende kam mir etwas merkwürdig vor, doch ich schrieb es der Entfernung zwischen dem hingehaltenen Handy und meiner weiter als normal entfernten Ohrmuschel zu. Mehr als die Stimme merkwürdig erschien mir aber die Antwort von Osman auf meinen Gruß.
»Ja, danke. Ich bin zurzeit bei Sitzungen in Ankara. Ich rufe Sie später zurück.«
Was machte unser Klempner in Ankara? Und mit welcher Art Sitzung sollte er beschäftigt sein? Nun doch etwas verunsichert, bedankte ich mich und beendete das Gespräch. Nach Betätigung der entsprechenden roten Taste auf dem Handy erschien auf dem Display noch einmal der Name des zuvor gewählten Teilnehmers: Osman Gürün, Bürgermeister unserer Stadt Mugla . Meine geliebte Frau war wohl davon ausgegangen, dass es nur einen Osman in der Telefonliste gab und hatte gleich diesen angerufen. Wäre ein Stuhl bereitgestanden, hätte ich mich ob dieses Fauxpas wohl erst einmal setzen müssen. Zwar hatte ich immer wieder gute Begegnungen mit unserem Bürgermeister gehabt, aber so vertraut wie eben waren wir nun doch nicht miteinander.
Still ging ich nochmals meinen Teil des gerade geführten Gesprächs durch. Nein, das war auch für türkische Verhältnisse ziemlich daneben. Nur gut, dass ich nach der so vertrauten Begrüßung nicht gleich weitergesprochen hatte. Nicht auszudenken . »Osman, komm schnell - mein Rohr ist geplatzt«, wäre nur eine der Varianten dessen, was ich gesagt haben könnte. Wie hätte der Bürgermeister eine solche Aussage wohl verstanden, zumal er ohnehin in der Vergangenheit manchmal wegen für manche Hausbesitzer der Stadt unverständliche Erdarbeiten in die Kritik geraten war? Das wäre wirklich peinlich gewesen.
Nachdem sich sowohl bei mir selbst wie auch meiner Frau die anfängliche Erregung gelegt hatte und wir sogar über das Missgeschick schmunzeln konnten, fragte ich mich im Laufe des Tages aber doch immer wieder, wie unser Bürgermeister wohl auf unseren Anruf reagieren würde.
Und - sein Anruf kam! Nicht weiter auf meine vertrauliche Plumpheit eingehend, erkundigte unser Bürgermeister sich nach unserem Ergehen und wollte uns zu einem Essen einladen! Wir einigten uns letztlich auf ein gemeinsames Frühstück auf seinem Landsitz am Stadtrand. Als der vereinbarte Tag gekommen war und wir zusammen mit ihm, seiner Frau und einigen weiteren Gästen am Tisch saßen, fragte ich ihn dann aber doch, ob er sich nicht über meinen Ton am Telefon gewundert habe. Mit kurzen Sätzen erzählte ich vom Hintergrund meines merkwürdigen Anrufs. Die Anekdote brach das Eis und war der Auftakt für ein wirklich gelungenes Frühstück auf dem Land.
Doch zurück zu unserem Wieder-Einzug in unser altes Umfeld: Unser Haus hatten wir ja in den Ferien häufiger selbst bewohnt und auch zeitweise vermietet, es stand uns aber jetzt wieder voll zur Verfügung. Bald waren die Kartons verräumt, das Haus geputzt und die ersten Gänge getan. Erste Begegnungen mit Nachbarn und etlichen alten Freunden prägten die folgende Zeit; auch gab es im Haus und auf unserer nahe gelegenen kleinen Farm einige Vorbereitungen für das Eintreffen des Kurzzeitteams zu erledigen. Die jungen Leute würden hier übernachten, während sie tagsüber praktische Einsätze oder auch Ausflüge machten.
Zwar durften wir mit der Gruppe auch unsere Tochter Hanna endlich wieder bei uns begrüßen, doch ihre Zeit mit uns war nur von kurzer Dauer: Mit dem Abschied der kleinen Gruppe, die sie nach Mugla geführt hatte, rückte auch der Zeitpunkt näher, an dem sie für ein Jahr nach Südamerika gehen würde. Sie wollte nach ihrer Matura (Abitur) mit der Organisation »Movida« nach Paraguay und Chile reisen, um bei der jeweiligen Arbeit vor Ort mitzuhelfen. Wir brachten sie gemeinsam zum Flughafen nach Ankara, verbanden dies aber noch mit einer letzten gemeinsamen Reise durch Kappadokien, die Zentraltürkei.
Mit schwerem Herzen fuhren wir wieder zurück nach...
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